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Reihe: "Kopf oder Bauch?"
"Die Lager waren nie unsichtbar"

Natürlich wussten die Deutschen von den Konzentrationslagern des Nazi-Regimes, sagte der Historiker Nikolaus Wachsmann im Deutschlandfunk. Die Lager seien so offensichtlich gewesen, dass das Regime gar nicht umhin gekommen sei, als darüber zu sprechen. Und dabei sei natürlich gelogen worden. Das Wegsehen habe den Holocaust für das Regime einfacher gemacht.

Nikolaus Wachsmann im Gespräch mit Michael Köhler |
    Lager Auschwitz-Birkenau im Nebel
    Ehemaliges Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Blick auf einen Wachturm (picture alliance / zb / Fritz Schuhmann)
    Michael Köhler: Mit Fake News, gezielten Lügen, mit Hacker-Angriffen und Appellen an Affekte, mit Stimmungsmache, da kann man ja sehr leicht mühsame Routinen der vernünftigen Urteilsbildung unterlaufen. In unserer Serie über Kopf und Bauch wenden wir uns nun den Abgründen deutscher Geschichte zu. Das Reden vom sogenannten Postfaktischen heißt ja auch manchmal so viel wie etwas gar nicht wissen wollen oder der Anstrengung der Analyse zu entziehen. Lange Zeit wollte man nach dem Krieg auch eben davon nichts wissen. "Keine andere Institution verkörpert den NS-Terror umfassender als das KL." Das schreibt der deutsch-britische Historiker Nikolaus Wachsmann in seiner tausendseitigen "Geschichte der NS-Konzentrationslager". KL, so hießen sie nämlich in der NS-Bürokratie.
    - Wir sprechen mit dem Historiker in unserer Serie über das Postfaktische, über Kopf und Bauch und Geschichtslügen. Zählt schon, Nikolaus Wachsmann, zur Überlieferungslüge oder zur Entstellung, dass wir heute nur noch von KZs sprechen?
    Nikolaus Wachsmann: Das war ja unter anderem ein Grund, warum ich das Buch "KL" und nicht "KZ" genannt habe, um schon im Titel klar zu machen oder da bestimmte Vorstellungen zu brechen, dass man eben doch noch nicht alles über die Lager weiß. Das ist ja eins der Themen, wo viele Leute irgendwie denken, wir haben das in der Schule durchgenommen oder wir waren mal in einer Gedenkstätte. Und man kennt das eigentlich alles. Und was das Buch versucht ist, die Forschung der letzten 20, 30 Jahre zusammenzutragen, um zu sagen, es gibt hier doch noch sehr viel, was uns nicht bekannt war.
    Köhler: Am Anfang dieser KL - wir wollen die Konzentrationslager für die nächsten neun Minuten KL nennen - etwa in Dachau, da stand etwas noch verhältnismäßig "Harmloses". Das hieß Schutzhaft. Das ist so eine Art, ja was ist das, Euphemismus?
    Wachsmann: Das war ein absoluter Euphemismus. Wenn man sich die Reden der führenden Nazis der Zeit '33, '34 anschaut, dann wird Schutzhaft ja da suggeriert als einen Schutz der Häftlinge vor dem Volkszorn sozusagen. Das heißt, die Nazis legitimieren den Terror in den Lagern in dieser euphemistischen Form. Und das gilt auch für andere frühe Presseerzeugnisse und Propaganda über die Lager. Die Lager waren ja so offensichtlich und offen in Lager, in Folterkeller gezerrt worden, dass das Regime gar nicht umhin konnte, über die Lager auch zu reden in irgendeiner Form. Aber da wird von Anfang an natürlich fest gelogen. Das heißt, die Lager werden in der Nazi-Presse und auch im Rundfunk bezeichnet als Orte von Gerechtigkeit, von Ordnung, von Sauberkeit, von Arbeit, wo es manche der Insassen, so heißt es, besser haben als sie es je draußen im normalen Leben gehabt hatten. Und das sind Lügen, die die Lager von Anfang an begleiten und auf die die Lager in einem gewissen Maße auch aufgebaut sind.
