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Reihe: "Kopf oder Bauch"
"Ich versuche, möglichst wenig zu steuern"

Der Jazzpianist und Dirigent Sebastian Sternal lässt sich bei seiner Arbeit ungern von Kopf oder Bauch steuern. Das meiste passiere aus der Musik selbst heraus, sagte er im Deutschlandfunk. Im besten Fall gebe sie die Richtung vor.

Sebastian Sternal im Gespräch mit Kathrin Hondl |
    Der Musiker Sebastian Sternal freut sich am 23.05.2013 in Hamburg über den "Echo Jazz" Preis 2013 in der Kategorie "Newcomer des Jahres national".
    Der Jazzpianist Sebastian Sternal (picture-alliance / dpa / Christian Charisius)
    Kathrin Hondl: "Magnolia" mit der "Sternal Symphonic Society". Und der Kopf dieser Band, der Jazzpianist Sebastian Sternal ist heute Gast unserer Gesprächsreihe zur Frage "Kopf oder Bauch?" Diese "Symphonic Society" ist ein Projekt mit Musikern aus Jazz und Klassik. Und das klingt ja fast schon wie die musikalische Übersetzung unseres Kopf und Bauch-Themas. Wäre die Sternal Symphonic Society also womöglich das ideale Zusammentreffen, die Fusion von Kopf alias Klassik und Bauch alias Jazz?
    Sebastian Sternal: Das würde mich natürlich freuen, wobei ich diese direkte Zuordnung so, glaube ich, nicht machen würde. Ich glaube natürlich, dass in der Klassik der Bauch auch eine sehr große Rolle spielt und im Jazz der Kopf auch eine sehr große Rolle, also insofern sind das vielleicht Tendenzen, aber eigentlich ist in beiden Genres, in beiden Richtungen eigentlich beides vereint, denke ich.
    "Ich versuche eigentlich, möglichst wenig zu steuern"
    Hondl: Und beides haben Sie in Ihrem Projekt vereint, und Sie dirigieren. Also Sie sind Komponist, Dirigent und auch am Piano dabei. Wie funktioniert das eigentlich, also wenn Sie dann da am Pult stehen oder vom Klavier aus dirigieren, Ihre Kompositionen dirigieren. Wie sehr steuern Sie da die Musiker oder was steuert Sie – Kopf oder Bauch?
    Sternal: Ich versuche eigentlich, möglichst wenig zu steuern. Das meiste passiert aus der Musik selbst heraus, die bestenfalls selbst sozusagen die Richtung angibt und vorgibt, und ich bin eigentlich nur jemand, der zunächst mal das Gesamtbild anschaut und so ganz kleine Korrekturen vornimmt oder Hilfen gibt, um das Ganze noch mehr zu optimieren, aber die Idealvorstellung wäre für mich fast, dass man mich gar nicht braucht vor dem Orchester. Das ist jetzt im Einzelfall dann doch manchmal ganz hilfreich, gerade, weil ja aus der klassischen und der Jazzrichtung kommt auch … andere Traditionen da sind, andere Gewohnheiten, sodass auch einfache es viel schneller möglich ist, das zusammen zu bringen, wenn vorne noch jemand steht, finde ich eigentlich ganz schön.
    Hondl: Unterschiedliche Traditionen haben Sie gerade gesagt. Ganz klar – Jazz, denkt man vor allem an Improvisieren, bei der Klassik an Spielen nach Partitur, nach Noten. Ist das auch so in Ihrem Ensemble, dass die Klassikmusiker klassisch nach Noten spielen oder können die auch improvisieren?
    Sternal: Die haben schon die Rolle, die sie kennen. Also sie spielen nach Noten und haben eigentlich keine richtig improvisatorischen Anteile zu machen, während die Jazzer dann vor allen Dingen solche Anteile spielen. Also da ist dann ganz oft auch ein Rahmen vorgegeben, und den dürfen die selbst füllen, und ich habe das schon bewusst so gemacht, dass ich beiden Seiten Aufgaben gegeben habe, die sie besonders gut ausfüllen können, weil sie das sozusagen ihr Leben lang schon gemacht haben. Das ist für mich auch die Idee gewesen dieser Fusion, dass eigentlich jeder das macht, was er am besten kann.
