Maja Ellmenreich: Kopf oder Bauch? Wer trifft die Entscheidung? Lassen wir uns vom vagen, aber manchmal doch so untrüglichen Bauchgefühl leiten? Oder nutzt der Kopf sein Vetorecht? Sammelt erst Wissen und Erfahrungen, wägt dann Für und Wider ab, bevor es heißt Ja oder Nein. Nachdem die "Gesellschaft für deutsche Sprache" vor wenigen Wochen "postfaktisch" zum Wort des Jahres 2016 gekürt hat, wollen wir zu Beginn des Jahres 2017 das Zusammenspiel von Gefühl und Verstand einmal näher beleuchten, und zwar gemeinsam mit ganz unterschiedlichen Gesprächspartnern. Heute mit einem Mann, der zur Ausübung seines Berufes weder auf den Kopf noch auf den Bauch verzichten könnte: Jürgen Dollase, Deutschlands einflussreichster Restaurantkritiker. Seine Texte erscheinen u.a. in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung” beziehungsweise. "Sonntagszeitung”, in diversen Büchern, und sein jüngstes trägt prompt den Titel "Kopf und Küche". Herr Dollase, wenn Sie zu dem Urteil kommen, dass ein Koch seine Sache gut gemacht hat, dass Ihnen – sagen wir – ein Wildschweinrücken mit Rosenkohl und Schupfnudeln gut geschmeckt hat, wer hat dann dieses Geschmacksurteil in erster Linie bestimmt: Ihr Kopf oder Ihr Bauch?
Jürgen Dollase: Was heißt schon Bauch? Das ist eine ganz merkwürdige Sache, dass diese Begrifflichkeit sich beim Essen breitgemacht hat. Als wenn der Bauch irgendwas zu sagen hätte, außer, dass er – sagen wir mal – sofort sich übergeben könnte, wenn etwas nicht ganz und gar nicht passt. Nein, es läuft ja alles über den Kopf, und ich glaube, auch das, was die Leute so gerne sagen, dass sie mit Bauch und Emotionen beim Kochen und nicht so viel denken. Also das ist nur eine Bezeichnung darüber, dass sie einen verkürzten Weg gehen von Kopf zum Essen, einen Automatismus einschlagen, der ausschließlich darauf beruht, das zu sich zu nehmen, was man am liebsten zu sich nimmt.
"Ein recht komplexes System"
Ellmenreich: Kopf oder Geschmacksnerven könnte man dann vielleicht so, oder Hirn oder Geschmacksnerven, könnte man der Sache so vielleicht ein bisschen näherkommen?
Dollase: Es ist ja ein recht komplexes System, mit dem wir uns dem Essen überhaupt nähern. Wenn Sie das mal auseinanderdröseln, was so passieren könnte: Das erste Nein könnte ja schon sein, wenn Sie lesen, wenn jetzt einer – sagen wir mal – marinierte Froschschenkel mit Schnepfenhirn oder was …, dann würde unser lieber Esser vielleicht sagen, der Kopf würde ihm sagen, das passt nun überhaupt nicht in mein Beuteschema, das lasse ich schon mal sowieso weg. Wie dem auch sei, er hat also was bestellt, was ihm textlich gefallen hat, was ihn angeregt hat, und dann kommt das und es sieht nicht gut aus. Irgendwas ist auf dem Teller schwabbelig und sowas. Es ist immer noch der Kopf beteiligt, der sagt, nee, das ist also so … so schwabbelige Sachen, habe ich schlechte Erfahrungen mit und so weiter und so fort.
Bis das Essen überhaupt erst einmal im Mund ist und man festgestellt hat, wie es schmeckt, muss eine ganze Reihe von Schritten überwunden werden, Tore durchschritten werden, um dort anzukommen, und wenn es sich um ein Essen handelt, was man noch nicht besonders gut kennt, wird das alles mit großer Sorgfalt gemacht und löst ganz komplexe Reaktionen aus. Die können in die Vergangenheit gehen, in die Zukunft, und die ganzen Erinnerungen rund um das, was da auf dem Teller liegt, werden abgerufen, und irgendwann, nach einem riesigen Prozess, kommt die Entscheidung, also jetzt nehme ich mir mal die Gabel und probier' das mal.
