Karin Fischer: Die Maschinen bestimmen unser Leben in der digitalen Welt. Das Smartphone ist zum überlebenswichtigen Begleiter geworden, das Armband zählt die Schritte, die wir täglich gehen, der Bordcomputer im Auto wird irgendwann von ganz alleine fahren, Amazon macht uns Vorschläge darüber, was wir zum Leben unbedingt noch brauchen, und das Wissen, die geistige Schmiere der sogenannten Kulturgesellschaft, ist ohnehin abgewandert ins Netz und zu Wikipedia. Das Phänomen umfassender Delegation an die Maschinen wurde vom Hirnforscher Manfred Spitzer vor einiger Zeit dramatisch zugespitzt zur These von der "digitalen Demenz". Computer, Handys, Navis oder Spielkonsolen machen blöd, dumm und einsam, und vor allem die Kinder seien gefährdete Opfer der digitalen Revolution. Das Buch wurde viel gescholten, deshalb heute die Frage an Jürgen Kaube, Leiter der "Geisteswissenschaften" bei der F.A.Z., Herr Kaube wo ungefähr stehen wir heute in dieser Diskussion?
Jürgen Kaube: Na, ich glaube, empirisch stehen wir da, dass man sagt, teils, teils, wie oft in diesen Diskussionen. Wir müssen ja bedenken: Die Entwicklung dieser digitalen Medien, das ist noch eine relativ junge Sache. Wir haben das jetzt so 20 Jahre, Sie haben die Smartphones angesprochen, die sind noch viel jünger, sodass die Forscher, die jetzt das versuchen von der zeitdiagnostischen These mal runterzuholen und zu überprüfen, stimmt das denn, dass das irgendwelche Einflüsse hat auf das Bewusstsein oder die Verhaltensstile, die stehen noch ganz am Anfang. Und kriegen dann so gemischte Ergebnisse, dass sie eben sagen: Es kann sein, dass Computerspiele brutalisieren, muss aber nicht sein. Könnte auch sein, dass die, die eh brutal drauf sind, Computerspiele präferieren.
Fischer: Was wir früher mit dem Kopf erledigen mussten, übernehmen heute die digitalen Helferlein. Das ist auf der einen Seite entlastend und hilfreich, und auf der anderen Seite birgt es eben genau die Gefahren, die Sie beschrieben haben: Spitzer meint, wenn die geistige Aktivität abnimmt und bei Kindern durch Bildschirmmedien die Denk- und Lernfähigkeit behindert wird, dann hat das auch schlimme soziale Folgen bis hin zu Aufmerksamkeitsdefiziten oder, wie Sie eben meinten, die Zunahme von Gewalt.
Diskussion seit Aufkommen der Taschenrechner
Kaube: Wir haben diese Debatte ja schon eine ganze Weile. Sie werden sich erinnern, als die Taschenrechner in den Schulen aufkamen, ging ja auch eine Diskussion los, schwächt das die Rechen- und die Denkfähigkeit? Und ich denke, auch da muss man sagen: Das kann sein, wenn Übermaß stattfindet, also wenn ausschließlich mit der Maschine operiert wird, wenn die Maschine alles ersetzen würde. Im Grunde genommen ist es die Frage, wie man sie – und wo – einsetzt. Die Wikipedia ist ein brillantes Instrument. Es kommt darauf an, herauszufinden, welche Artikel gut sind und welche weniger gut sind. Darüber muss diskutiert werden, genauso wie das Büchern im Grunde genommen auch der Fall war. Ich glaube, die Besonderheit der digitalen Medien ist erst einmal ihre leichte Eingängigkeit. Man macht es an, es ist da, in der Regel funktioniert es ja auch inzwischen, und es geht so gleitend über, es hat eine gewisse Unendlichkeit, man kann sich sehr, sehr viel länger vor so einem Bildschirm aufhalten, auch Kinder können das, als sie das mit anderen Spielzeugen eventuell tun würden. Und da ist im Grunde genommen, glaube ich, jetzt nicht eine Art Alarmismus gefragt, sondern einfach eine Dosierung erst einmal. Es ist generell schlecht, wenn ein Kind sechs Stunden lang am Stück dasselbe macht, egal, ob es jetzt ein Computerspiel ist oder irgendwas anderes. Die Verführung bei den Computern ist etwas größer.
