Eine junge Frau steckt auf dem Flughafen in Hanoi fest, im Transitraum der Moderne, in dem die Regeln von Zeit und Raum ausgesetzt sind. An diesem Ort verbindet Thomas Köck die Geschichten aus drei Generationen über die Zeiten hinweg. Im Auftrag des Leipziger Schauspiels hat sich der Autor mit der Geschichte und den Geschichten der vietnamesischen Gastarbeiter in der ehemaligen DDR auseinandergesetzt. Viele von ihnen leben heute noch in Ostdeutschland und sind dort heute wie damals als Unsichtbare geduldet. Diese Geschichten scheinen sich immer wieder neu zu ereignen: "Weil wir vergessen, müssen wir immer alles wiederholen." In "atlas" behandelt Köck Themen, die immer wieder aktuell zu sein scheinen. Die Großmutter erinnert sich an ihre Flucht nach dem Vietnamkrieg. Wie sie mit Tausenden auf einer viel zu kleinen Insel eingepfercht war. Wie diese Massen auf Boote stiegen, die mit jedem weiteren Menschen mehr zum Untergang verurteilt waren. Sie erzählt von der Vergangenheit und es klingt doch nach der Gegenwart.
Änne Seidel: Die Bezüge zum aktuellen politischen Geschehen sind in dieser Inszenierung unübersehbar – und damit ist sie in guter Gesellschaft: Populismus, Kolonialismus, Klimawandel, Flucht, Migration und Vertreibung – die Programme der Theater lesen sich in diesen Tagen manchmal fast wie Presseschauen.
Im Theaterstück "atlas" erzählt die Großmutter von ihrer Flucht nach Deutschland in den 70er Jahren – und es klingt, als würde sie von heute erzählen. Nun heißt es eigentlich ja immer: Geschichte wiederholt sich nicht – die Geschichten von Flucht, Vertreibung und Migration aber offensichtlich schon?
Thomas Köck: Die Parallelen zur Gegenwart, die ich bei der Recherche zu diesem Thema gefunden habe, fand ich schon sehr bestechend. Es gab da ertrinkende Menschen rund um die Insel Pulau Bidong. Da kann man ja quasi direkt eine Leitung in die Gegenwart legen.
Verbindungen von Vergangenheit und Gegenwart aufzeigen
Seidel: Zum Mittelmeer und den Flüchtlingen, die dort jetzt ertrinken?
Köck: Genau. Das ist auch etwas, das mich grundsätzlich interessiert. In der Spätmoderne sagt man immer, dass die Geschichte erledigt ist und man in der besten aller möglichen Welten angekommen sei. Da finde ich es eigentlich immer recht heilsam, sich die Gegenwart noch mal kurz anzugucken. Zum einen, durch welche Brüche und durch welche Verschiebungen sie erzeugt wurde. Aber auch, welche Parallelen zur Vergangenheit nach wie vor bestehen.
Seidel: Das Oberthema unserer Gesprächsreihe an Ostern hier in "Kultur heute" ist die Gerechtigkeit. Inwiefern ist Geschichte auch eine Frage von Gerechtigkeit?
Köck: Geschichte ist an sich immer schon eine ganz zentrale politische Frage, weil es immer darauf ankommt, wer eigentlich die Geschichten erzählt. Der Klassiker mit den Geschichtsbüchern: Was steht drin? Was steht nicht drin? Wer kommt darin vor? Mit welcher Geschichte? Ab dem Moment, wo es um Geschichte geht, befindet man sich mittendrin in der Frage nach Gerechtigkeit und Politik. Das ist vielleicht auch ein bisschen etwas, das mich interessiert. Noch mehr als ein politisches Thema. Denn ich glaube, ein politisches Thema ergibt noch nicht automatisch politisches Theater.
Die Mächtigen bestimmen die Geschichtsschreibung
Seidel: Sondern, was muss passieren, damit aus einem politischen Thema politisches Theater werden kann?
Köck: Eine Anleitung gibt es da auch nicht. Ich glaube, man kann nur so Negativ-Folien machen. Politische Themen sind zum Beispiel nicht das, was mich in meiner Arbeit primär interessiert. Obwohl, die großen Schlagworte wie zum Beispiel "Klimawandel" und "Vertreibung" dann doch. Ich glaube, ein politisches Theater oder ein politisches Kunstwerk entsteht eher durch ästhetische Mittel, durch Unterbrechungen, durch groteske Überhöhungen, Verzerrungen. Vor allem können immer diese Unterbrechungen helfen. Dinge, von denen man denkt: "Aha, das ist sozusagen die Realität, oder das ist die Wirklichkeit." Wenn das unterbrochen wird, ebenso wie wenn die Geschichte plötzlich mal durchgeklopft wird - Wer spricht da eigentlich? Wer erzählt welche Geschichte? Und wer kommt darin überhaupt nicht vor? - dann hält die Geschichte kurz mal an. Dann muss man sich fragen: Wer erzählt hier seit 30 Jahren welche Geschichte? Wer kommt aber nicht vor? Zum Beispiel jetzt bei "atlas": Wer erzählt die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung? Und wer wird außen vorgelassen? Die vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen wurden außen vorgelassen.
