Stellen Sie sich ein funfhundertseitiges Buch vor, das nichts weiter enthält als Abbildungen von 694 Äpfeln und 289 Birnen - alle sorgfältig mit dem Pinsel gezeichnet. Unter jeder Frucht stehen ihre Zählnummer und ihr Name: Graue Herbstrenette, Roter Astrachan, Virginischer Rosenapfel, Strauwalds Goldparmäne, Fränkischer Eslinger, Henzens Gulderling, Holzgruber Sämling, Giffards Butterbirne, Doppelte Phillipsbirne, Wildling von Einsiedeln ...
Allein schon diese Aufzählung klingt wie eine Komposition. Ein langweiliges Buch? Mitnichten! Diese Apfelbibel ist so wenig langweilig wie die Natur. Bild für Bild wird der Betrachter hineingezogen in ein faszinierendes Universum. Korbinian Eigner, 1885 geboren, malte über viele Jahre hinweg dieses schmackhafte Inventarverzeichnis. Eigner war ein katholischer Pfarrer, doch mehr noch war er leidenschaftlicher Pomologe. Natürlich ähneln sich die Äpfel und Birnen, in ihren runden oder ovalen Formen und ihren gelblichen oder rötlichen Färbungen. Seite für Seite jedoch entdeckt man feine Unterschiede, unendliche Auffächerungen an Helligkeitsgraden, Abweichungen, Farbabstufungen und wird bezaubert von der Vielfalt der Natur, von ihrer schier grenzenlosen Lebendigkeit. Bis man schließlich wie im Rausch blättert. Dieses Buch offenbart die gewaltige Schöpferkraft, die alles entstehen ließ und die hinter allen Äpfel- und Birnensorten waltet. Es ist die ins Bild gebrachte Formel dessen, was Natur an sich bedeutet.
"Naturkunden" heißt die Reihe, die der Verlag Matthes & Seitz im vergangenen Jahr ins Leben rief und die sich auf eine zeitgemäß notwendige Weise mit dem beschäftigt, was die Lebensgrundlage des Menschen bildet. Sechzehn Bücher, darunter Aigners "Äpfel und Birnen" als großformatiger Atlas, sind inzwischen erschienen. Weitere vier kommen diesen Herbst hinzu. Judith Schalansky, die Herausgeberin, gestaltet die Reihe selbst und ihre Bücher sind allesamt eine verlegerische Besonderheit: ausgewählte Papiere, Fadenheftung, elegante Typografie, Lesebändchen, Leineneinbände, Frontispiz, Prägedruck - die hohe und kaum noch gepflegte Kunst der Buchmacherei. Es ist ein Genuss, die Bücher zu durchblättern, über ihre Seiten und Einbände zu streichen, sie mit den Händen und Augen zu kosten. Die Leidenschaft, mit der die einzelnen Autoren von der Natur berichten, ist den Büchern schon äußerlich anzusehen. Angefangen hat alles auf einer Buchmesse im fernen Osten - mit einer zufälligen Begegnung zwischen Verleger und Herausgeberin Judith Schalansky:
"Andreas Rötzer und ich haben uns kennengelernt in Taipeh, lustigerweise, und wir kamen ins Gespräch über Bücher. Was wir für Bücher machen wollen, was für Themen uns interessieren. Wir waren ganz schnell bei einer Kombination von Buchgestaltung und Naturbetrachtung. Die Wiederbelebung eines Genres, vor allem des Nature Writings. Das ist ein Genre, was es vor allem im angloamerikanischen Raum gibt. Im Deutschen zum Beispiel ist es heute vergessen."
"Unsere Welt, so hat man uns gesagt, wurde speziell für den Menschen erschaffen - eine Vermutung, die sich auf keinerlei Fakten stützt." Das schrieb in sein Notizbuch John Muir, einer der amerikanischen Altmeister des Nature Writing. Schafe seien zum Wolle-, Fleisch- und Milchproduzieren da, Wale sind Öldepots, Hanf gibt beste Takelage und Baumwolle ist ein bester Fall für Bekleidung. Doch habe sich der Mensch als Krone der Schöpfung je gefragt, warum ihn Mücken zerfressen, Mineralien vergiften, Löwen und Alligatoren zerreißen? Dem Menschen scheint es, so Muir, kaum "in den Sinn zu kommen, dass das Ziel der Natur bei der Erschaffung von Tieren und Pflanzen zuallererst das Glück jedes Einzelnen sein könnte und nicht die gesamte Schöpfung für das Glück des Einzelnen." Diese Bemerkungen kann man in John Muirs Buch "Die Berge Kaliforniens" - eines der ersten Bücher in der Reihe "Naturkunden" - nachlesen. Nature Writing, so Andreas Rötzer, heißt:
"Eine Sprache zu finden für die Beschreibung der Natur. Im Grunde ist es so, dass die Beschreibung der Natur, ob das jetzt Tiere sind, Landschaften, Steine, Insekten, egal was, das wir daraus etwas über den Menschen lernen. Und das ist, glaube ich, der innere Kern des Nature Writings."
Schalansky: "Ja es ist eben ein literarisches Schreiben über Naturphänomene eigentlich. Es ist irgendwie so passiert, habe ich das Gefühl, dass die Natur als Thema in das Sachbuch abgewandert ist, das ist etwas ganz Trauriges. Ich glaube, dass wir die Naturbetrachtung, die Naturauseinandersetzung auf gar keinen Fall den Naturwissenschaften, die ja so heißen, überlassen sollten. Dass wir auch mit literarischen Mitteln uns ihr zuwenden sollen. Gerade im Moment gibt es ja eine große, ja fast sehnsuchtsvolle Neubelebung der Naturbeziehung, was interessant aber natürlich auch ein bisschen problematisch ist."
