Michael Köhler: Mit Fake-News und gezielten Lügen, mit Hacker-Angriffen und gezielter Stimmungsmache kann man mühsame Routinen der Urteilsbildung geschickt und wirksam unterlaufen. "Putin wählte Trump" titelt die "Frankfurter Sonntagszeitung", Destabilisierung durch Veröffentlichung des E-Mail-Verkehrs der ehemaligen amerikanischen Außenministerin, Misstrauen in die amerikanische Demokratie säen und frauenfeindlich die US-Präsidentschaftskandidatin diskreditieren. Das hat gewirkt. In unserer Serie über das Postfaktische und die Künste unter dem Titel "Kopf oder Bauch" haben wir die vielfach ausgezeichnete Lyrikerin und Übersetzerin Monika Rinck zu Gast.
Vom kommenden Montag an findet die Poetica III in Köln statt, ein Festival für Weltliteratur, eine Woche lang, an verschiedenen Orten. Titel: "Die Seele und ihre Sprachen". Monika Rinck ist die Kuratorin, ich habe sie gefragt: Was ist die Poetica?
"Was ist je damit gemeint?"
Monika Rinck: Die Poetica III ist, wie der Name schon sagt, die dritte Ausgabe dieses Festivals, das von dem Kolleg Morphomata und der Universität Köln gemeinsam ausgerichtet wird. Es ist ein internationales Festival, das rückt dann natürlich die Frage der Übersetzung in den Mittelpunkt. Und wenn wir uns der Frage der Übersetzung widmen, dann sind wir vielleicht auch schon beim Titel oder beim Thema, nämlich "Die Seele und ihre Sprachen". Seele ist ja nun mal ein Gattungsbegriff und man hat ein ungefähres Gefühl, was damit gemeint sein könnte. Aber wenn man sich die verschiedenen Seelenkonzepte anschaut, beispielsweise im Alten Ägypten, im Christentum, im Platonismus, der landläufige Begriff der Seele, der Seelenbegriff der Psychoanalyse, dann hat man sehr viele verschiedene, unter dem Begriff der Seele subsumierte und sehr, sehr unterschiedliche Konzepte, die eigentlich jeweils einen einzelnen Namen verdienen könnten, aber uns dann wieder vor das Problem, eben auch die Möglichkeit der Übersetzung stellen. Denn man muss sich eben darüber austauschen: Was ist je damit gemeint?
Köhler: Wir sprechen in unserer Serie übers Postfaktische. Doch wenn das irgendwie einen Sinn machen soll, dann heißt das ja immer auch so viel wie etwas vielleicht nicht wissen wollen oder ignorieren und umgekehrt vielleicht den Affekten oder Gefühlen den Vorzug geben. In Lyrik war das in gewisser Weise immer schon, aber nicht, um etwas zu ignorieren, sondern ich sage jetzt mal vollmundig: um eines besseren Faktischen vielleicht. Also, Lyrik stellt ein Wissen bereit, das die Wissenschaften naturgemäß eben nicht haben. Besitzt sie ein intimeres Verhältnis zur Wahrheit oder zum Seelischen als andere Erfahrungsbereiche?
Rinck: Das würde ich vielleicht etwas anders hinstellen. Ich würde sowohl einem uninformierten Gefühl wie auch einem komplett gefühllosen Gedanken misstrauen. Und das, was ein Gedicht eben zu einem Objekt von Interesse macht, ist, dass es beides verbindet, dass es eben die Relationen in den Blick rückt, mit denen man es zu tun hat. Die welterzeugende Wirkung von Sprache, dann wiederum die Erfahrung, Welterfahrung, die zu einer anderen, einer neuen Weise des Sprechens führt, und sie kann eben wie auf der Bühne einer strukturellen Entdifferenzierung, möchte ich sagen, dafür sorgen, dass diese Abläufe auf sinnliche, ästhetische, vergnügliche, genießbare Art und Weise dargestellt werden.
Köhler: Sie machen es mir leicht! Vergnügliche Weise: Wenn die Literatur oder die Lyrik ein Wissen bereitstellt, das andere Bereiche nicht haben, beispielsweise weiß sie mehr über Krankheit vielleicht als der Arzt … Also, mir fällt spontan Robert Gernhardt ein und … der beispielsweise sagte: Mein Körper ist ein schutzlos Ding, wie gut, dass er mich hat, ich hülle ihn in Tuch und Garn und mach ihn täglich satt … Mein Körper hat es gut bei mir, ich geb ihm Brot und Wein … Und dann ist er in der Sphäre des Religiösen: Doch von beidem kriegt er meist nie genug, nachher, dann muss er spein. – Also, will sagen: Es gibt doch vielleicht Erfahrungsbereiche, die außerwissenschaftlich sind und so eine Art Überschuss erzeugen?
"Eine Entscheidung, die neue Metaphern generiert"
Rinck: Nun ja, was jeweils außerwissenschaftlich ist, das wird ja wiederum von der Wissenschaft, die ich zugrunde lege, entschieden. Da gibt es ja auch ungemeine Rangeleien bezüglich des Faktischen, sagen wir beispielsweise zwischen Psychoanalyse und verschiedenen Formen der Neuro… Wie heißen die? Neuro… Neuromythologie will ich es jetzt mal kurz nennen. Und das sind natürlich auch historischen Veränderungen unterworfene Grenzziehungen. Wenn man beispielsweise mit der Moderne sich entschlossen hat, einen Naturbegriff zu installieren, aus dem alle sozialen und rituellen Beziehungen ausgeschlossen sind, dann ist das natürlich eine Entscheidung, die dann wiederum neue Metaphern generiert.
Köhler: Ja.
