Dina Netz: Im Herbst wird Frankreich Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein. Aus diesem Anlass erscheinen im Sommer und Herbst jede Menge französischer Bücher in deutscher Übersetzung. Im "Büchermarkt" soll aber auch der literarische Betrieb Frankreichs in einer kleinen Reihe Thema sein, denn der funktioniert doch ganz anders bei unseren westlichen Nachbarn als bei uns. Das Buch hat zum Beispiel immer eine große Rolle gespielt in der politischen Kultur Frankreichs. Präsident Charles de Gaulle sah sich als Memoirenschreiber mit literarischen Ambitionen. Sein Werk ist in der ruhmreichen Bibliothèque de la Pléiade verlegt. Frage an den in Paris lebenden Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte: Ist die Literatur immer noch wichtig in der gesellschaftlichen Verständigung Frankreichs?
Jürgen Ritte: Ja, das ist sie, aber vielleicht auf eine etwas andere Weise. Wir haben zwei Präsidenten erlebt, die mit dem Buch nicht viel zu tun hatten - Nicolas Sarkozy, aber eben auch François Hollande. Das war das erste Mal, dass wir einen linken Präsidenten hatten, der von Büchern nicht sehr viel verstand und ich glaube auch nicht viel darum gegeben hat. Jetzt haben wir wieder einen, Emmanuel Macron - wir wissen es nicht genau, aber auf seinem offiziellen Präsidentenfoto liegt ja ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schreibtisch hinter ihm, und das sind die Memoiren von de Gaulle. Da versucht er also offenbar, in eine Tradition einzutreten.
Wenn ich sage, das ist etwas anders geworden, dann liegt es eben an dieser politischen Bedeutsamkeit des Buches. Nicht jeder Politiker muss heute noch ein Romanautor oder ein Buchautor gewesen sein, um für voll genommen zu werden, aber im Gespräch unter Franzosen spielt das Buch eine große Rolle. Das sieht man daran, wenn man sich die Bestsellerliste oder Verkaufslisten in Frankreich anguckt, das ist noch immer eine sehr, sehr französische Angelegenheit, also Franzosen verständigen sich auch sehr viel über ihre eigene Literatur.
Etwas anders als die Deutschen, wir schauen mehr auf die Schriftsteller als die moralischen Präzeptoren der Nation, wir wollen immer, dass sie uns sagen, wo es langgeht und uns unsere Geschichte deuten - in Frankreich eine Etage tiefer gehängt. Es geht einfach darum, wie das Leben so spielt, das ist diese französische mittlere Literatur, die häufig mit Goncourt-Preisen und anderem ausgestattet wird, die ein bisschen seicht vielleicht manchmal ist, aber schon ihre Rolle spielt, was man einfach an den Auflagen dann auch sieht.
"Schriftsteller sind nicht Philosophen im deutschen Sinne"
Netz: Französische Schriftsteller sind ja nicht gleichzusetzen mit französischen Denkern, die ja auch hier in Deutschland immer eine sehr wichtige Rolle gespielt haben. Übernehmen die diese moralische Instanzrolle heute noch?
Ritte: Ja, das ist traditionell die Rolle des "philosophes". Man hätte es auch anders sagen können - da sagt man, wenn man die auch als Schriftsteller nimmt, das sind sie eigentlich eher, sie sind nicht Philosophen im deutschen Sinne, wir denken immer direkt an den Lehrstuhl, während Franzosen philosophe sind, sobald sie irgendwie ein bisschen nachdenken und was schreiben.
Und haben wir sehr viel: Alain Finkielkraut, Bernard-Henri Lévy, Glucksmann, der verstorben ist, Michel Onfray, von dem auch in Deutschland viel geredet wird. Das sind Leute, die regelmäßig auf den Zeitungsseiten stehen oder auf den Titeln von den Magazinen, das sind die Einlassungen ins Politische. Man erwartet das nicht vom Autor. Ein Patrick Modiano oder ein Jean-Marie Gustave le Clézio - zwei Nobelpreisträger aus jüngerer Zeit - oder Claude Simon, noch ein Nobelpreisträger, das sind Leute, die sich eigentlich politisch, zum tagespolitischen Geschehen nie geäußert haben, die sehen ihre Rolle nicht darin. Das Politische in der Literatur ist bei ihnen eben, dass sie gerade das nicht macht.
Netz: Andererseits, Sie haben jetzt gerade die Auswahl derer getroffen, die sich tatsächlich überhaupt nicht äußern, aber andere äußern sich sehr politisch in ihren Büchern, nicht unbedingt in den Tageszeitungen - also wenn ich da an Jérôme Ferrari denke, an Karine Tuil, da fallen einem auf Anhieb noch viele andere ein. Funktioniert da die Verständigung vielleicht anders, nicht so sehr über die Medien, sondern wirklich eher über die Bücher?
Ritte: Ja, wirklich eher über die Bücher, das ist eigentlich ein ganz interessanter Zug, diese Arbeitsteilung, wo man sagt: Gut, ihr seid philosophes und wir sind écrivains. Und ich glaube, deswegen spielt das Buch für Franzosen einmal noch eine sehr große Rolle. Sie verständigen sich darüber, über Erzählungen, über Geschichten vom Politischen.
