Der Kölner Dom an einem Abend im Frühling. Kein Lichtstrahl dringt von draußen mehr in das große Kirchenschiff. Es herrscht eine feierliche Stille, gebrochen nur von Chorgesang oder der Orgel – und von einigen Männern an einem Radiomikrofon. Sie haben sich vorgenommen, die Atmosphäre dieser abendlichen Kathedrale in die Welt zu transportieren.
Eine Sendung mit vollem Risiko
Dann ist die Stimme von Fritz Worms zu hören: "In diesem Augenblicke gibt unser Führer, Bruder Josaphas, ein Zeichen mit der Fackel, das denen gilt, die drüben am Hochaltar stehen."
Fritz Worm hat dieses Projekt erdacht: eine über einstündige Sendung unter dem Titel "Mit dem Mikrophon durch den Kölner Dom". Eine Collage aus Musik, Reportageblöcken, Geräuschen und Stille. Die Orgel erklingt, Menschen bewegen sich durch den Raum, Chöre setzen ein an unterschiedlichen Orten. Eine Improvisation, über den Sender direkt übertragen, mit vollem Risiko, in einem schwierigen Raum.
Jeder Ton hallt nach
Jörg Wyrschowy, Archivar im Detuschen Rundfunkarchiv in Frankfurt Main, hat sich intensiv mit der Dom-Reportage befasst:
"Ein sehr, sehr weiter Nachhall, und das Tragen des Tones des Sprechens, aber auch des Singens, mit viel Raum und wenig tragender Substanz. Das war ja gerade der Sinn des Konzepts von Fritz Worm. Er wollte den Geist der gotischen Kathedrale akustisch einfangen. Darum hat man es auch technisch so versucht darzustellen, wie der Raum selber klingt."
Und das alles – strenggenommen – als Quereinsteiger. Fritz Worm war eigentlich Buchhändler. Er stammte aus einer jüdisch-assimilierten Familie in Oberschlesien, eröffnete vor dem Ersten Weltkrieg eine Buchhandlung mitten in Düsseldorf.
Worms schätzt die Hochkultur
Kultur war Worms Leidenschaft – und zwar der traditionelle Kanon der deutschen Hochkultur: Klassik, Romantik, Idealismus. Und so ging es auch in Worms Dom-Reportrage um kulturelle Meilensteine. Etwa um das fast tausend Jahre alte Gero-Kreuz. Fritz Worms Gesprächspartnern stieß es sauer auf, dass Restauratoren dieses Gero-Kreuz gerade durch voreilige Maßnahmen verdorben hatten. Worm antwortete ihnen:
"Aber dennoch wirkt sich die ursprüngliche Form darin so stark aus, daß man diese Fehler eigentlich vergißt. Wie schmerzenstief, wie wildverzerrt klafft dort gleich einer Wunde der Mund! Wir haben..." Ein Priester unterbricht: "Aber darf ich bitten, zu schweigen? Die Orgel setzt ein."
Vom Radiovortrag zum Klangexperiment
Schon 1927 hatte Worm im Radio Vorträge gehalten, über Bildende Kunst, in der typischen, sehr förmlichen Machart des Weimarer Rundfunks. Um so überraschender kam 1930 das Experiment im Kölner Dom. Aber das unternahm Fritz Worm mitten in einer turbulenten Zeit, erklärt der heutige WDR-Redakteur für Neue Musik, Frank Hilberg:
"In den Jahren um 1930 ist eine unglaubliche Vielfalt an ästhetischen Mitteln und Möglichkeiten und Nachdenken entstanden. Das ist etwas, das man heute nicht mehr so auf dem Plan hat. Aber es gibt sofort eine große Debatte: Was ist Radio?"
Worms muss vor NS-Herrschaft fliehen
In diese Debatte aber konnte sich Fritz Worm nicht lange einschalten. Denn er hatte Gegner. Die saßen etwa beim "Westdeutschen Beobachter", dem regionalen Presseorgan der NSDAP. Dort hieß es am 21. Januar 1932:
"Wie tückisch sich der Jude dem deutschen Wesen nähert, um es mit jüdischen Ideen zu infizieren, beweist anschaulich der Jude Fritz Worm, der unheimliche Ohrenbläser im Westdeutschen Rundfunk."
Worm war unter den ersten, die 1933 aus den Funkhäusern geworfen wurden. Immerhin gelang es ihm, 1935 aus Deutschland zu fliehen – nach Brasilien. Aber dort teilte er das Los so vieler Emigranten, die in der Fremde keine Arbeit fanden. Fünf Jahre lebte er in Rio de Janeiro, in immer tieferer Armut und Verbitterung:
"Je älter man wird, desto mehr sieht man ein, wie sinnlos, ja wie schädlich der europäische Begriff der sogenannten ‚Bildung‘ gewesen ist. Er hat im Grunde genau das Gegenteil von dem bewirkt, was er bewirken sollte; er hat alberne und charakterlose Quatsch-Hänse erzeugt, die, wenn es darauf ankommt, versagen."
Der Pionier der Akustischen Kunst kehrte nie zum deutschen Radio zurück. Nicht einmal ein Jahr nach Abfassen dieses Briefes starb Fritz Worm in Rio im Mai 1940.