Änne Seidel: Kopf oder Bauch? Die Frage stellt sich zurzeit unter anderem mit Blick auf die Politik. Manch einer hat den Eindruck, dass es dort zu emotional zugeht, dass Fakten kaum noch eine Rolle spielen, dass da immer mehr Hitzköpfe und immer weniger kühle Köpfe am Werk sind. Kopf oder Bauch, das ist aber auch eine Frage, auf die wahrscheinlich fast jeder schon mal antworten musste: Sind Sie eher ein Kopfmensch oder ein Bauchmensch? - Wer kennt diese Frage nicht! Roger Willemsen, der im vergangenen Jahr verstorbene Publizist und Fernsehmoderator, hatte da eine gute Antwort parat: Ich habe so viel Bauch im Kopf, dass ich kaum noch weiß, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Und das trifft es ja eigentlich ziemlich gut, denn Kopf und Bauch, Verstand und Emotion, ja, das gehört irgendwie zusammen, das eine ohne das andere, das funktioniert nicht, zumindest nicht auf Dauer. Die schwierige Frage ist nur: Was ist die richtige Prise Kopf und was die richtige Dosis Bauch? Die Frage geht heute an die Schriftstellerin Nora Bossong, Autorin mehrerer Romane, Essays und Gedichtbände. Und ich habe sie erst mal nach ihrem persönlichen Erfolgsrezept gefragt: Frau Bossong, mehr Kopf, mehr Bauch oder einfach halbe-halbe?
Nora Bossong: Ja, ich glaube, halbe-halbe kann man nicht sagen. Aber das eine darf nicht ohne das andere gehen. Das geht auch gar nicht ohne das andere. Ein Gefühl, was überhaupt nicht mehr von einem Verstand geleitet wird, verliert sich völlig, ein Verstand, der gar kein Gefühl mehr zulässt, versteinert. Also, ich glaube, das eine bedingt das andere.
Seidel: Und was bedeutet das dann bei Ihnen ganz konkret für den Schreibprozess?
Bossong: Für den Schreibprozess bedeutet es, dass ich mich einem Thema annähere, zum einen durch Recherche, was sicherlich erst mal verstandesmäßig ist. Ich möchte eine Frage durchschauen oder mich ihr erst mal, ja, mit ihr warm werden. Aber gleichzeitig muss ich mich natürlich auch in die Figuren einfühlen können und sonst wäre es vielleicht eine mathematische Aufgabe, die ich zu lösen habe. Aber gerade die Einfühlung und der Versuch von Empathie ist das, was dann einen Text lebendig macht.
Verheiratet mit den Romanfiguren
Seidel: Sie recherchieren viel für Ihre Bücher, sagen Sie. Fällt es Ihnen denn schwer, nach dieser akribischen, nüchternen Recherchearbeit dann plötzlich umzuschalten auf die kreativere Arbeit des Schreibens?
Bossong: Nein, eigentlich gar nicht. Es ist so ein bisschen das Ernten der Früchte, die man irgendwie ausgesät hat. Ich habe ja auch meine Magisterarbeit geschrieben, da war mir diese Fiktionalisierung am Ende nicht möglich, und es ist eigentlich ganz wunderbar, wenn man mit dem Wissen, was man sich angelesen hat, mit den Fragen, mit denen man schwanger gegangen ist, wenn man das plötzlich mit Figuren aushandeln kann, wenn die zum Leben erwachen, wenn die ihre eigenen Stimmen bekommen und das alles eine viel vielstimmigere Antwort wird als die eine, die ich mir selbst nur geben kann.
Seidel: Also ist das dann auch ein sehr enges, persönliches, inniges Verhältnis, das Sie da zu Ihren Figuren entwickeln?
Bossong: Ja, auf jeden Fall. Also, es ist nicht mehr rein abstrakt, es ist ... Ich habe mal einen Roman in Rom zu Ende geschrieben, war drei Monate völlig versunken in diesen Roman, dann hatte ich ihn fertig geschrieben, bin auf die Straße gegangen und kam mir total einsam vor, als ich irgendwann merkte: Aha, dieser Herr Weber ist ja gar nicht mehr bei mir, der war die ganze Zeit neben mir! Also, es ist schon fast so ein eheähnliches Verhältnis, was man mit diesen Figuren führt.
Seidel: Und dann fühlt es sich so ein bisschen an wie eine Scheidung oder eine Trennung, wenn das Buch dann fertig ist?
Bossong: Wie eine Trennung oder wie ein Tod, das ist ein bisschen traurig.
Lyrik als Schachspiel
Seidel: Sie schreiben, ich habe es gesagt, sowohl Romane als auch Gedichte. Aus der reinen Leserperspektive würde ich jetzt mal vermuten, dass Lyrik dann meist doch noch mal eine deutlich emotionalere Angelegenheit ist als Prosa. Ist das so?
Bossong: Naja, zumindest kann man dort erst mal die emotionale Seite der Sprache, nämlich auch so was wie Klang und Rhythmus mehr in den Vordergrund treten lassen. Gleichwohl würde ich auch da sagen, dass man nicht allein das Gefühl stehen lässt. Manchmal erinnert mich das ein bisschen an Schach spielen: Was spricht gegen diesen Zug, was spricht gegen dieses Wort, wie baue ich das zusammen? Also, von daher ist auch da eigentlich beides vonnöten.
Seidel: Schach ist ein schöner Vergleich, denn ich könnte mir vorstellen, dass das Schreiben in Versen ja auch wirklich einiges an Disziplin erfordert. Also, schöne Ideen, die Inspiration, das ist das eine, aber dann muss die Form ja auch wirklich stimmen.
