Michael Köhler: Der Sarotti-Mohr, den kennen ja viele. Der entstand 1918, also vor 100 Jahren, als Markenfigur. Auf Verpackungen tauchte der auf in Gestalt von Mohren mit Tablett. Exotik, Hinterwäldlerisches, aber auch Wildes, Lüsternes verbanden sich in einem ehemals kostbaren Konsumprodukt: Schokolade, also auch als Erinnerung an Kolonialgeschichte im Kaiserreich durchaus. In unserer Reihe "Späte Reue: Deutschland und die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte", da soll es heute unter anderem auch um das Frauenbild des Kolonialismus gehen. Marianne Bechhaus-Gerst, sie ist Professorin für Afrikanistik an der Universität in Köln, hat unter anderem das Buch "Frauen in deutschen Kolonien" herausgegeben, im Herbst erscheint ein neuer Titel: "Deutschland postkolonial". Es ist ja nicht so, als würde die Zeit des deutschen Kolonialismus nicht erinnert werden. Es gibt Initiativen, gab sie, wie das Tribunal zum Gedenken an 125 Jahre Berliner Afrikakonferenz, das war 2009. Bei der Erinnerungskultur sind wir ein bisschen auf das 20. Jahrhundert mit seinen Gewaltverbrechen fixiert. Marianne Bechhaus-Gerst, fällt 1884 bis 1918 unter den Tisch?
Marianne Bechhaus-Gerst: Die Zeit ist lange unter den Tisch gefallen, da wir, wie Sie schon andeuteten, nach 1945 die Aufarbeitung der NS-Zeit vor uns hatten – und das war ja auch ein sehr schmerzhafter und langwieriger Prozess –, ist so ein wenig diese koloniale Vergangenheit tatsächlich…
Köhler: ...die ja auch nicht so schnell in Gang kam. Daran wollen wir uns erinnern.
Bechhaus-Gerst: Genau. Das dauerte ja nun auch letztendlich bis weit in die 60er Jahre, bis das überhaupt richtig in Gang kam. Über diese Aufarbeitung ist eigentlich die koloniale Vergangenheit vergessen, verdrängt worden, in den Hintergrund getreten. Das ist eigentlich erst in jüngster Zeit, dass hier, vor allen Dingen durch den unermüdlichen Einsatz, würde ich sagen, von Nichtregierungsorganisationen, immer mehr Druck ausgeübt wurde, sich auch mit dieser Epoche auseinanderzusetzen, und ein ganz wichtiges Thema ja bei dieser Auseinandersetzung ist der Völkermord an den Herero 1904, der auch lange nicht Thema, vor allen Dingen in der Politik war, und der jetzt auch erst in jüngster Zeit zum Thema jetzt auch der Politik, auch der Regierung, überhaupt erst wird.
Köhler: Frau Bechhaus-Gerst, gab es denn oder wo gibt es heute noch erkennbare Relikte aus der Kolonialzeit, die uns vielleicht gar nicht so bewusst sind und ins Auge springen?
Bechhaus-Gerst: Es gibt beispielsweise in vielen Städten Straßennamen, die an koloniale Persönlichkeiten oder koloniale Ereignisse erinnern. Wir sind hier in Köln, hier haben wir beispielsweise zwei Stadtteile, in denen es solche kolonialen Straßennamen noch gibt, die zum Teil tatsächlich an Persönlichkeiten erinnern, die wir als Massenmörder bezeichnen müssen, nachdem, was sie halt in den Kolonien verbrochen haben.
Köhler: Die da lauten?
Bechhaus-Gerst: Beispielsweise die Wissmannstraße hier in Köln-Ehrenfeld oder die Gravenreuthstraße auch in Köln-Ehrenfeld. Das sind beides koloniale Protagonisten gewesen, die beispielsweise Politik der verbrannten Erde in die Kolonien gebracht haben, die Widerstand der einheimischen Bevölkerung radikal bekämpft haben und so weiter.
Schwarze Frau als Projektionsfläche für sexuelle Fantasien
Köhler: Wir haben Sie eingeladen, unter anderem auch, weil Sie ein Buch herausgegeben haben über Frauen in den deutschen Kolonien. Der "gute Wilde", der war sozusagen ein Beispiel für die Unzivilisiertheit zugleich und auch das Animalische, und das schlägt sich ganz besonders in unserem Bild auch vom schwarzen Menschen oder auch der schwarzen Frauen nieder. Wir kennen das in populären Darstellungen, wir kennen es aus der Malerei des Expressionismus, der klassischen Moderne, wo man immer sowas hat, barbusige, nackte, ozeanische Frauen in der Malerei, aber welches Bild bietet sich Ihnen da?
Bechhaus-Gerst: Sie wurde vor allen Dingen sehr stark sexualisiert. Die Kolonialzeit war ja hier in Europa eine Epoche eher der bedeckten Prüderie, wo man über alles, was mit Körperlichkeit, mit Sexualität zu tun hatte, nicht sprechen durfte, es war weitgehend tabuisiert.
Köhler: Wir sprechen über die Zeit an der Wende zum 20. Jahrhundert.
Bechhaus-Gerst: Genau, um 1900, diese Zeit. Da war das eben eine doch sehr stark tabuisierte, gerade auch in bürgerlichen Kreisen, und da hatte man nun Frauen, und natürlich auch Männer, die zum Teil wenig bekleidet waren, die keine europäische Kleidung trugen, und die man so zum Teil auch mit einem vorgeschobenen wissenschaftlichen oder völkerkundlichen Interesse ungeniert betrachten konnte und sexuelle Fantasien, die man selbst nicht ausleben konnte, auf diese Menschen projizieren konnte. So war die schwarze Frau sehr stark eben Symbol von übermäßiger Sexualität, als Verführerin wurde sie dargestellt, vor allen Dingen auch als Verführerin des weißen Mannes, der in die Kolonien ging. Das wurde als große Bedrohung angesehen. Da es nur sehr wenige weiße Frauen in den Kolonien gab, befürchtete man, dass eben der weiße Mann sozusagen den Verführungen der afrikanischen Frau erliegen würde.
