Wie gewaltsam ist der Islam? Diese Frage treibt spätestens seit dem 11. September 2001 viele um. Radikale Islamisten, die im Namen Allahs Krieg führen, prägen das Bild der weltweit zweitgrößten Glaubensgemeinschaft. Darunter leide die Mehrheit der insgesamt rund eineinhalb Milliarden Anhänger, sagt der Erlanger Islam- und Rechtswissenschaftler Mathias Rohe:
"Man kann keinesfalls sagen, dass der Islam gewalttätiger wäre als andere Religionen. Ich halte gar nichts davon, religiöse Schriften daraufhin zu untersuchen, wie oft das Wort Krieg oder Frieden oder dergleichen auftaucht, sondern man muss gucken, wie das Ganze interpretiert ist."
Den Koran interpretieren – oder als Wort Gottes akzeptieren
Der Islam entstand im frühen 7. Jahrhundert in Mekka und breitete sich bald nach Medina aus. Muslime übernahmen die Herrschaft in weiten Landstrichen des Nahen Ostens. Dazu passt manches aggressive Schriftwort. So fordert die neunte Sure im Koran auf: "Tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet." Sätze wie diese lassen sich im historischen Kontext besser nachvollziehen.
"In dieser Zeit nach der Auswanderung nach Medina hat man kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen auf der arabischen Halbinsel, auch mit anderen Religionen. Und so kommen dann da Offenbarungen, die eher konfrontativ sind. Und dann muss man eben als muslimischer Theologe damit umgehen, wie kann man diese in sich widersprüchlichen Aussagen im Koran – zunächst sehr freundliche Aussagen gegenüber anderen Religionen, und dann auf einmal soll man sie unterwerfen – wie kann man das unter einen Hut bekommen. Es kommt auf die Interpretation an."
Genau das aber – die Interpretation – lehnen schrifttreue Muslime ab. Sie berufen sich darauf, der Koran sei das von Gott selbst gegenüber dem Propheten Mohammed geoffenbarte Wort. Islamwissenschaftler Rohe widerspricht: Man müsse den Koran interpretieren.
"Wer heute hingeht und sagt: Es ist doch alles klar, wir können das im Koran nachlesen, wie manche ziemlich einfach gestrickten Salafisten, der übersieht schon die reiche muslimische Literatur zu den – und das heißt dann so – schwierigen Stellen. Bei allen Aussagen muss man sich überlegen: Gilt das für alle Menschen oder nur für bestimmte? Gilt das zu allen oder nur zu bestimmten Zeiten? Gilt das überall oder nur an manchen Orten? Und diese Fragen haben sich muslimische Gelehrte schon seit der Frühzeit auch selbst gestellt."
Heißt Dschihad wirklich "Heiliger Krieg"?
Umstritten ist in diesem Kontext der Begriff Dschihad, oft übersetzt als "Heiliger Krieg". Dem Wortsinn nach bedeutet Dschihad "Anstrengung", "sich abmühen auf Gottes Weg". Auch hier hat sich die islamische Rechtslehre im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Frühe Interpretationen stammen aus einer Zeit, in der sich Muslime und Christen bekämpften, vor allem im europäischen Raum.
"Da hat man tatsächlich eine solche These entwickelt, dass Dschihad auch Krieg gegen diese christlichen Reiche heißt. Aber das ist keineswegs zwangsläufig. Das können wir deutlich erkennen, weil wir seit dem 18./19. Jahrhundert eine grundlegend andere Haltung haben. Seither wird eigentlich von fast allen, bis auf einige Extremisten, Dschihad interpretiert erstens als Verteidigung gegen Angriffe von außen, also keine Angriffskriege. Und zweitens der sogenannte große Dschihad, der Kampf gegen das Schlechte im Menschen selbst."
Aber: Trotz aller historisch-kritischen Exegese vertreten Religionen auch einen Wahrheitsanspruch. Eine schwierige Voraussetzung für das Verhältnis von Politik und Religion. Denn damit stünden die Glaubensgemeinschaften im Widerspruch zur Logik der Demokratie, erklärt Karsten Fischer, Politikwissenschaftler an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität:
"Wenn wir wüssten, was wahr ist, dann bräuchten wir keine Demokratie. Dann wären wir sogar verrückt, wenn wir demokratisch entscheiden ließen. Wenn wir wüssten, was der richtige Weg ist, dürften wir nicht dem Volk überlassen, womöglich den falschen Weg zu wählen."
Auch der Islam kannte die Trennung von Politik und Religion
Kriege im Namen der Religion sollen vermieden werden. Deshalb geben die meisten Verfassungen der Demokratie den Vorrang vor der Theologie. Gleichzeitig garantieren sie das Grundrecht des Einzelnen auf Religionsfreiheit. Diese Prinzipien gelten allerdings nicht überall. In mehreren Staaten mit muslimischer Mehrheit werden religiöse Minderheiten benachteiligt, so in Pakistan, Saudi-Arabien und dem Iran. Ist der Islam also eine antidemokratische Religion?