Netz: Wo tun sie das denn, Herr Ritte? Also früher gab es freitags abends die Sendung von Bernard Pivot, die Literatursendung "Apostrophes", da saß man wie ums Kaminfeuer drumrum, und da waren tatsächlich auch Autoren eingeladen - nicht die Kritiker, wie das bei uns in Deutschland ist. Gibt es heute noch so eine ähnliche Instanz, oder ist die literarische Verständigung inzwischen durch das Internet komplett zersplittert?
Ritte: "Apostrophes" ist leider Geschichte, und auch das, was danach kam, "Bouillon de culture". Es gibt noch literarische Fernsehsendungen, die sind allerdings an Sendeplätzen, die jetzt nicht so ganz prominent sind. Ganz erstaunlich ist, dass in Frankreich das Radio da wieder nach vorne geprescht ist. Wir haben einige literarische Sendungen, alte literarische Sendungen, die immer noch sehr lebendig sind im Radio und die sämtliche Programmreformen überlebt haben, wie "Le Masque et la Plume". Das ist etwas, was heute im Grunde genommen die Rolle spielt von "Apostrophes" damals.
Die Literaturinteressierten hören sich das an, und am nächsten Tag kaufen sie das Buch. Natürlich spielt das Internet eine große Rolle, dann die regelmäßig noch relativ dicken Literaturbeilagen wöchentlich in den Zeitungen - beim "Figaro", bei "Libération", in "Le Monde". Also es gibt keinen Salon mehr, sagen wir es so, es gibt nicht mehr den Salon, den Bernard Pivot mit "Apostrophes" hatte, es gibt ihn im Radio noch in gewisser Weise, weil da auch alle mit allen diskutieren, es gibt aber eben noch immer sehr stark die ganz klassischen Medien der Vermittlung von Literatur, und die funktionieren.
"Franzosen lesen mit Vorliebe Romane"
Netz: Und was lesen die Franzosen nun, also vielleicht auch gerade im Vergleich mit den Deutschen? Sie haben schon gesagt, man konzentriert sich sehr auf die eigene Literatur - was genau lesen die Franzosen gern?
Ritte: Die Franzosen lesen mit Vorliebe Romane. Nicht umsonst bemühen sich die Verleger, immer pünktlich zum Herbst - das heißt ab August im Grunde genommen schon - mit einer gewaltigen Romanproduktion anzutreten, die dann antritt für die verschiedenen Literaturpreise. Es werden jährlich um die 600, 700 neue Romane.
Und wenn man sich die Bestsellerlisten anschaut in Frankreich, wie sie wöchentlich vom Branchenblatt "Livres Hebdo" veröffentlicht werden, dann geht man manchmal runter bis auf die Position 25 der besten Verkäufe, und da hat man vielleicht ein oder zwei Ausländer dabei. Und das sind dann die Megaweltbestseller, die wir auch in Deutschland haben, aber es sind unter 25 dann 23, 20, vielleicht auch manchmal nur 18 Franzosen, aber es sind Franzosen. Das ist eigentlich ein ganz interessantes Zeichen.
Ich mach mir immer den Spaß, das zu vergleichen mit der "Spiegel"-Bestsellerliste, wo man eigentlich ein umgekehrtes Verhältnis hat, auch wenn ich den Eindruck habe, dass auch in Deutschland die deutsche Literatur etwas mehr an Terrain gewinnt gegenüber den Übersetzungen. Also das ist das Erste, was sie lesen.
Große Buchhandelserfolge sind in Frankreich allerdings auch die Bandes Dessinées. Ein "Asterix" verkauft sich so viel wie, ich würde sagen, wie 20 bessere Romane zusammen - das sind dann 1,8 Millionen, drei Millionen oder so weiter -, aber auch die anderen Bandes Dessinées-Helden, die wir haben, "Lucky Luke" inzwischen schon vom dritten Zeichner und vom soundsovielten Szeneristen betreut, alles das sind große Erfolge in Frankreich. Und ein Segment, das auch auf der Frankfurter Buchmesse sehr stark vertreten sein wird, das wir immer übersehen, ist das Kinder- und Jugendbuch.
Ich wage jetzt mal die Behauptung, dass in Europa zumindest Frankreich absolut führend ist im Kinder- und Jugendbuch. Ich hab immer gedacht, das sei Deutschland, aber ich glaube, es ist wirklich Frankreich. Und Verlage wie Gallimard beispielsweise leben zum Teil davon, dass sie das Jugendbuchsegment haben, das ein sehr interessantes Buchsegment ist, das sind nicht nur Kindergeschichten oder irgendwelche Bilderbücher.