Ellmenreich: Also wenn ich Sie richtig verstehe, dann durchlaufen wir alle eine geschmackliche Sozialisation, die irgendwo im Kopf niedergeschrieben wird, aber nicht im Kopf, vielleicht nicht so sehr im Bewussten, dann doch eher im Unterbewussten, oder?
"Beim Essen sind wir alle Psychopathen"
Dollase: Wir müssen einmal das aufsplitten, was jetzt eigentlich so eine kulinarische Information uns so mitgibt. Wir haben verschiedene technisch klingende Informationen, wir haben die Textur, die Aromen, die Temperaturen. Das sind nicht physikalische Dinge, das sind Dinge, die wir mit unseren physikalischen und chemischen Sinnen wahrnehmen, aber zu dem Ding gehört auch, dass, was ich assoziativen Kontext nenne. Um das Wort Emotion zu vermeiden – assoziative Kontexte sind etwas klarer, sagt uns, was ist alles an Assoziationen rund um dieses Essen möglich, was haben wir da gespeichert. Das reicht von irgendwelchen emotionalen Verknüpfungen bis zu Sachen in die Kindheit, alles Mögliche, schlechten Erfahrungen.
Warum sagen manche Leute, Ziegenkäse mag ich nicht – das löst bei einem Experten ein großes Fragezeichen aus, was meint der Mensch mit Ziegenkäse. Es gibt Ziegenkäse, der schmeckt wie Quark und nach gar nichts, und es gibt Ziegenkäse, der zieht einem die Socken aus, weil er so scharf und nachhaltig, dass man ihn kaum runterkriegt. Also was meint er? Ich habe irgendwo mal … hat jemand ein Interview mit mir überschrieben mit einem Zitat von mir, das hieß: "Beim Essen sind wir alle Psychopathen", und ich persönlich kenne kaum einen normalen Menschen, der irgendwie alles isst und mit nichts große Probleme hat.
Ellmenreich: Kann ich denn daraus richtig folgern, dass jemand, der vielleicht kein Psychopath ist, ein geschmacklicher, kein kulinarischer Psychopath, der einen klaren Kopf besitzt, also auch seine geschmacklichen Vorlieben in einer gewissen Weise diktieren kann, also der Verstand regiert über den Geschmack, und man kann seinen eigenen, persönlichen, sozialisierten Geschmack umprogrammieren beziehungsweise umerziehen?
Die Möglichkeit nutzen, "Essen differenziert wahrzunehmen"
Dollase: Sie müssen auf eine andere Ebene kommen, auf eine zweite Ebene: die Ebene des Reflektierens, des Schmeckens. Ich trenne zwischen Essen – Essen ist dieser Automatismus, wir hauen uns das rein, und es gefällt uns oder nicht oder wie auch immer –; Schmecken ist der Reflex auf das. Da kommt etwas, und der Kopf beginnt, sich damit zu beschäftigen, was dort eigentlich alles ist. Indem er auf diese Metaebene geht, kann er sich eine Reihe von Werkzeugen zunutze machen, mit denen er sich dem Essen nähert, und ich bin ein großer Vertreter und Freund einer Praxis, die dieses reflektierte Essen für wirklich eine geradezu zukunftsträchtige Aktion hält, die uns persönlich und auch gesellschaftlich sehr, sehr weit bringen kann. Auf der anderen Seite halte ich dieses rein emotionale, automatische Essen für ein großes Problem, was uns die ganzen Probleme, die wir rund ums Essen entwickelt haben, auch letztlich eingebrockt hat.
Also, wenn auf er auf diese Metaebene kommt und diesen Reflex einschaltet, und er kann das, und er macht das gut, kommt er mit Sicherheit irgendwann auch einmal an den Punkt, es ist mir eigentlich scheißegal, ob das jetzt hier stinkt oder ob ich das noch nie gegessen habe oder wie auch immer, ich probiere es erst mal, und dann werden wir sehen, was ich dazu sage, und der ganz entwickelte Esser ist dann auch zum Beispiel geneigt, einmal einen experimentellen Teller in einem kreativen Restaurant zu essen, wobei er sich dann möglicherweise sicher ist, nein, das wird mir nicht gut schmecken im klassischen Sinne, aber es ist eine hochinteressante geschmackliche Erfahrung, die meine Sinne rund ums Essen in einer ganz außergewöhnlich dichten Art und Weise beschäftigt.