"Auch der Islam ist nicht prinzipiell demokratiekompatibel oder demokratiefeindlich. Sogar die schiitische Tradition des Islam kannte ursprünglich eine Trennung von Politik und Religion. Es war sogar konstitutiv für den schiitischen Zweig des Islam, und erst Ajatollah Khomeini hat diese Tradition beendet. Religionen sind nicht per se demokratiefreundlich oder demokratiefeindlich. Es kommt immer auf das politische Handeln an."
Eine verbreitete Meinung lautet: Religionen, auch der Islam, seien prinzipiell friedfertig. Sie würden lediglich für politische Interessen instrumentalisiert. Ganz so einfach ist es nicht, meint Politologe Fischer. Zwar seien reine Religionskonflikte äußerst selten, aber:
"Die meisten Fälle werden wohl richtig dann verstanden, wenn man davon ausgeht, dass es ein grundsätzliches religiöses Konfliktpotenzial gibt. Etwa verschiedene Bevölkerungsgruppen, die unterschiedlichen Religionen angehören. Und solche Konfliktpotenziale dann in einer konkreten Situation entweder politisch aufgeladen, instrumentalisiert, angeheizt werden oder aber durch sozioökonomische Konfliktlagen aufbrechen."
Wissenschaftler fragen also, wie reich oder arm die Menschen in den betreffenden Regionen sind, welches Bildungsniveau und welche Zukunftschancen sie haben. Vor diesem Hintergrund ließen sich Konflikte besser verstehen, die im Namen des Islam geführt werden, sagt Religionsphilosoph Micha Brumlik:
"Es ist richtig, dass Gesellschaften, die islamisch geprägt sind, wenn man heute in die Zeitung schaut, gewaltsamer zu sein scheinen als die christlichen Gesellschaften. Liegt das an der Religion oder liegt das daran, dass es doch sehr häufig Gebiete sind, die in einer Art und Weise, etwa durch die koloniale Expansion Europas, an ihrer Entwicklung gehindert worden sind."
Manche Beobachter sehen den derzeitigen Islam im Vergleich zum Christentum in einer früheren Entwicklungsphase. Die - umstrittene - These besagt: Als jüngere Religion müsse sich der Islam mit manchen Fragen der Aufklärung erst noch auseinandersetzen.
"Etwa die Frage, ob man sich Gott tatsächlich als einen unmittelbar wirksamen Herrscher vorstellen darf. Etwa zu klären, was heißt der offenbarte göttliche Wille, wer ist berufen, ihn auszuführen. Etwa die Frage, ob es erlaubt ist zu bestreiten, dass es so etwas wie Gott gibt. Das scheinen islamische Gesellschaften noch vor sich zu haben, aber hier sollten wir in Europa keineswegs selbstgerecht sein. Das sind alles Diskussionen, die bei uns auch noch nicht so furchtbar lange zurückliegen."
Zudem gingen in den verschiedenen Strömungen des Islam die Entwicklungen deutlich auseinander, betont Mathias Rohe von der Universität Erlangen. Überlegungen zur Freiheit des Menschen, zu seinem Verhältnis gegenüber religiösen Autoritäten gebe es sehr wohl:
"Teilweise schon in der Frühzeit im 9. Jahrhundert hat man sich tiefschürfende Gedanken gemacht über die Frage, wie Vernunft und Glaube zusammen hängen. Ist letztlich die Vernunft das Entscheidende, sodass Glaubenssätze hier gar nicht widersprechen können? Oder muss man Manches einfach hinnehmen, auch wenn man es nicht verstandesmäßig ergründen kann? Diese Debatten wurden geführt und sie werden in der Gegenwart wieder heftig geführt."
Bleibt die Frage nach dem Friedenspotenzial im Islam. Entsprechende Initiativen von Muslimen gingen in der Öffentlichkeit eher unter, sagt Rechtswissenschaftler Rohe. So auch die Stellungnahme islamischer Gelehrter nach der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. im Jahr 2006: In ihrem offenen Brief betonten die 38 Unterzeichner, der Islam sei prinzipiell friedfertig.
"Das Problem ist eben, dass der Islam eine schlechte Presse hat, und das verselbständigt sich immer und immer weiter. Wir dürfen die Menschen hier nicht verantwortlich machen für zum Teil schlimme Dinge in anderen Teilen der Welt, für die sie nichts können. Die sie selbst immer wieder kritisieren. Wir sollten Menschen, auch religiöse Menschen immer nur an dem messen, was sie selbst sagen und tun und nicht an dem, was wir uns als Bild von ihnen machen."