Wenn ich Jugendbuch sage, ist das auch eine Literatur, eine enzyklopädische Literatur, also Wissensvermittlung, Découvert, Entdeckung und so weiter - alles Bücher, die Eltern gerne für ihre Kinder kaufen, damit sie auch gute Chancen später im Leben haben. Aber es ist dies und eine wirkliche Kultur von ganz fantastischen Zeichnern, die die Kinderbuchliteratur beherrschen. Dieses Segment wird inzwischen von fast allen Verlagen bespielt, von den ganz seriösen, von den ganz großen, weil sie wissen, dass sie eigentlich das brauchen, um den Rest noch mitzufinanzieren.
Mit unglaublichem Genuss das Wissen erzählen
Netz: Die französische Literatur, die gilt ja so ein bisschen als schwierig, als verkopft, gerade aus der Tradition des Nouveau Roman kommend, als sehr sprachspielerisch. Gilt das eigentlich heute noch, oder geht es da auch ein bisschen mehr in Richtung Globalisierung, dass die Franzosen sich ein bisschen öffnen zu einer, sagen wir mal, erzählerischeren Literatur?
Ritte: Es ist ähnlich wie im Zoo, es gibt alles. Dieses Verkopfte, auf das Sie anspielen, ist natürlich aus dem Nouveau Roman hergekommen, und manche mögen auch noch Spielereien wie die bei der Literaturgruppe Oulipo, Ouvroir de Littérature Potentielle, für Verkopftheit, obwohl die sehr witzig sind, aber das gibt es. Das gibt es auch deswegen, weil in Frankreich die Tradition der Rhetorik höher gehalten wird. Jeder Schüler, der Abitur macht, hat zumindest eine Ahnung davon, wie man Texte komponieren muss und dass man nicht einfach drauflos redet, wenn man was zu sagen hat, sondern man komponiert es.
Das ist die rhetorische Tradition. Aber wir haben das andere auch. Und es gibt eben auch einen französischen Literaturmarkt, der Global Player produziert hat wie Guillaume Musso, wie Marc Levy, wie Anna Gavalda, wie Éric-Emmanuel Schmitt, die wir alle auch in Deutschland kennen, die aber nicht nur in Deutschland sehr gut verkauft werden - jetzt hab ich sogar Michel Houellebecq vergessen …
Netz: Das ist schon wieder ein anderes Genre.
Ritte: Man kann sich das sogar leisten … Aber das sind alles Autoren, die weltweit in Hunderttausenden und zusammengerechnet dann eben Millionen von Exemplaren verkauft werden. Also auch diesen Markt können französische Autoren inzwischen bedienen - vielleicht nicht ganz so stark, wie das die angelsächsischen können, aber immerhin, sie sind da präsent. Und dann gibt es diese andere Literatur, die mir eigentlich besonders am Herzen liegt, das sind dann Mathias Énard, diese Leute, das sind dann Olivier Rolin, das ist ein Jean Echenoz natürlich. Das ist nicht der Megabestseller, aber es ist eine sehr wissenshaltige Literatur, insofern verkopft, wenn Sie so wollen, aber eine, die mit unglaublichem Genuss das Wissen erzählt.
"Auf der Buchmesse fehlen noch eine ganze Reihe von Autoren"
Netz: Die meisten der Autoren, die Sie erwähnt haben, sind in diesem Herbst auch Gäste auf der Frankfurter Buchmesse, und wir sprechen ja jetzt auch über dieses Thema, weil Frankreich Gastland ist. Wie repräsentativ ist denn die französische Literatur, die in Frankfurt präsentiert werden wird, für das Heimatland?
Ritte: Sie scheint mir nicht ganz repräsentativ zu sein, aber das ist vielleicht normal. Man muss sehen, wie so etwas zustande kommt. Das ist zustande gekommen im französischen Außenministerium, das ist zuständig für auswärtige Kulturpolitik, das finanziert die ganze Veranstaltung, und das heißt die Reisen. Also wird dort von irgendwelchen Leuten irgendetwas bestimmt in Absprache mit den Verlegern. Und was die französischen Verleger nach Deutschland bringen wollen, ist nicht unbedingt das, was die deutschen Verleger hier erwarten.
Aber man muss der Liste schon zugutehalten, wenn man sie nicht nur kritisieren will, dass dahinter das Bemühen steht, die Buntheit der französischen Literatur zu zeigen. Wir haben sehr viele frankophone Autoren - das Wort frankophon war früher mal so ein bisschen abschätzig gemeint, das heißt, sie schreiben auf Französisch, sind aber keine Franzosen. Die behandelte man so ein bisschen von oben herab, also die Afrikaner, die Kanadier, die Belgier vielleicht auch noch. Das ist da, und dieses Bemühen muss man schon anerkennen, dass sie das zeigen wollen.
Aber es fehlen auf der anderen Seite noch eine ganze Reihe von Autoren, die wir in Deutschland haben in Übersetzungen, die aber meines Erachtens doch viel zu wenig wahrgenommen werden, auch in der Kritik. Man liest selten Kritiken von bestimmten Autoren bei deutschen Publikumsverlagen, die sind nicht unbedingt eingeladen, und das halte ich für etwas bedauerlich. Aber wie gesagt, das ist jetzt auch von mir ein sehr persönlicher Blick auf das, was ich für französische Literatur halte, offenbar sieht man das im Außenministerium nicht genauso wie ich.
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