    Improvisation nur mit viel Vorarbeit
    Hondl: Ich muss ja jetzt mal ganz penetrant trotzdem auf diese Ausgangsfrage zurückkommen – Kopf oder Bauch –, und Sie haben absolut zu Recht gesagt, natürlich ist es klischeehaft, zu sagen, Klassik ist Kopf, Jazz ist Bauch, aber wie ist es jetzt zum Beispiel beim Jazz, aus dem Sie ja kommen – Sie unterrichten ja auch Jazztheorie –, wie viel Bauch, wie viel Verstand, wie viel Intuition ist da drin, wie viel steckt im Jazz?
    Sternal: Ja, das ist eine gute Frage, die eigentlich gleich einen guten Anlass bietet, um mit einem klassischen Missverständnis auszuräumen, nämlich, dass Improvisieren heißt, einfach so drauf loszuspielen oder einfach aus dem Bauch heraus zu spielen, denn an der Stelle finde ich eigentlich so ein Zitat von Rudi Carrell immer ganz gut: "Man kann nur was aus dem Ärmel schütteln, wenn man auch vorher was reingetan hat". Na ja, gut, das ist natürlich jetzt sehr plakativ, aber die Grundidee ist schon, dass man eigentlich erst dann spontan werden kann, erst dann improvisieren kann, wenn man vorher auch ganz schön viel Vorarbeit geleistet hat, also viel Wissen angesammelt hat, auch weiß über Musik, und dann ist eigentlich diese Spontanität erst möglich. Also auf der Basis von einem sehr breiten, soliden Wissensschatz, also Kenntnis der Traditionen, Kenntnis der Techniken, die man so anwenden kann, Kenntnis der Vokabeln, wenn man so möchte – das ist ja wie eine Art von Sprache, mit der man sich dann spontan ausdrückt –, das muss eigentlich dem vorangehen, und auf der Grundlage kann man dann spontan agieren. Das heißt, der Bauch kommt eigentlich dann schon ins Spiel, wenn man improvisiert, in diesem Moment, aber es funktioniert nur dann, wenn da dann schon ganz viel schlummert im Arbeitsspeicher.
    Hondl: Und ist das vom Kopf reingelegt, also denken Sie beim Improvisieren zum Beispiel vorher dran, wie Sie klingen wollen?
    Sternal: Eigentlich nicht. Das ist eher die Arbeit, die man dann über Jahre eigentlich oder Zeit seines Lebens als Jazzmusiker verfolgt, dass man sich so ein Repertoire aufbaut, eine eigene Sprache vielleicht auch sogar entwickelt, und an der arbeitet man eigentlich die ganze Zeit, also diese eigene Sprache weiter zu entwickeln, und mit der man dann verschiedene Werke immer deutlicher auf seine Art wiedergeben kann. Insofern entwickelt man schon eine sehr klare Vorstellung davon, wie man gerne klingen möchte, die sich aber ständig verändert und weiterentwickelt.
    "Man hat oft eine gemeinsame Grundlage für das Improvisieren"
    Hondl: Und wie verständigt man sich da während des Musizierens mit den anderen Musikern, wenn da jeder seine eigene Sprache spricht und entwickelt?
    Sternal: Dafür gibt es dann wieder so gemeinsame Konventionen. Also man hat oft eine gemeinsame Grundlage für das Improvisieren, die man festlegt, zum Beispiel klassischerweise wären das Jazzstandards, bei denen dann eine Melodie vorgegeben ist und ein bestimmtes harmonisches Schema, wie so eine Art grober Fahrplan, den alle kennen, und dadurch, dass es dann so ein paar gemeinsame Punkte gibt, kann man gemeinsam über dasselbe Thema reden, ohne sich in die Quere zu kommen, weil auch jedes Instrument erst mal konventionell eine bestimmte Rolle einnimmt, zum Beispiel der Bass spielt natürlich Grundtöne oder Walking Bass, das Schlagzeug spielt den Rhythmus und so weiter, also das, was man erst mal machen würde, und normalerweise nimmt man dann seine klassische Rolle erst mal ein und tastet sich von da aus vor, was so geht und muss eigentlich ständig in Verbindung bleiben mit den anderen, um zu sehen, wo sind die gerade unterwegs, und kann dann mit zunehmender Erfahrung aber immer mehr auch sofort seinen eigenen Stempel der Situation aufdrücken, ohne das Gesamtgefüge zu gefährden sozusagen.