    Köhler: Die KZs verkörperten wie keine andere Institution des Dritten Reiches den Geist des Nationalsozialismus. Den Satz finde ich auf den ersten 50 Seiten bei Ihnen sinngemäß ungefähr zweimal. Wofür stehen sie, für Geburt und Evolution von Gewaltherrschaft?
    Wachsmann: Die Lager sind wie Seismografen, muss man sagen. All die Obsessionen der Nazi-Führung lassen sich an den Lagern und der Veränderung der Lager ablesen. Die Lagerfunktion ändert sich immer wieder im Dritten Reich, so wie sich die Funktion der Diktatur des Dritten Reiches ändert. Das heißt, die Lager beginnen insgesamt als ein Instrument zur Niederschlagung der politischen Opposition.
    Köhler: Das ist Oranienburg am Anfang beispielsweise.
    "Lüge, die weit in die Nachkriegszeit überdauert"
    Wachsmann: Das ist Oranienburg, das sind hunderte von anderen, sogenannten frühen sogenannten Lagern, und da geht es hauptsächlich wirklich darum, möglichen Widerstand von vornherein niederzuschlagen. Dann findet sich Ende der 30er-Jahre, sind die größte Zahl der Insassen sogenannte soziale Außenseiter. Das sind Landstreicher, Bettler, Obdachlose, Prostituierte, viele andere, die in die Lager geschleppt werden in einem umfassenden Versuch der NS-Führung, Deutschland, die Straße in Deutschland "sauber" zu machen. Das heißt, das ist eine Funktionsänderung hier Ende der 30er-Jahre. Und übrigens auch eine der vielen Lügen über die Lager, die über die Nazi-Zeit hinaus bestehen. Dass es heißt, die Lager waren voller gefährlicher Individuen, voller gefährlicher Krimineller und so weiter. Das ist eine der Mythen, eine der Lügen, die weit in die Nachkriegszeit überdauert.
    Köhler: Ich greife das sehr gerne auf. Ich gebe zu, Kind der frühen 60er-Jahre zu sein und mit genau solchen Geschichtslügen groß geworden zu sein. Um nur die drei berühmtesten zu nennen. Sie lauteten: "Einmal muss Schluss sein", "Es war nicht alles schlecht" und "Davon haben wir nichts gewusst". Ist der Umgang mit dem Wissen über die Konzentrationslager selber auch ein Teil dieser Lügengeschichte?
    Wachsmann: Absolut! Es ist ja wirklich erstaunlich, dass noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges von den Alliierten besetzten Deutschen erheben sich schon die ersten Stimmen, die sagen, wir wussten von nichts. Wir wussten von den Konzentrationslagern nichts, wir wussten von den Verbrechen, die dort geschahen, nichts. Und das ist natürlich ein Reinwaschen von Schuld in dem Sinne, dass viele Deutsche natürlich wussten, dass es die Konzentrationslager gab und dass dort schreckliche Verbrechen begangen wurden. Nicht jeder Deutsche wusste en Detail im Dritten Reich, was genau passiert. Aber dass die Lager Stätten von Folter, von Mord, von Terror, von Hunger sind, das war vielen, vielen, vielen Deutschen sehr wohl bekannt. Ich habe schon erwähnt: Zum Anfang des sogenannten Dritten Reiches '33, '34 gibt es Lager überall in Deutschland. In Berlin alleine gibt es über 170 frühe Lager. An vielen Straßenecken gibt es diese Folterhöllen und Keller und da sehen Leute, die vorbei gehen, die dort wohnen, selbst, was passiert, oder sie hören es. Und dann gibt es im Zweiten Weltkrieg natürlich immer mehr Außenlager, die überall in Deutschland entstehen, wo ganz normale deutsche Zivilisten auch Gefangenenkolonnen sehen, bei der Arbeit sehen, sehen, wie sie geschlagen werden, sehen, wie Lastwagen voller Leichen abtransportiert werden. Und dann am Ende des Krieges die Todesmärsche, die sich überall durch Deutschland winden, wo Gefangene aus den Lagern auf den Straßen, auf Wegen, in Dörfern erschossen, erschlagen, ermordet werden. Das alles war für die deutsche Bevölkerung sehr wohl zu sehen. Und nach dem Krieg gibt es dann sehr schnell diese Generallüge, die heißt, wir wussten nichts.