Problematisch insofern, da heute das Thema Natur boomt und vor allem für den Markt immer interessanter wird. Die romantische Sehnsucht des Menschen nach einer einfachen, erholsamen und beruhigenden Welt in Zeiten von Stress, ökonomischem Druck und gesellschaftlich-politischen Destabilisierungen wird ausgenutzt und das Thema Natur gnadenlos ausgebeutet. Immer seltener gestehen wir der Natur ein eigenes, vom Menschen unabhängiges Existenzrecht zu.
"In den 80ern hieß es, rettet die Natur. Heute heißt es, die Natur muss uns retten. Die Natur ist ja absolut. Ob nun als Realität oder Idee, ist sie unerlässlich."
In dem Wort "Naturkunden" steckt auch das Wort erkunden, also ins Ungewisse gehen. Und die Natur spricht mit uns, sie gibt Kunde - vermittelt und übersetzt von Autoren wie dem Anthropologen Hugh Raffles, der in einer "Insektopädie" von A bis Z über die kleinen millionenfachen Bewohner der Erde und ihren merkwürdigen Eigenheiten berichtet. Er erzählt von diesen oft winzigen und "erstaunlich vollendeten" Wunder der Schöpfung in einem "fesselnden Streifzug durch Wissenschaft und Philosophie, Anthropologie und Zoologie, Wissenschaft und Populärkultur, auf dem nicht nur die Insekten, sondern auch die Menschen genau unter die Lupe genommen werden".
Oder von der Literaturwissenschaftlerin Isabel Kranz, die in "Sprechende Blumen" das ABC der Pflanzenkommunikation erklärt, ergänzt um handgefertigte detailgetreue Zeichnungen von Augentrost, Camelie, Kornblume oder Hyazinthe. In diesem Buch werden die Grenzen von Wissenschaft und Dichtung aufgehoben. Wie geschickt die Natur sich aus sich selbst heraus formt, wie ähnlich Gesetze scheinen und doch ganz anders wirken, das zeigt der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge in seinen Ende des 18. Jahrhunderts erstmals erschienenen und nun wiederaufgelegten Notizen und Farbbildern, die die bizarren blütenähnlichen Farbmuster zeigen, welche verschiedene chemische Stoffe beim Miteinander-Reagieren erzeugen. Es entstehen Miniaturwunder an Schönheit, von menschlicher Hand nicht zu übertreffen.
Rötzer: "In dem schönen Reihentitel, den Judith Schalansky gefunden hat - übrigens auf dieser Taipeh-Reise auch in den ersten fünf Minuten, ich habe das sehr bewundert - steckt natürlich die Kunde von der Natur, dann steckt aber auch das Schulfach Naturkunde darin, aber eben im Plural. Weil es eben nicht eine Sehweise auf die Natur ist, sondern es gibt viele Sehweisen, die Natur zu beschreiben. Und das leistet eben nicht die Naturwissenschaft, sondern das leistet die Natur."
Schalansky: "Und idealerweise ist es natürlich so, dass jedes Buch dieser Reihe eine Naturkunde selbst darstellt."
Die Autoren des Nature Writings schrieben nicht nur über die Natur, sondern sie haben sie auch durchwandert und immer wieder beobachtet. Nur aus genauer Kenntnis heraus entsteht notwendiger Respekt. Die besten Naturwissenschaftler sind deshalb wohl auch die Wanderer, Waldgänger, Trapper und Nomaden. Ein moderner Vertreter von ihnen ist der Franzose Silvain Tesson, der sich in seinem Buch "Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt" nach all seinen Reiseerfahrungen über mehrere Kontinente hinweg ernüchtert fragt, ob nicht der Humanismus nur ein "Reflex unserer Zunft ist, die unsere Art schützen und ihre Vorrechte verteidigen soll".
Durch wie viele Jahrhunderte hinweg der Mensch in die Natur stürmt und wie sich seine Sehweise auf die Natur dabei verändert - vom vorsichtigen Staunen zum triumphalen Erobern - das beschreibt der Philosoph Jürgen Goldstein in seinem bereits vergriffenen und gerade in Neuauflage erscheinenden Buch "Die Entdeckung der Natur". Hier kommen Columbus, Petrarca, Levi-Strauss oder Reinhold Messmer zu Wort: Entdecker, Dichter Wissenschaftler und Bergsteiger. "Naturkunden" ist ein Reiseführer durch die Natur, das heißt: durch unermessliche Gaben, betörende Schönheit und berauschende Vielfalt - noch immer oder wieder zu entdecken, zweckfrei und jedermann zugänglich. Und es ist ebenso ein Reiseführer durch Seele und Geist des Menschen. Denn:
Rötzer: "Die heile Natur oder die unberührte Natur, die gibt es nicht mehr. Das muss man als Faktum anerkennen und von da aus dann Natur beschreiben."
Schalansky: "Der Mensch als Natur- und Kulturwesen gleichermaßen ist natürlich auch das Dilemma des Menschen und die Chance, womit wir uns hier die ganze Zeit auseinandersetzen. Was ist Freiheit, was ist vorbestimmt, das sind die großen Menschheitsthemen, die sich in dieser Naturauseinandersetzung zeigen. Deswegen auch jedes Buch. Das ist uns eben auch bewusst. Das ist auch die Abgrenzung zu der scheinbar objektiven Auseinandersetzung, dass uns bewusst ist, das wir vor allem natürlich dabei von uns erzählen.
'Naturkunden'. Da steckt natürlich die Bibliothek drin, und die ist grundsätzlich unendlich und vielgestaltig. Es geht sozusagen immer darum, wieder nachzudenken, einen Schritt weiterzukommen. Und wir hoffen, dass jedes Buch einen Beitrag dafür leistet."