Burkhard Müller-Ullrich: Leben in der digitalisierten Welt, das ist der Titel einer Reihe von Gesprächen, die wir in dieser Sendung - Hallo! Jetzt greifen Sie doch nicht gleich zur Fernbedienung oder zum Abschaltknopf, lassen Sie erst mal ausreden. Ich weiß ja, dass viele von dem Gerede über die digitalisierte Welt den Kanal allmählich voll haben, nicht zuletzt als "FAZ"-Leser, aber bitte schön - es ist ja was dran, dass sich jetzt vor unseren Augen durch die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation und des weltweiten Datenverkehrs ein gewaltiger kultureller Umbruch vollzieht, und wir können immer nur versuchen, uns häppchenweise zu vergegenwärtigen, was das im Einzelnen zur Folge hat.
Das ist also das Thema unserer sommerlichen Gesprächsreihe hier in "Kultur heute", und wir beginnen mit dem literarischen Bereich. Die Veränderungen auf diesem Gebiet betreffen ja gleichermaßen das Schreiben, das Verlegen, also das Publizieren, und das Verkaufen von Büchern. Und unser Gesprächspartner Jo Lendle ist für alles das kompetent, denn er ist nicht nur Chef des Hanser-Verlags, sondern auch selber Autor.
Herr Lendle, lassen Sie uns mit dem Verkaufen beginnen. Die Buchbranche hat einen neuen Beelzebub, der trägt den Namen Amazon. Die Zeitungen veröffentlichen dauernd Umfragen unter Kulturmenschen. Da weist jeder weit von sich, dass er bei Amazon kauft. Eigentlich müsste Amazon ja längst pleite sein, weil da angeblich niemand bestellt. Ich glaube, das ist so wie rechts wählen, das tut ja auch niemand - es ist dann bloß ein Rätsel, wo die Stimmen herkommen. Aber wenn man mal eine richtige, schöne, gemütliche Buchhandlung besucht und etwas über ein Buch wissen will, was tut der Buchhändler? Ich habe es selbst gesehen: Er schaut in seinem Computer bei Amazon nach, weil da die Informationen alle beisammen sind. Was sagen Sie dazu?
Jo Lendle: Ja, das liegt ja einfach daran, dass Amazon ein gut aufgebautes und professionell betriebenes Geschäft betreibt. Sowohl die Recherche ist natürlich enorm leicht dort als auch das Einkaufen sehr bequem. Das ist ja der Grund für den weltweiten Aufstieg, und dagegen ist ja auch nun wirklich überhaupt nichts zu sagen. In vielerlei Hinsicht beginnt man, sich Gedanken zu machen, was aus dieser monopolartigen Struktur entsteht, die Gedanken kann man sich ja machen, und stellt eben fest, dass der Konzern das jetzt ummünzt in vielerlei Dinge, die einem dann eben auch Sorgen bereiten.
Was man von Amazon lernen kann
Müller-Ullrich: Also, tatsächlich hat man ein bisschen das Gefühl, Kathrin Passig hat das mal gesagt, um nicht über das Reden zu müssen, was Amazon richtig macht, wird über das geredet, was das Unternehmen falsch macht.
Lendle: Nun ja, den Eindruck habe ich gar nicht so sehr. Ich rede schon auch gerne darüber, was Amazon richtig macht, weil man natürlich lernen kann. Und deswegen hat ja auch prinzipiell niemand was dagegen, dass es Amazon gibt. Wir vertreiben unsere Bücher auch bei Amazon, und ich finde auch die Dinge, die sie jetzt unternehmen, können eher eine Herausforderung sein, selber noch mal zu überlegen, was es für Möglichkeiten gibt durch die Digitalisierung, durch die Online-Ansprache an Leser. Aber wenn Amazon jetzt seine unbestrittene Marktmacht ausnutzt, um dieses Gefüge doch ganz erheblich ins Wanken zu bringen, und wenn Amazon dann eben auch Versprechungen macht, die doch mehr als heikel sind, dann kann man ja auch mal sagen: stopp! Wo kaufen wir hier eigentlich ein, oder warum kaufen wir ein, oder warum sollte man vielleicht auch mal woanders einkaufen.
Müller-Ullrich: Welche heiklen Bedingungen meinen Sie konkret?
Lendle: Das ist ein ganzes sehr reiches Portfolio, was sich da im Laufe der letzten Jahre so aufgefächert hat. Das fing natürlich mit diesen Schwierigkeiten an, dass man bei einem Milliardenumsatz eben keine Steuern zahlt. Da ändert sich jetzt gerade vieles. Die Arbeitsbedingungen sind was anderes. Natürlich könnte man da auch genauso mal bei anderen Logistikern hinschauen.
Lendle: Bei Amazon lautet die Devise, Verlage jagen wie Gazellen
Müller-Ullrich: Und überhaupt bei vielen kleinen Unternehmen, denn der Aufschrei "Oh, das ist ja kapitalistisch!" ist ein bisschen lustig in einem kapitalistischen System.