Fischer: Es gibt ja ein anderes Thema, das ganz interessant ist, und da lautet die etwas zugespitzte These vielleicht: Kommunikation über soziale Netzwerke macht einsam. Das ist ein Widerspruch in sich, hat aber den Hintergrund, dass man behauptet: In dem Maße, wo wir digital mit der ganzen Welt vernetzt sein können – und Jugendliche sind das ja vor allem –, haben wir weniger Aufmerksamkeit für die Umgebung und für die realen Beziehungen in der analogen Welt. Um es aber jetzt mal ganz praktisch zu machen: Früher sind die Kinder nach Hause gekommen und hingen sofort wieder am Telefon, heute treffen sie sich über Facebook oder WhatsApp. Wir wissen inzwischen, dass der Wechsel der Medien noch nicht den Untergang des Abendlandes bedeutet.
Für das Internet besteht Hoffnung
Kaube: Sicherlich ist diese Klage eine, die immer angestimmt wird, wenn ein neues Medium aufkommt. Auch das Buch und das Romane-Lesen stand ja in dem Verdacht, die Leute zu isolieren und sie. Wenn man an Marshall McLuhan, den Medientheoretiker denkt, der dachte, von der Isolation durch Bücher befreit uns dann das Fernsehen als eine Art kollektives Medium, bei dem Inhalte von großen Mengen geteilt werden, und nicht, wie beim Bücherlesen, individualisierte Zugriffe erfolgen. Wenn man sich an solche Diskussionen erinnert, muss man natürlich ein bisschen lächeln. Das Fernsehen rettet vor dem Buch – wer rettet uns jetzt vor dem Internet? Das Internet kann so oder so genutzt werden. Das Internet hat ja die merkwürdige Eigenschaft, alle Medien noch einmal zu sein. Das Internet ist etwas zum Lesen, Filme anzuschauen, Musik zu hören, zu telefonieren, Fotografien zu machen. Und insofern hat es auch sehr, sehr viele Eigenschaften von allen anderen Medien. Und weil wir die einigermaßen überlebt haben kognitiv, besteht auch für das Internet Hoffnung. Ich denke, die Diskussion sollte eigentlich mehr auf so Kleinigkeiten achten, also sagen wir mal: Was heißt es für Spiele, wenn man sie immer wieder auf null zurücksetzen kann, wie das bei Computerspielen so ist? Wenn Sie mit dem Computer Schach spielen, ist das etwas anderes, als wenn Sie mit einem Gegenüber Schach spielen, denn der wird es nicht tolerieren, dass Sie nach vier Zügen einen falsch machen und dann sagen, na gut, dann lösche ich die Partie. Der Computerkritiker Clifford Stoll hat einmal gesagt: Was ist der Unterschied zwischen einem Schulbuch und einem Laptop? Und die Antwort gegeben: Gießen Sie mal Orangensaft drüber. Das sind solche Unterschiede, auf die wir aufmerksam werden müssen – die Kosten, die Art und Weise, wie es Zeit absorbiert, die Art und Weise, wie Negation zum Beispiel einstudiert werden kann. Was heißt Kritik in Bezug auf Wikipedia im Vergleich zu einem Buch? Ich glaube, die großflächigen Warnungen und Euphorien, die sind im Bereich Zeitdiagnostik und Reklame abzubuchen. Das wird auch irgendwann nachlassen, wenn wir uns stärker an die Dinge gewöhnt haben.
Fischer: Sie haben mal, Jürgen Kaube, die These aufgestellt, dass das Internet gerade für Kinder oder Jugendliche auch so was Wichtiges wie Orientierungswissen bereithält, aber auf eine ganz andere Art als nur übers Wissen, was dort zur Verfügung gestellt wird.
