"Frauen gelten allgemein als sehr ruhig; doch Frauen fühlen nicht anders, als Männer es tun (...) sie leiden unter allzu unbarmherzigen Beschränkungen (...) und an unfruchtbarem Stillstand nicht weniger als jene; und es ist engstirnig, wenn ihre privilegierteren Mitgeschöpfe behaupten, sie sollten sich darauf beschränken, Pasteten zu backen und Strümpfe zu stricken, Klavier zu spielen und Taschen zu besticken."
Nein, dieses Zitat stammt nicht von einer modernen MeToo-Feministin. Sondern von der britischen Autorin Charlotte Brontë aus ihrem berühmtesten Werk "Jane Eyre". "Ach", denken Sie vielleicht jetzt, "bloß nicht einer dieser Staubfänger aus dem 19. Jahrhundert, die in vielen Wohnzimmerregalen nur zur Zierde stehen". Tatsächlich könnte der Satz "sie leiden unter allzu unbarmherzigen Beschränkungen und an unfruchtbarem Stillstand" kaum besser die Stimmung vieler Menschen im Lockdown beschreiben - egal ob Frau oder Mann.
Feminismus im 19. Jahrhundert
Für diejenigen, die das Buch noch nicht gelesen haben, hier der Plot in Kürze: Armes Waisenkind wächst bei kaltherzigen Verwandten auf, übersteht das weltschlechteste Internat, nimmt eine Stellung als Kindermädchen am gediegenen Landsitz Thornfield Hall an und verliebt sich in ihren Chef, Edward Rochester. Erst nach dem dramatischen Tod seiner Frau, dem Brand von Thornfield sowie einigen weiteren Rückschlägen finden beide zusammen.
Wer bei einer Liebesgeschichte an Sektgläser und Cupcakes denkt, wird dem Roman nicht gerecht: präsentiert als die "Autobiografie einer gewöhnlichen Gouvernante", widmet sich die Autorin Charlotte Brontë den Entbehrungen und Demütigungen eines Kindes, der sozialen Ungerechtigkeit der englischen Klassengesellschaft, der Religion und Bildung im 19. Jahrhundert. Und nicht zu vergessen der Diskriminierung und dem Feminismus. Nicht gerade Stoff, aus dem herzzerreißende Romanzen gestrickt sind.
Mit der Geschichte um die wahnsinnige Ehefrau Rochesters, die er auf dem Dachboden Thornfields versteckt hält, schuf Brontë aus einem Kindermädchen-Roman einen Pageturner.
"Die Nacht, ihre Stille, ihre Ruhe wurde durch einen wilden, lauten, gellenden Ton zerrissen, der durch das ganze Haus drang."
Lektüre für den Hunger nach Rebellion
Warum sollte man dieses Buch jetzt lesen? Weil in Zeiten der Zwangsapathie, in der wir zu viele Stunden auf dem heimischen Sofa verbringen, der Hunger und die Rebellion, mit der Brontë im Buch ihre Zeitgenossen schockiert hat, auch heute noch einem einen willkommenen Ruck versetzen kann. Weil in einer Zeit, in der das Leben ein einziger Stream geworden ist, die klare und direkte Sprache, mit der Rochester und Jane kommunizieren und die damals schon die Starre der damaligen Zeit durchbrach, eine Erinnerung daran ist, warum wir das brauchen: echte Dialoge zu führen und sich dabei in die Augen zu sehen.
Weitere Erinnerungen an Filme, Bücher und Platten, die wir brauchen, gibt´s in unserer Reihe Isolationsfutter - Pop-Tipps für die Quarantäne
Weil Brontë, wie sie es selbst sagte, eine Heldin zeigen wollte, die nicht wie bisher nur wegen ihrer Schönheit angesehen wurde, sondern mit einem eigenen moralischen Kompass ausgestattet lieber "glücklich als gediegen" sein wollte. Etwas, was wir vielleicht alle derzeit versuchen.
"Ihr Anspruch auf Überlegenheit hängt davon ab, welchen Nutzen Sie aus Ihrer Zeit und Ihrer Erfahrung gezogen haben" - ein Satz, den man sich, wenn vieles andere nicht hilft, zum inoffiziellen Motto dieser Tage machen kann.
Charlotte Brontë: "Jane Eyre"
dtv Verlagsgesellschaft München, 2014. 656 Seiten, 12,90 Euro.
dtv Verlagsgesellschaft München, 2014. 656 Seiten, 12,90 Euro.