Seidel: Wir kommen bestimmt gleich nochmal auf die Wiedervereinigung zu sprechen, aber vorher vielleicht noch die allgemeine Frage: Kann es denn so etwas wie eine gerechte Geschichtsschreibung überhaupt geben? Komplette Objektivität, die ist doch eigentlich gar nicht möglich. Denn, wie Sie gesagt haben: Es spielt immer eine Rolle, von wem und zu welcher Zeit die Geschichte geschrieben wird.
Köck: Ich denke, das ist das Problem der Geschichte, dass sie sich eigentlich nur in einem ständigen Befragen immer wieder befindet. Indem sie Auskunft über sich selbst geben muss, kommt man ihr immer wieder so ein bisschen auf die Schliche, ohne dass man jemals ein Gesamtbild darüber kriegt.
Seidel: Eine wichtige Quelle für die Geschichtsschreibung sind Zeitzeugen, also Menschen wie die in Ihrem Stück: Die Boatpeople oder die vietnamesischen Gastarbeiter in der ehemaligen DDR. Vertragsarbeiter, so der korrekte Begriff. Aber nun sind die Aussagen von Zeitzeugen natürlich immer Aussagen, die auf Erinnerungen basieren. Und sind die nicht manchmal auch trügerisch?
Köck: Ja. Die Frage ist ein bisschen, wie man mit bestimmten Bildern arbeiten kann. Erinnerungen sind insofern reichhaltiger, finde ich, weil sie oft Details und Banalitäten zutage fördern, die eine ganz andere Welt entstehen lassen. Und auch dem, was man als objektive Geschichtsschreibung bezeichnet, oft einen Strich durch die Rechnung machen. So dass man feststellt: Na ja, ganz so einfach, wie ich dieses Geschichtsbild gerne hätte, war es dann auch nicht.
Seidel: Was können das für Banalitäten sein? Haben Sie da mal ein konkretes Beispiel?
Köck: Da geht es von Fotos, die an der Wand hängen, über den Geruch von irgendwelchen Lebensmittelresten oder von Pfannen oder von Fett oder Stiegenhäusern. Es fängt nicht umsonst bei Proust mit der Recherche irgendwie alles mit diesem Tee an.
Seidel:... Mit der "Suche nach der verlorenen Zeit"?
Köck: Genau.
Gerechtigkeit als zentrale Frage des Stücks
Seidel: Sie haben die deutsche Wiedervereinigung angesprochen, die ganz zentral ist in Ihrem Stück "atlas". Haben Sie den Eindruck, dass die heutige Erzählung dieses historischen Ereignisses eine ungerechte Erzählung ist?
Köck: Es kommt halt immer darauf an, mit welchem Blick man welche Geschichte erzählen möchte. Natürlich ist die Wiedervereinigungsgeschichte irgendwie gekoppelt worden mit dem Sieg des Kapitalismus als System. Was mich an der Wiedervereinigung interessiert, war, wie man daran merkt, dass ein bestimmtes Narrativ, ein ökonomisches Narrativ, sich jetzt einfach siegreich ausbreiten darf. Und auch unwidersprochen eigentlich bleibt.
Seidel: Heute heißt es oft, dass der Fremdenhass gerade in Ostdeutschland besonders stark ausgeprägt sei und das eventuell auch eine Folge der DDR-Diktatur sein könnte. Haben Sie in Ihren Recherchen zu Ihrem Stück auf diese Frage eine Antwort gefunden? Haben Sie sich mit ihr beschäftigt?
Köck: Ja. Was mir immer wieder bei den Recherchen unterkam, war, dass es diesen Fremdenhass eigentlich auch schon vor der Wiedervereinigung gab. Der existierte aber völlig unter der Haube, weil man schließlich "Brüderstaaten" war. Da gab es auch nichts zu melden. Aber Menschen ertrinken im Mittelmeer nicht, weil sie Fremdenhass in Ostdeutschland erleben. Die Frage, warum man Flüchtlinge in Europa nicht ordentlich verteilt, das ist ja auch eine Form von Fremdenhass, die in Europa quer durch alle Länder stattfindet. In meinen Augen ist das ein großes europäisches Problem, und ich hab auch ein bisschen Bedenken davor, wenn man das so abstreifen möchte, woanders hin. Das Problem existiert auf jeden Fall europaweit.
Seidel: Sie haben es gesagt, Sie haben sich in früheren Stücken auch mit dem Klimawandel beschäftigt. Die "Fridays for Future-Demos" zeigen ja gerade, dass auch das ein Thema ist, bei dem es vor allem um Gerechtigkeit geht, in diesem Fall um Generationengerechtigkeit. Haben Sie diesen Aspekt in Ihren Stücken damals auch thematisiert?
Köck: Es gab direkt nach der Klima-Trilogie einen Abend, der heißt "Die Zukunft reicht uns nicht - Klagt, Kinder, klagt", wo wir einen Chor von 14 Jugendlichen im Schauspielhaus in Wien über die Bühne toben ließen. Ich finde das eigentlich ganz schön, dass jetzt die "Fridays for Future" unterwegs sind. Eigentlich war es so ein bisschen die zentrale Frage, die wir in dem Stück hatten. Dass die Generation von heute ein Erbe hinterlässt für die junge Generation, das eine bodenlose Frechheit ist.
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