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Reihe: "Kopf oder Bauch"
"Bei uns spielen die Gefühle einfach eine ganz wichtige Rolle"

Das letzte Jahr sei ein sehr merkwürdiges gewesen, wenn man überlege, wie stark Stimmungen in politische Diskurse eingegangen seien, sagte der Philosoph und Kognitionswissenschaftler Achim Stephan im DLF. Auch Emotionen seien Urteile - Werturteile über Sachverhalte. Und die seien nicht ohne Gefahr.

Achim Stephan im Gespräch mit Anja Reinhardt |
    Der Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einer zeitgenössischen Darstellung. Er wurde am 22. April 1724 in Königsberg geboren und starb ebenda am 12. Februar 1804.
    Immanuel Kants Aufforderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen - für Philosoph Achim Stephan bedeutet dies nicht, Gefühle zu vergessen. (picture alliance / dpa / Foto: Diener)
    Anja Reinhardt: Feinsinnig ging es 2016 oft nicht zu. Ein Beispiel für stumpfen Hass lieferte ein Video von der Einheitsfeier am 3. Oktober, in dem die Grünenpolitikerin Claudia Roth von wütenden "Hau ab!"-Rufen und Beleidigungen begleitet wird. Donald Trump wurde trotz seiner Obszönitäten und Verleumdungen zum nächsten amerikanischen Präsidenten gewählt, auch von vielen Frauen, die seine Aufforderung zum handfesten Grabschen sicher nicht überhört hatten. Und die AfD-Vorsitzende Frauke Petry forderte den Gebrauch von Schusswaffen, sollten Flüchtlinge über die deutsche Grenze kommen wollen. Die Vernunft, so scheint es, hatte es 2016 nicht leicht. Gefühle, Emotionen, Stimmungen schwappten in jede Diskussion. In den kommenden zwei Wochen wollen wir in "Kultur heute" mit Philosophen, Literaturwissenschaftlern, Film- oder Theatermachern genau darüber sprechen, wie sie diese Gegenwart erleben und welche Schlüsse sie daraus ziehen. Es geht um die alte Frage nach Kopf oder Bauch. Zum Auftakt dieser Reihe habe ich vor der heutigen Sendung mit dem Philosophen und Kognitionswissenschaftler Achim Stephan gesprochen, der sich in seiner Forschung mit dem Gefühl als Erkenntniswerkzeug beschäftigt. Ich habe ihn gefragt, was er in seiner Forschung dazu herausgefunden hat, auf welcher Basis wir denn Entscheidungen treffen – Gefühl oder Verstand?
    Achim Stephan: Ja, das letzte Jahr war in der Tat ein sehr merkwürdiges, wenn man so überlegt, wie stark in politische Diskurse Stimmungen eingegangen sind. Normalerweise, also wenn das nicht so überhand genommen hätte, denke ich, ist es tatsächlich eine zentrale Instanz auch für unser Überlegen. In Stimmungen manifestiert sich ja auch so ein Gesamteindruck, den man hat, und insofern sind die auch zu berücksichtigen. Aber meine Idee wäre dabei natürlich, dass die Stimmungen mir Anlass zum Nachdenken geben und dass sie sozusagen eine Rückbindung wieder finden in Gedankliches. Ich habe den Eindruck, dass sich einiges, was sich jetzt im letzten Jahr gespielt hat, zumindest für einige in der Bevölkerung unter so einem Schleier stand und so wahrgenommen wurde. Und vielleicht hat man da zu lange auch gezögert, das wahrzunehmen als zunächst mal einfach Befund. Das heißt ja nicht, dass man diesen Stimmungen dann einfach folgen soll.
    Reinhardt: Da wären wir eigentlich bei so einer klassischen phänomenologischen Bestandsaufnahme, also das erst mal als Tatsache anzuerkennen, das ist eben so, und wie geht man dann weiter vor? Sie als Philosoph und Kognitionswissenschaftler, würden Sie auch sagen, dass die Gefühle oder Stimmungen auch Voraussetzung dafür sind, dass man vernünftige Entscheidungen trifft?