Rinck: Also, wenn ich etwas als belebt erfahre, habe ich nicht den Eindruck, dass es sich um eine gewagte Metapher handelt. Oder wie einmal jemand sehr schön gesagt hat: Das, was für uns ein Dreckloch ist, ist für einen Tapir eine Zeremonienhalle. Und deswegen würde wahrscheinlich auch ein Tapir ganz andere Metaphern für seine Zeremonien finden als wir für das Dreckloch.
Köhler: Sie sind ja auch Übersetzerin. Und die Poesie hat, sage ich mal, so etwas wie die Lizenz auch zu Paradoxien. Also, wenn ich vom hölzernen Eisen rede, dann ist das ein Bild, mit dem Sie und ich wahrscheinlich was anfangen können, mein Deutschlehrer hätte da schon wieder Schwierigkeiten. Wenn Rilke in seinem Adventgedicht von der Flockenherde spricht, dann wissen wir, was gemeint ist, wenn Paul Celan von Fadensonnen spricht, wird es schon ein bisschen schwieriger und es eröffnet trotzdem Erfahrungsbereiche anderer Art, die uns bereichern. Sie selber, Lyrikbände von Ihnen heißen "Verzückte Distanzen" oder "Fern gebliebene Umarmung" (korrekt: "zum fernbleiben der umarmung", Anm. d. Red.). Lyrik als eine zur Sprache gekommene, ja, ich fordere Sie mal heraus: zur Sprache gekommene Unvernunft?
Rinck: Unvernunft … Es steht …
Köhler: Oder sagen wir: Gegenvernunft vielleicht, …
Rinck: Gegenvernunft …
Köhler: … also kontrafaktisch, wäre das vielleicht ein Schlüssel für unser Gespräch? Nicht postfaktisch und auch nicht anti, sondern kontrafaktisch? Sie stellt was anderes bereit?
Rinck: Sie schafft andere Fakten, würde ich dann wiederum sagen. Es ist ja auch so, dass auch das … Das Postfaktische schafft ja auch Fakten. Und wenn ich eine machtvolle Person bin, dann kann ich eben auch eine Lüge als Evidenz installieren, das ist gar kein Problem.
Köhler: Ich könnte Ihnen sogar falsche Erinnerungen unterjubeln, wenn wir zwei nur lange genug miteinander reden würden.
"Eine gewisse Definitionsmacht sollten die Begriffe schon behalten"
Rinck: Da werden wir sehen, wer der Stärkere ist! Das erinnert mich dann wiederum an "Alice in Wonderland", ihr Gespräch mit Humpty Dumpty, wo eben Humpty Dumpty behauptet, wenn ich ein Wort verwende, dann bedeutet es genau das, was ich mit ihm verbinde, und Alice einwendet, es ist die Frage, ob Sie ein Wort so viele verschiedene Dinge bedeuten lassen können, und Humpty Dumpty dann einfach kurz folgert: Die Frage ist, wer die Macht hat, das ist alles! – Ich würde ja, um noch kurz auf Ihre Frage zurückzukommen … Das Interessante an dem, was ein Gedicht bietet, ist, dass es eine Kooperation zwischen Leser und Gedicht ist, dass ich als Lesende aufgefordert bin, großzügig mit meinen Assoziationsfähigkeiten umzugehen und sie dem Gedicht zur Verfügung zu stellen, um eben zu einer Deutung zu kommen, an dem sowohl das Gedicht als auch der Leser beteiligt sind. Insofern ist es eine Art von Kooperation. Und ob diese Kooperation sich nun auf der Seite der Vernunft oder auf der Seite der Unvernunft einträgt, wäre dann eben von Fall zu Fall zu entscheiden. Ich wehre mich ein bisschen dagegen, dass man die ja sehr bewusste Sprachverwendung der Lyrik ohne Weiteres auf der Seite der Esoterik einträgt. Wobei ich es mir andererseits mit der Poetica auch darum geht, gegen eine bestimmte Verrohung des Irrationalen anzugehen oder zu schauen: Kann man möglicherweise bestimmte Formen des nicht Erkennbaren, des Unvorstellbaren, des nur schwer Sagbaren auf eine gute Art und Weise beleuchten, ohne sie hinwegzufegen oder zu vernichten?
Köhler: Ich klau mal aus Ihrem Werk einen Begriff, so eine Art … Ich glaube, es war ein Titel eines Vortrages oder, ich erinnere es nicht ganz genau … Die Poetica und auch das lyrische Schaffen als eine Form des kreativen Verfransens?
Rinck: Ja, das war im Zusammenhang mit einer Konferenz in Wien, wo es um die Verfransung von Wissenschaft und Kunst geht und auch um die Verfransung von Wissenschaft, Philosophie, ästhetischer Sprachverwendung, Sprachkunst. Und was mich daran interessiert hat, war: Muss denn die Verfransung immer am Rand stattfinden? Also, ist die Verfransung gleichsam ein marginales Phänomen …
Köhler: Am Ende des Teppichs.
Rinck: … am Ende des Teppichs, oder wäre nicht vorstellbar eine Verfransung in der Mitte des Teppichs sozusagen, ein Zentrum, in dem etwas zusammenkommt? Und darüber wurde eben bei dieser Konferenz gesprochen. Denn man hört ja, wenn man fühlt, nicht auf zu denken, und es wäre auch wünschenswert, dass, wenn man denkt, man nicht komplett aufhört zu fühlen. Wobei sich natürlich dann auch wieder neue Grenzziehungen einstellen müssen, weil man ja nicht in einer … die Begriffe nicht gegeneinander auflösen möchte, um das Ganze in so einem nebelhaften "Das alles gibt es also und das alles ist irgendetwas und man muss …" … Also, eine gewisse Definitionsmacht sollten die Begriffe schon behalten, aber man muss eben ihre Relationen erst nehmen.
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