    Hondl: Der Ausgangspunkt für die Gesprächsreihe hier in "Kultur heute" – Kopf oder Bauch – war ja die gesellschaftliche, die politische Situation, in der wir uns befinden, das sogenannte postfaktische Zeitalter, die Macht von Lügen, Stimmungen, Stimmungsmache, möglicherweise Ohnmacht von Vernunft, Ratio, Aufklärung, und gerade Jazz ist ja jetzt auch eine Musik, die oft auch wirklich politische Relevanz hatte, also wenn man zum Beispiel an die Bürgerrechtsbewegung in den USA denkt, Leute wie John Coltrane und so, und es gibt ja auch viele Jazzmusiker, die den Begriff Jazz überhaupt ablehnen als diskriminierend. Wie denken Sie über diese Debatten?
    Sternal: Also Jazz war sicherlich mal eine sehr politische Musik, vor allen Dingen bestimmte Arten von Jazz. Man denke an den Free Jazz zum Beispiel, ganz klar aus der Zeit heraus verständlich, dass da über die Musik hinaus bestimmte Botschaften übermittelt werden sollten. Dass der Begriff Jazz jetzt abgelehnt wird, das ist mir eigentlich nicht so geläufig, weil Jazz ein sehr offener Begriff ist, wie ich finde. Es kommt immer drauf an: Manche sehen ihn natürlich dann etwas enger, und dagegen wehren sich Jazzmusiker oft.
    "Ich verstehe meine eigene Musik eigentlich nicht unbedingt als politisch"
    Hondl: Na ja, die Alternativnamen, die so Leute wie Archie Shepp vorschlagen, sind dann Begriffe wie African-American music oder –
    Sternal: Ach so.
    Hondl: – Black-American music, und das stelle ich mir schwierig vor für Sie als jungen, weißen, europäischen Jazzmusiker, sich damit zu identifizieren, –
    Sternal: Ja.
    Hondl: – aber es muss doch gleichzeitig auch mitschwingen im Bewusstsein oder wie ist das?
    Sternal: Na klar, also die Tradition, die afro-amerikanische Tradition schwingt absolut mit, aber auch das fände ich schon wieder zu eng, denn inzwischen gibt es ja auch einen Jazz, der sich in Europa entwickelt hat, als Antwort auf den rein amerikanisch geprägten Jazz. Natürlich kommt Jazz aus Amerika, ganz klar, ist da entstanden, aber es gibt inzwischen so viele Formen von Jazz, dass ich dieses Label, wenn man so will, als Überbegriff für all das, was da reinkommt, eigentlich immer noch ganz brauchbar finde, um irgendwie ungefähr zuzuordnen, was man denn da so macht.
    Hondl: Und inwiefern sind für Sie jetzt Gedanken an Politik oder gesellschaftliche Zu- oder Missstände wichtig, spielen die eine Rolle beim Musikmachen? Inwiefern fordert das postfaktische Zeitalter Sie als Jazzmusiker auch heraus?
    Sternal: Also ich verstehe meine eigene Musik eigentlich nicht unbedingt als politisch, weil ich sie nicht mit einem ganz bestimmten politischen Grund mache. Das finde ich oft auch gar nicht so einfach, wenn Musik zum Träger solch konkreter Gedanken wird. Das finde ich oft sogar schon problematisch oder das ist auch oft Musik, die ich mir dann gar nicht so anhören kann, weil die so instrumentalisiert worden ist gewissermaßen. Ich bin dann schon ein Verfechter davon, dass Musik so eine eigene Wahrheit erschafft, an der man ganz viele Dinge lernen kann, an der man sich auch erbauen kann sozusagen und die einem hilft, das Leben besser zu machen auf eine Weise, die jeder für sich selbst entscheiden kann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.