    Stephan: Würde ich auch sagen. Also weniger dann Stimmungen als wie es sich anfühlt, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Wenn ich eine wichtige Entscheidung zu treffen habe, muss ich zum einen abwägen – was spricht dafür, was spricht dagegen? Dann sollte ich aber auch noch gucken, wenn ich zu einem vorläufigen Ergebnis gekommen bin, also meinen Berufsort wechsle oder den Arbeitgeber, ob ich vielleicht ein Haus kaufe, eine größere Investition begehe oder auch mich an einen Partner für immer binden möchte, also diese Dinge. Und wie fühlt sich das an? Fühlt sich das richtig an oder nicht? Und wenn es sich nicht richtig anfühlt, dann habe ich womöglich was übersehen bei meinen Überlegungen. Dann sollte ich das zum Anlass nehmen, noch mal nachzudenken. Wo kommt denn dieses ungute Gefühl her?
    Reinhardt: Ja, und dann gibt es auch eben diesen Bruch mit der Welt. Dann hat man eben nicht mehr den Abgleich sozusagen mit der Welt.
    Stephan: Ja, dann hat man irgendwas übersehen.
    Reinhardt: Sie sagen, dass Gefühle – und das leuchtet natürlich sofort jedem ein – Gefühle Voraussetzung für soziales Leben sind, also eben auch für ein Miteinander, ganz klar. Jetzt ist es so, dass wir aber auch in einer Zeit leben, in der wir erleben, dass Gefühle durchaus auch ein Grund für Ausgrenzung sind – wenn man sich anschaut, was zum Beispiel in Dresden passiert. Wie würden Sie das erklären?
    Stephan: Zu erklären ist das nicht leicht. Was mich neulich nachdenklich gemacht hat, ist das Buch eines französischen Autors, "Rückkehr nach Reims".
    Reinhardt: Ach, Eribon.
    Stephan: Ja, genau. Sein eigenes Leben da reflektiert und noch extremer eigentlich herausarbeitet, wie in der Schicht, aus der er stammt, die eigentlich immer Kommunisten gewählt haben, aber doch latenter Rassismus vorhanden war die ganze Zeit. Der war nur nicht spürbar, der hat sich nicht in der Parteienlandschaft niedergeschlagen. In dem Moment, wo die Partei, die vielleicht früher die Menschen aufgefangen hat und die sich darin auch wiederfanden, sie, kann man sagen, jetzt enttäuscht hat, in der nicht mehr das fanden, haben die sich sehr schnell dann der Rechten zugewandt. Ob das jetzt auch für Deutschland die treffende Analyse ist, ich kann es nicht genau sagen. Aber das war etwas, was mir lange nachgeklungen hat, als ich sein Buch gelesen habe.
    Reinhardt: Wenn wir jetzt mal so ein bisschen mehr in die Theorie gehen und auch die Kategorie Gefühl oder Emotionen in der Philosophiegeschichte betrachten, dann spielt es eigentlich als sozusagen Entscheidungsgrundlage sehr lange Zeit keine Rolle. Also, korrigieren Sie mich, aber ich würde sagen, Rousseau war der erste, der das Gefühl vielleicht ein bisschen ernster genommen hat. Ab wann ist es sozusagen auch eine ernstzunehmende Kategorie in der Philosophie geworden?