Lendle: Ja, absolut. Wenn jetzt die ausgesprochene Formulierung von Amazon, man wolle Verlage jagen wie Gazellen, dazu benutzt werden, die Verlage selber gleichzeitig durch die Marktmacht in immer irrwitzigere Konditionenkämpfe zu treiben und gleichzeitig selbst als Verleger aufzutreten, der mit den Verlagen um Autoren buhlt, da wird es für uns natürlich schon spannend.
Müller-Ullrich: Also, Geschwindigkeit ist ein unbestrittener Vorteil des elektronischen Publizierens, ein anderer beim E-Book ist natürlich einfach die praktische Seite, einfach die Tatsache, dass man eine ganze Bibliothek auf Reisen mitnehmen kann. Und wenn man auch früher mit Büchern zwar reisen konnte, aber dann hatte man doch nicht Lust, den dicken Roman, den man eigentlich vorhatte zu lesen, sondern vielleicht doch lieber ein Sachbuch, und das hatte man dann nicht dabei - das ist jetzt alles möglich. Alles ist auf dem E-Book eben drauf. Das heißt, es gibt auch ein neues Leseverhalten vielleicht, ein Hin- und Herspringen, eine Möglichkeit eben der jederzeitigen Verfügbarkeit.
Lendle: Ja, das ist in manchen Fällen, wo man durch die praktischen Aspekte von Gewicht und Unterwegssein bisher sich beschränken musste, ist man jetzt vollkommen schrankenfrei. Nun ist es so, dass man auch nicht in jedem Urlaub immer seine ganze Bibliothek liest, dass man sich auch manchmal darüber wundert, was man alles mit dabei hat, und vielleicht ein bisschen zu sehr ins Hin- und Herspringen kommt. Es ist aber etwas, was ich prinzipiell auch schätze. Ich lese ja nun viele Manuskripte und freue mich, wenn ich die alle dabei habe, und auf langen Zugfahrten dann die Dinge anschauen kann. Das ist also etwas, wo auch wir Verlage durchaus von profitieren und was wir schätzen. Man wird schauen, irgendwann im Rückblick, ob es das Lesen verändert, wenn man immerzu auf dem gleichen Gerät auch noch all die anderen Kommunikations- und Eindrucksmöglichkeiten mit sich führt. Ich selbst stelle bei mir fest, dass ich durchaus abgelenkter bin und zwischendurch dann eben doch noch mal schnell meine E-Mails checke. Das verändert das Lesen sicherlich. In welche Richtung es es verändert, das muss jeder vielleicht auch mit sich selbst ausmachen. Bisher war das Buch auch ein Inbild des konzentrierten Rückzugs und des Glücks, ganz mit sich selbst zu sein. Da verändert sich das Lesen und bekommt eine offenere und kommunikativere Möglichkeit immerhin als Note.
Müller-Ullrich: Also Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkung - das sind ja Stichwörter, die immer im Zusammenhang mit digital Equipment genannt werden - färbt das auch aufs Schreiben selbst ab?
Lendle: Natürlich gibt es Autoren, denen man anmerkt, dass da vieles noch mal rasch bei Wikipedia reingesogen worden ist. Es gibt aber auch die Autoren, die sagen, ich schreibe ganz bewusst in klösterlichen, vom Internet abgeschnittenen Zusammenhängen. Natürlich verändern solche Produktionsbedingungen auch die Produkte selbst. Natürlich hat schon die Schreibmaschine große Veränderungen gemacht, und der Personal Computer wieder, und jetzt die Angebundenheit an dieses große Flirren im Netz auch wieder.
Müller-Ullrich: Und es ist ja dann immer interessant, nachzudenken, was genau es bewirkt. Was für Spuren kann man da finden?
Lendle: Sicherlich ist evident, das Textverarbeitungsprogramme eher solche Copy- und Paste-Dinge ermöglichte. Das Schreiben wurde leichter, das Umbauen oder Die-Übersicht-behalten hat sich verändert, die Art der Überarbeitung auch. Und so ist es jetzt wieder. Man hat es viel leichter, Dinge einzubauen. Der ganze Prozess der Recherche verändert sich vollkommen. Das beeinflusst auch das Erzählen.
"Auch früher sind viele Bücher nicht zu Ende gelesen worden"
Müller-Ullrich: Und gleichzeitig, wenn das wir jetzt auf die Situation des Lesers mit anwenden - ist man vielleicht als Autor auch mehr gefordert, so diese Signale "Bleiben Sie dran" - weil man weiß ja, der andere, der kann schnell umschalten, der hat seine halbe Bibliothek mit. Und wenn ich jetzt nicht dauernd was Tolles liefere, dann wird er switchen.