    Köhler: Haben die Phasen der Aufarbeitung unserem Wissen genutzt oder es verzögert oder beschädigt oder geschadet? Anders gefragt: Muss die Aufklärung vielleicht auch den langen Weg, den Umweg über den Bauch nehmen, um auf den Titel unserer Serie "Kopf oder Bauch" anzuspielen?
    Wachsmann: Ob das eine Bauch- oder eine Kopffrage ist, bin ich mir in dem Fall nicht sicher. Für Historiker kann ich sehr wohl sagen, dass ich denke, dass es eine Frage ist, wenn wir diese Geschichte angehen, von sowohl Kopf als auch Bauch. Natürlich versuchen wir, wenn wir diese Geschichte schreiben, sie zu erklären, sie zu verstehen. Und das geht nun mal über die Ratio. Aber als Historiker muss man auch versuchen, sich in diese Geschichte einzufühlen, eine Empathie für die Opfer zu entwickeln. Und da kommt der Bauch dazu. Das ist auch eine Frage, wenn man sich überlegt, wie man so ein Buch schreibt, ist das auch eine Frage von Kopf und Bauch. Die Geschichte der Konzentrationslager zu schreiben, war ein größeres Unterfangen und natürlich war es eine Frage, wie man das strukturell angeht, wie man das rational sich überlegt, wie so eine Struktur aussehen kann. Aber Geschichte erzählen hat auch was Intuitives natürlich. Das heißt, auch da kommt Kopf und Bauch zusammen.
    Köhler: Ich will jetzt keinen falschen Bogen in die Gegenwart schlagen, aber doch eine Frage anknüpfen. War das Schweigen, das nicht wissen wollen, das Zusehen und auch das Denunzieren als vielleicht eine Vor-, Vor-, Vorform des Deportierens, war das Wegsehen schon mit Grund für den Holocaust?
    "Es hat den Holocaust einfacher gemacht"
    Wachsmann: Es hat den Holocaust sicher einfacher gemacht. Das ist überhaupt keine Frage. Oder für das Regime das einfacher gemacht. Es gibt oft das Beispiel des sogenannten Euthanasie-Programmes, der Euthanasie-Morde des Regimes, die 1939 anfangen, wo 70.000 oder mehr Deutsche, zum Teil Insassen von Heilanstalten, ermordet werden, bis es dann 1940/41 zu größeren oder immer wieder zumindest zu Kritikverhalten und dann auch offener und Protest kommt, die kulminiert in der berühmten Rede von Bischof Galen im Sommer 1941. Woraufhin das Regime dann zumindest offiziell das Euthanasie-Programm stoppt. Und man sich natürlich oft fragt, was wäre gewesen, wenn die deutsche Kirche, was wäre gewesen, wenn der Vatikan offen gegen den Holocaust gesprochen hätte, wenn nicht geschwiegen und weggesehen worden wäre.
    Köhler: Dachau hat eine lange Karriere.
    Wachsmann: Dachau ist das erste Lager, was aufgebaut wird 1933, noch damals von Himmler als Polizeichef von München. Und es gibt schon in der frühen Zeit des Nationalsozialismus Geschichten, Witze über Dachau. Das Wort "Lieber Gott, mach mich stumm, damit ich nicht nach Dachau kumm" ist weit verbreitet im Umkreis von München schon früh. Das heißt, die Lager waren nie unsichtbar.
    Köhler: Das sagt der Londoner Historiker Nikolaus Wachsmann, Verfasser einer Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, die gerade erschienen ist, in unserer Serie über das Postfaktische, über Kopf oder Bauch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.