    Ende der 1950er-Jahre: Der "Cognitive Turn" in der Philosophie
    Stephan: Sie war es eigentlich von Anfang an. Bei Aristoteles finden Sie schon sehr viel in der "Rhetorik" und auch in "De Anima", wo er sich mit Emotionen beschäftigt hat. Und auch in der Zwischenzeit Kollege Dominik Perle aus Berlin hat von der Scholastik so bis in die frühe Neuzeit Gefühle nachgezeichnet, und wie sie sich entwickelt haben. Da gibt es sehr viel Material. Ich selbst habe es erlebt, in meiner Ausbildungsphase, so als Studierender, da war der große "Cognitive Turn”. Ende der 50er-Jahre, als sich die Kognitionswissenschaft zu entwickeln anfing, da taten sich dann Linguisten, Philosophen, Künstliche-Intelligenz-Forscher, Psychologen, Kognitionspsychologen zusammen, haben ein neues Paradigma Stück für Stück entwickelt. Da kamen Gefühle zunächst mal gar nicht vor. Auch das, was wir damals in der Philosophie des Geistes verfolgt haben – es ging in erster Linie um Regelfolgen oder Schlussfolgern, um Wahrnehmung, kognitive Vorgänge im engeren Sinn. Möglicherweise hat dann die Entwicklung in der Neurowissenschaft stark dazu beigetragen, dass das Affektive wieder stärker in den Blick gerückt ist. Ich denke so an die Bücher von Damasio, die einen großen Einfluss hatten. Aber parallel dazu fing es dann auch in der Philosophie an, dass man sich wieder stärker mit Emotionen beschäftigte, obwohl für eine ganze Weile auch da noch eine kognitive Auffassung von Emotionen vorherrschend war, dass nämlich Emotionen eigentlich Urteile sind.
    Reinhardt: Unbewusste Urteile, oder …?
    Menschen sind nun mal Gefühlswesen und denkende Wesen
    Stephan: Na ja, das, was zentral ist für eine Emotion, letztlich ein Werturteil ist über einen Sachverhalt. Das ist gefährlich für mich. Das ist inzwischen wieder stark in den Hintergrund gerückt worden. Aber das war sozusagen die Landschaft, in der wir auch anfingen, uns dann stärker mit Emotionen zu beschäftigen.
    Reinhardt: Und Sie sagen ja auch ganz klar, Gefühle sind eigentlich Voraussetzung dafür, dass man vernünftige Entscheidungen trifft, dass man seinen Verstand überhaupt benutzen kann.
    Stephan: Möglicherweise könnte ein Lebewesen, das aufgestellt ist wie Mister Spock, auch zurechtkommen in der Welt ohne Gefühle. Aber das sind nicht wir. Menschen sind nun mal Gefühlswesen und denkende Wesen, und bei uns spielen die Gefühle einfach eine ganz wichtige Rolle. Und das ist mittlerweile auch in der künstlichen Intelligenz angekommen. Auch da wird es Entscheidungen geben, die zumindest Werturteile benötigen.
    Reinhardt: Ich finde es interessant, dass die Diskussion um künstliche Intelligenz, um Moral in Bezug auf künstliche Intelligenz und auch die Diskussion um Gefühle für mich irgendwie auch zeitgleich so ein bisschen mehr an Schwung gewonnen hat. Würden Sie das auch so sehen, und inwiefern ist das wichtig in Bezug auf künstliche Intelligenz?
    "Gefühle können ja ein sehr guter Ratgeber sein, jetzt anzufangen, selbst zu denken."
    Stephan: Immer dann, wenn künstliche Systeme selbst Entscheidungen treffen müssen und es nicht nur das Abarbeiten eines Algorithmus ist, dann braucht es ja noch zusätzliche Informationen. Stellen Sie sich jetzt vor, Sie haben einen Roboter auf den Mars geschickt, und der kommt in eine Situation, die nicht vorbereitet ist. Er muss agieren können. Da reicht es nicht aus, dann von hier vielleicht irgendeine Fernsteuerung – da ist möglicherweise die Situation schon wieder vorbei. Wo Sie es auch hätten – da geht es jetzt weniger um Gefühle, sondern um moralisch zumindest fundierbare Entscheidungen, auch wenn das künstliche System nicht selbst jetzt die moralischen Erwägungen anstellt, aber sie müssen zumindest vorbereitet sein. Nehmen wir an, Sie haben dann selbstfahrende Autos, die in Dilemmasituationen geraten und Entscheidungen treffen müssen. Auch dann möchten Sie ja nicht, dass das ein Zufallsgenerator macht, sondern dass irgendwie begründete Optionen ergriffen werden.