Lendle: Ehrlich gesagt glaube ich, dass man früher auch schon viel geswitcht hat, es war bloß nicht feststellbar. Auch früher sind viele Bücher nicht zu Ende gelesen worden. Jetzt gibt es zwar diese komische und doch vielleicht perverse Situation, dass man das plötzlich in den E-Books nachvollziehen kann. Amazon weiß, bis zu welcher Seite Sie gelesen haben und kann dann gegebenenfalls - wird irgendwann anfangen, dieses Wissen den Autoren auch wieder zu verkaufen, damit sie genau an diesen Stellen dann einen Cliffhanger einbauen. Das mag irgendwann dazu führen, dass Schreiben ein bisschen mehr wie Straßenmusik machen ist, weil die Leute eigentlich einkaufen gehen wollen in der Fußgängerzone, muss der Straßenmusikant oder der Straßentheatermacher eben immerzu drücken und immerzu Sensationen bieten. Ich selbst freue mich ja beim Lesen durchaus auch, dass man mal Rhythmuswechsel haben kann. Die müssen dann ihrerseits eine Qualität auch in den ruhigeren oder in den deskriptiveren Phasen haben, dass man aus anderen Gründen dran bleibt.
Müller-Ullrich: Aber wenn ich recht verstanden habe, kommt also eine soziale Komponente in dieses Leser-Autor-Verhältnis mit hinein. Sie sprachen ja vorhin immer noch von dem Glück der Abgeschiedenheit, was das Buch klassischerweise vermittelt, und jetzt haben wir so eine Situation der Semi-Öffentlichkeit.
Lendle: Es gibt beides. Es gibt immer noch viele Leser, die sagen, ich lese, um in diesen Kokon reinzukommen, und dann gibt es aber gleichzeitig auch diejenigen, die ganz offen dann plötzlich eine Stelle im E-Book markieren und das sofort teilen und sagen, hier, ich habe gerade diesen Satz gelesen, und dadurch andere teilhaben lassen, auch natürlich dann für ein Buch werben oder auf ein Buch aufmerksam machen können. Und diese beiden Lesarten werden einfach miteinander koexistieren.
Müller-Ullrich: Es gibt ja auch schon Literatur, die im Netz entsteht, die nur dort oder hauptsächlich dort stattfindet. Ist das Spielerei, Spinnerei, oder ist das die Zukunft?
Lendle: Da wartet man schon lange drauf. Ich meine, die großen Hypertextvisionen der 90er-Jahre, aus denen nie irgendwas wurde, weil sie doch viel zu sehr technikgetrieben und viel zu wenig aus literarisch-narrativer, dramaturgischer Entschiedenheit oder Können gefärbt waren. Vielleicht tut sich da etwas Neues. Ich war immer skeptisch gegenüber dem Schreiben von Mehreren zum Beispiel. Da tut sich einfach dadurch, dass das jetzt leichter wird, das auch auf Entfernungen hin zu machen - ich kenne inzwischen einige Leute, die ganz gut und passabel miteinander gemeinsam Bücher schreiben. Das hätte ich mir nie vorstellen können. Und so verändern dann Bedingungen des Schreibens auch die Bücher selbst.
"Viele Blogger sind ernstzunehmende Kritiker"
Müller-Ullrich: Und es gibt ja sozusagen einen sich anschließenden Meta-Diskurs auf der Leserseite, auf der Rezipientenseite, vornehm gesagt. Die Blogger, sind die für Sie ernst zu nehmende Kritiker?
Lendle: Da gibt es viele, die für mich ernst zu nehmende Kritiker sind. Viele der guten Blogger schreiben nebenbei auch für Presse- oder andere Organe als Kritiker Rezessionen. Da gibt es welche, die sind fanatisch und werfen sich da mit einem Aufwand in Recherchen und machen sich Gedanken, den der normale Fest-freie, an irgendeinem Feuilleton gar nicht mehr leisten könnte, weil die Bedingungen sich dann natürlich auch verändert haben. Die Redaktionen sind weniger stark besetzt, der Platz für Kritiken in den Zeitungen wird weniger. Da wird vieles auch an Formen des Gesprächs über Literatur ausprobiert, was ich erst einmal durchaus interessant finde. Da sind auch manche Sachen dabei, wo ich denke, hm, kein riesiger Erkenntnisgewinn, aber manche Blogger lese ich selber auch wirklich aufmerksam und gerne aus Erkenntnisinteresse über neue Bücher.
Müller-Ullrich: Wie man mit dem Ganzen umgeht, ist natürlich auch eine biografische Frage. Sie sind kein Digital Native, aber sind Sie ein Early Bird?
Lendle: Ja, diese Wörter sind ja immer komisch. Also, sagen wir mal, mir ist klar, dass die Digitalisierung zu unserem Leben dazugehört und jeden Bereich unserer Welt sehr verändert hat.
Müller-Ullrich: Der Chef des Hanser-Verlags, Jo Lendle, gab Auskunft über seine Sicht auf die Veränderungen des Lebens in der digitalisierten Welt. Das war der erste Teil einer Reihe von Interviews zu diesem Thema. Morgen spreche ich mit dem Medienpsychologen Markus Appel.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.