Bossong: Ja, sollte auf jeden Fall. Und die Grundlage des Erzählerischen, der Sprachbilder, das ist etwas, was man erst mal hat. Und von dort ausgehend baut man dann das, was tatsächlich, wenn man ganz viel Glück hat, Kunst werden könnte, Literatur werden könnte.
Hannah Arendt über Mitleid und Solidarität
Seidel: So weit vielleicht erst mal zu Ihrem persönlichen Kopf-Bauch-Haushalt, Nora Bossong. Nun stellt sich die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Vernunft und Gefühl aber ja nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen, in der Politik zum Beispiel. Gerade in den vergangenen Monaten war häufig zu hören und zu lesen, dass es zurzeit zu emotional zugehe auf der politischen Bühne. Empfinden Sie das auch so?
Bossong: Ja, ich glaube, dass Emotionalität in der Politik mit sehr viel Vorsicht zu genießen ist, dass verstandesmäßiges Handeln da grundsätzlich besser ist. Wenn man sich zum Beispiel Hannah Arendt anschaut, was sie in ihrem Buch "Über die Revolution" schreibt, wo sie das Mitleid, das Mitleiden und die Solidarität gegeneinanderstellt und ganz klar für den Begriff der Solidarität plädiert, dann finde ich das sehr überzeugend. Denn Mitleid ist etwas, was wir nur einzelnen Menschen gegenüber empfinden können, Mitleiden hingegen wird instrumentalisiert, wird sentimental, bringt uns eigentlich nicht im Handeln voran. Und Solidarität ist ein Übereinkommen, in dem wir sowohl den Stärkeren wie dem Schwächeren gegenüber unsere Unterstützung zusichern und wir nicht das Leiden als solches brauchen, um überhaupt zu diesem Gefühl, zu diesem Akt legitimiert zu werden.
Seidel: Sie haben sich in Ihren Romanen ja auch mit Politikerfiguren beschäftigt, zum Beispiel mit Antonio Gramsci, eine der prägenden Figuren des italienischen Kommunismus. Und Sie beschreiben ihn als sehr emotionalen Menschen, als einen Menschen, der zu großen Gefühlen in der Lage war. Wie hat sich das auf seine Politik ausgewirkt?
Bossong: Es ist eine Frage, die ich mir in seinem Werk gestellt habe: Hat sich das auf seine Politik ausgewirkt, hat sich das auf sein Denken ausgewirkt? Und es gibt eine Frage, die sich Antonio Gramsci selbst gestellt hat, nämlich wie es möglich sein kann, eine Masse von Menschen zu lieben, wenn man nie einen einzelnen Menschen geliebt hat? Das scheint nun wieder Hannah Arendt eigentlich zu widersprechen, also, wenn er das als Grundlage sieht, allerdings muss man glaube ich von intrinsischen Gefühlen, also Gefühle, die ich in meinem Inneren ausmache, und von Gefühlen, die ich nach außen produziere, unterscheiden. Das heißt, wenn ich mich selbst wirklich überprüfe in meinem Gefühl, was für ein Menschenbild liegt meinem Denken zugrunde, was für eine Liebesfähigkeit habe ich eigentlich, dann ist das etwas vollkommen anderes, als wenn ich auf der Bühne stehe und von Beileid, Mitleid oder sonstigen Dingen rede, vielleicht noch zu Tränen gerührt mich zeige.
Und ich glaube, dass bei Antonio Gramsci diese wirklich sehr aufrichtige Frage dazu geführt hat, dass er nicht verknöchert ist in einem sehr dogmatisch-orthodoxen, am Ende bürokratisch-toten Marxismus, sondern eigentlich lebendig geblieben ist auch in seinem Denken.
Gefühle innen und außen
Seidel: Also würden Sie sagen, dass Gramsci ein Beispiel dafür ist, dass Emotionen in der Politik durchaus gut und wichtig sein können?
Bossong: Ja. Ich glaube, die Gefühle, die man im Inneren mit sich selbst ausmacht, und nicht die, die zur Schau getragen werden, die instrumentalisiert werden, das genau wird das Problem. Und ich glaube, das, was man häufig derzeit sehen kann, ist ja nicht so sehr die Gefühle der Akteure, der Politiker, sondern ihr Versuch, mit den Gefühlen der Wähler und Zuhörer und Zuschauer zu spielen oder sie für ihre Zwecke zu nutzen. Das heißt, wenn ich etwas wie Hass, aber auch wie Liebe, Begeisterung, sonst etwas schüre, dann geht es nicht so sehr um meine eigenen Gefühle, um das, was ich in meinem Inneren ausmache, was ich an Demut, an Respekt dieser Aufgabe gegenüber habe, sondern dann geht es darum, mit Menschen zu spielen, sie eigentlich zu manipulieren. Und da wird es hochgradig gefährlich.
Und ich glaube, das, was der Politik heute am ehesten fehlt, ist eigentlich ein Zukunftsbegriff, ein, ja, mutiger Blick darauf, was in Zukunft sein könnte, auch ein Entwurf davon, was Gesellschaft sein könnte. Und das, was ich erlebe, ist mitunter eine genaue Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, ein guter Blick auf die Gegenwart im besten Fall, aber da hört es dann auf. Und das wäre etwas, was ich mir eigentlich für die Politik oder vielleicht auch für die politische Theorie sehr wünschen würde, dass man wieder sich mehr mit dem Begriff der Zukunft beschäftigt und Entwürfe sich auch zutraut.
Seidel: Die Antwort der Schriftstellerin Nora Bossong auf die Frage: "Kopf oder Bauch?", die sich ihr sowohl mit Blick auf die Politik als auch in ihrer Arbeit als Schriftstellerin stellt.
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