    Reinhardt: Jetzt ist es so, dass wir stolz sind sozusagen auf unsere aufklärerische Errungenschaft, und es ist ja immer noch gültig, also der Satz von Immanuel Kant "Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen." Andererseits haben wir jetzt eben das Problem mit künstlicher Intelligenz. Da kann man Algorithmen eingeben, da kann man sagen, das soll so und so sein, und eigentlich muss man der künstlichen Intelligenz, den Robotern, den Maschinen irgendwie auch Gefühle beibringen. Es ist etwa so, als ob man jetzt das ganze System umkehrt. Was können wir denn daraus lernen?
    Stephan: Ich glaube nicht, dass es eine Umkehrung des Systems ist, sondern die Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, heißt ja nicht, vergiss deine Gefühle.
    Reinhardt: Nein, eben nicht, genau.
    Stephan: Das wäre eine verkürzte Wahrnehmung des Ganzen. Das ist zunächst mal ein emanzipatorischer Akt, und der richtete sich natürlich auch gegen Obrigkeiten, die Menschen da sehr stark eingeschränkt hat, und gegenüber Ideologien. Die Aufgabe des Selbst-Denkens, die kann ja sogar beginnen dadurch, dass man merkt, hier entsteht ein Unbehagen. Und dann fange ich an nachzudenken. Insofern können die Gefühle ja ein sehr guter Ratgeber sein, jetzt anzufangen, selbst zu denken.
    Reinhardt: Weil Sie eben von Unbehagen gesprochen haben – ich würde das noch ein bisschen ausweiten auf Schock und Bestürzung. Wenn wir uns die Bilder anschauen, die wir in den letzten Wochen aus Aleppo gesehen haben. Inwiefern kann eben dieser Gefühlszustand, der natürlich in jedem von uns ausgelöst wird, wenn er diese Bilder sieht, inwiefern kann das eine Entscheidungsgrundlage für politische Entscheidungen auch sein.
    Stephan: Ja, sehen Sie, das ist etwas, was mich ziemlich betrübt. Im letzten Herbst waren es ja ähnliche Bilder, die unsere Regierung dazu bewogen haben, sehr offenherzig Leute zu empfangen, denen es sehr schlecht ging. Und ein politisch Agierender steht jetzt vor dem Problem, er muss nach wie vor Mehrheiten finden für seine Politik. Da habe ich es als Philosoph leichter. Ich kann sehr viel stärker jetzt sagen, ja, wie sieht das denn aus ethischer Sicht aus, was sollte ich tun aus moralischer Perspektive? Und dann kommt man zu sehr viel extremeren Forderungen. Dafür gäbe es aber momentan, habe ich den Eindruck, kaum Mehrheiten. Und wir sehen das ja jetzt, wie Stück für Stück Dinge verschärft werden, die so vor einem Jahr nicht waren, obwohl die Not in Syrien noch größer geworden ist.
    Reinhardt: Der Philosoph und Kognitionswissenschaftler Achim Stephan über das Verhältnis von Gefühl zum Verstand. Die Gespräche in unserer Reihe "Kopf oder Bauch" können Sie auch im Netz nachhören unter deutschlandfunk.de – wie die gesamte Sendung natürlich auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Die Vernunft hatte es im vergangenen Jahr 2016 nicht leicht. In diesem Lichte fragt "Kultur heute" in einer neuen Gesprächsreihe Kulturschaffende und -Wissenschaftler nach dem Verhältnis von Kopf und Bauch. Den Auftakt macht der Philosoph und Kognitionswissenschaftler Achim Stephan.