Internet konfrontiert frü mit der
Kaube: Na ja, es ist eben so, dass das Internet die Jugendlichen und die Kinder sehr, sehr früh mit einer Verdopplung der Welt sozusagen konfrontiert. Die anderen Medien waren doch irgendwie viel selektiver. Und das kann bedeuten, dass junge Leute sozusagen absorbiert werden dadurch, dass sie aufwendig lernen müssen, alle Missverständnisse zu vermeiden, die das Internet auch irgendwie nahelegt – wir kennen die ganzen Gefahren wie Pornografie, Gewalt und so weiter. Das alles muss ausprobiert werden. Auch wir müssen es selber ausprobieren. Ich meine, wir sind eine Generation, die nicht groß geworden ist mit dem Internet. Wir haben hineingefunden, und zwar durch üben, nicht durch Kurse. Und ansonsten gelten allgemein menschliche Regeln wie Übermaßverbot, nachdenken, ein Medium kann ein anderes nicht ersetzen, lesen und scrollen ist nicht genau dasselbe, und natürlich eine Debatte, die insbesondere natürlich bei Jugendlichen nicht im Vordergrund steht, aber eben ganz wichtig ist: Welche Art von Interessen stehen hinter dem Internet? Was heißt es eigentlich, wenn ich bei Facebook sozusagen meine Biografie abgebe? Das sind Dinge, die dann allerdings, wenn man so will, einer Art rechtlichen oder regulatorischen Erwägungen bedürfen. Das kann man sozusagen nicht von den Jugendlichen verlangen, dass sie das durchschauen oder richtig entscheiden. Jung sein heißt ja auch Fehler machen.
Fischer: Aber doch noch mal ein anderer Aspekt. Sie haben gesagt, zu viel Medienkonsum war auch schon im Fernsehzeitalter schlecht und wurde sozusagen gebannt, rausgehen und toben ist allemal gesünder als fünf Stunden vor irgendeinem Medium zu sitzen. Das führt uns aber zu dem anderen Aspekt, dass das Verhältnis der Kinder und Jugendlichen zur analogen Welt doch schon relativ gestört scheint, wenn Computerspiele gespielt werden, auch wenn sie, wie Sie sagen, viele Medien in einem versammeln, anstatt dass Drachen gebastelt werden. Also im Gerät ist alles aufregend und sehr, sehr bunt und man muss noch nicht mal rausgehen, draußen gibt es Gerüche und Wind. Das finden viele heute schon langweilig.
Kaube: Da wäre ja so eine Art Aufgabe der Schule auch. Also ich glaube, man muss nicht Extrakurse für Computer- oder Medienkompetenz einrichten, da lachen letztlich die Jugendlichen ja so ohnehin drüber, weil sie dann sofort natürlich besser Bescheid wissen als alle Erwachsenen. Die Schulen und auch die Familien sollten sich auf das konzentrieren, was sie können, und das ist zum Beispiel rausgehen oder handwerkliche Dinge tun oder Haptisches tun. Heute fallen ja auch die Probleme sofort auf, dass niemand mehr sein eigenes Auto reparieren kann, weil die Dinger eben mechanisch gar nichts mehr hergeben, sondern nur noch elektronisch. Man hat aber sehr viel gelernt durch handwerkliche Tätigkeiten und all diese Dinge. Da würde ich auch sagen, man muss da ein bisschen bremsen, gar nicht im Sinne von Moralpredigten, sondern indem man einfach begründet, was die analoge Welt, wenn man sie denn so nennen will, alles bereithält. Man muss da einfach auch werben dafür, und ich bin ganz sicher, dass lesen etwas ist, was sich nicht verlieren wird. Es geht ja gar nicht anders, denn auch Wikipedia muss von irgendjemandem gefüllt werden, und das können nur Leute, die vorher gelesen haben.
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