Ellmenreich: Aber Herr Dollase, ist das nicht ein auch in einer gewissen Weise hochgezüchtetes Schmecken, wie Sie es jetzt gerade beschreiben, was nicht mehr viel damit zu tun hat, dass wir etwas essen, um den Magen voll zu bekommen und um unseren Organismus am Laufen zu halten, also das Essen in seiner reinsten Form?
Dollase: Das ist nicht das Essen in seiner reinsten Form, das ist das Essen in seiner unreinsten Form, was Sie dort gerade beschrieben haben, ein reiner Automatismus, der sehr nahe – sagen wir mal – an die Verdauung gekoppelt ist, wo Essen und Verdauen eine gleichwertige Form bekommen. Es ist egal, ob alles schmeckt, auf alle Fälle es schmeckt irgendwie, es interessiert mich nicht und so weiter und so fort. Mit solchen Ansichten negieren wir natürlich alles, was mit dem Essen im Grunde genommen zu tun hat: Wir negieren unsere Sinne. Wir haben offensichtlich die Möglichkeit, Essen differenziert wahrzunehmen. Wir nutzen es aber nicht. Warum? Das ist ein absoluter Unsinn, das ist so, als wenn man sagt, ach, Schreiben, Rechnen, wofür brauche ich das, ist alles Unsinn. Es ist die Theorie des kulinarischen Analphabeten, der nicht lernen will, der nicht lesen will, und der aus dem Buchstaben keine Wörter und schon gar nicht Sätze bilden will.
Ellmenreich: Jetzt sind wir schon bei den Schulfächern. Sie haben, Jürgen Dollase, unter anderem Kunstpädagogik studiert, also auch bei den Studienfächern sind wir. Plädieren Sie also für ein Fach Geschmackspädagogik?
"Eine kulinarisch gebildete Zivilisation ist eine sehr gute Zivilisation"
Dollase: Ich weiß, es gibt natürlich … Die Spezialisten aller Fächer wollen unbedingt ihr Fach in den Mittelpunkt rücken, aber ich gebe zu bedenken, was alles zusammenkommt, wenn wir rund um das Essen mal sehen, was es an Wissen gibt und welchen Nutzen dieses Wissen haben kann, und wenn wir sehen, welche Bedeutung das Kulinarische tatsächlich in unserer Gesellschaft hat. Also nicht nur, das ist Geschmackssache, so im alten Sinne verstanden, das heißt, jedermanns Sache, jeder kann machen, was er will, sondern wenn wir sehen, dass unser Verhalten rund ums Essen ein soziales Verhalten ist mit Auswirkungen in allen möglichen Richtungen. Wer nur beim Discounter kauft und nach dem Billigsten sucht, macht ja nicht nur diese eine Aktion, sondern auf der anderen Seite ist er kein Kunde für die guten Sachen, und wenn wir keine Kunden für die guten Sachen haben, sterben die guten Sachen aus. Wer jetzt industrielle Geflügeltierproduktionen unterstützt, weil er nur das Billigste isst, ist mit dafür verantwortlich, dass diese Produktion entstehen. So.
Also, wenn man diese ganzen Sachen zusammennimmt, bekommt das Fach – nicht Essen oder Kochen, vielleicht eher Schmecken oder sowas –, bekommt eine ganz merkwürdige substantielle Bedeutung, weil jeder Mensch jeden Tag damit zu tun hat auf der einen Seite und wir auf der anderen Seite gesellschaftliche Implikationen haben, die ganz enorm sind und unsere ganze Zivilisation betreffen. Ich glaube, dass eine kulinarisch gebildete Zivilisation eine sehr, sehr gute Zivilisation ist. Nein, es profitiert das Essen eindeutig von guten Kenntnissen, und jeder Hobbykoch, den ich kenne, der mal zum ersten Mal erlebt, wie man mit einigen klaren Strukturen, die aus der professionellen Küche kommen, eine gute Sauce schafft, erlebt ein Glücksgefühl, das übertrifft vermutlich alles, was er als praktischer Esser bisher kennt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.