Köhler: Ihr Buch hat einen schönen doppelten Boden: Es heißt "Frauen in deutschen Kolonien" und nicht deutsche Frauen in Kolonien. Das heißt, welche Rolle haben deutsche Frauen da eingenommen?
Bechhaus-Gerst: Die deutschen Frauen hatten zum einen eine, man muss es fast sagen: biologische Rolle, das heißt, sie sollten die Reinhaltung der sogenannten Rasse der Weißen, der deutschen Rasse garantieren. Man befürchtete eben, dass die weißen deutschen Männer beispielsweise eben Kinder mit afrikanischen Frauen zeugen würden und dass so die deutsche "Rasse" – möchte ich in Anführungszeichen verstanden wissen – für immer verdorben sein würde oder in die Zukunft hinein verdorben sein würde. Das heißt, die weiße Frau hatte die Aufgabe, die sogenannte Reinhaltung der Rasse zu garantieren, indem sie eben halt weiße Kinder zur Welt brachte. Sie hatte aber auch, neben diesem fast schon Biologischen, die Aufgabe, das Deutschtum in die überseeischen Gebiete zu tragen, also angefangen bei der weißen Tischdecke, über das Tafelsilber, über die deutsche Küche, also alles, was man mit Deutschtum verband zu der Zeit, sollte die weiße Frau garantieren, also sie war der Garant für das Deutschtum. Interessanterweise traute man den Männern das absolut nicht zu, dieses Deutschtum aufrechtzuerhalten, sondern dachte… oder war der Überzeugung, dass die Männer letztendlich also den Tropen gewissermaßen verfallen würden und damit also das Deutschtum in den überseeischen Gebieten zum Niedergang verdammt war.
Koloniales Menschenbild bis heute präsent
Köhler: So ein gewisser Bürgerlichkeitsexport verbunden mit den rassehygienischen Vorstellungen des späten 19. Jahrhunderts.
Bechhaus-Gerst: Genau, das kam da zusammen. Deswegen war man auch bemüht, beispielsweise Frauen, weiße Frauen anzuwerben und gewisse Anreize zu schaffen, damit eben halt diese geringe, als Mangel empfundene Anzahl an weißen Frauen in den Kolonien zum Besseren gewissermaßen gewandelt würde.
Köhler: Gibt es aus Ihrer Perspektive sowas wie ein Bewusstsein über diese Geschichte in den Kolonien oder beschränkt sich das, weil unser Diskurs ist ja beschränkt sehr stark auf Rückgabeverpflichtung, auf die Diskussion ums Humboldt-Forum, auf die ethnologischen Sammlungen, das heißt, sehr grob gesagt, auf eine Diskussion um Rückgabe von Schädeln und Relikten und solchen Dingen, und dieser großkulturelle Zusammenhang, den beleuchten wir in dieser Reihe ja mit Absicht ein bisschen stärker.
Bechhaus-Gerst: Also die Kolonialzeit ist in den ehemaligen Kolonien noch sehr präsent, denn beispielsweise für die Herero oder auch für die Menschen in Südtansania, die 1905 den Maji-Maji-Krieg gegen das Deutsche Reich geführt haben, sind die Folgen zum einen in ihrer Erinnerung noch sehr stark eigentlich präsent, aber auch in Realitäten, wie zum Beispiel, dass in Namibia immer noch sehr viel Land den Nachkommen der Deutschen dort gehört und nicht den Herero.
Köhler: Das heißt, es gibt eine postkoloniale Geschichte, die wirkungsvoll ist.
Bechhaus-Gerst: Ganz genau. Also da ist es wirklich eher so, dass hier bei uns so ein bisschen der Diskurs zumindest war und vielerorts aber auch noch ist, das ist alles so lange her und irrelevant. Für die Menschen vor Ort ist das noch sehr, sehr präsent.
Köhler: Haben Sie den Eindruck, dass da jetzt ein bisschen Bewegung reinkommt durch die unterschiedlichen Diskussionen, also mal von Berlin ausgehend im Humboldt Forum, aber vielleicht auch ein kleines bisschen durch unsere Reihe?
Bechhaus-Gerst: Also ich denke schon, dass was in Bewegung gekommen ist und hoffe, dass das auch nicht nur so ein kurzes Strohfeuer ist, was jetzt beispielsweise durch die Diskussion um das Humboldt Forum entfacht worden ist, sondern dass hier auf Dauer tatsächlich auch in den Köpfen etwas passiert, dass vor allen Dingen auch, auch hier bei uns, ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass vieles, was mit dem Kolonialismus im Zusammenhang steht, in unseren Köpfen auch fortwirkt. Zum einen natürlich, dass wir unsere Moderne entwickeln konnten durch die Kolonien, durch die Produkte aus den Kolonien - ich sage mal ein Beispiel: Autoindustrie und Gummireifen sind ja nun sehr stark auch symbolhaft für die Moderne -, und vieles andere ist auf dem Rücken der Kolonien eigentlich erst hier möglich gewesen. Zum anderen, denke ich mal, ist unser Umgang mit dem tatsächlichen oder vermeintlich Fremden - wir sehen das in der ganzen Diskussion jetzt hier um Migration und Geflüchtete - noch sehr stark geprägt, so denke ich, durch koloniale Bilder, die unreflektiert in den Köpfen vieler sind, beispielsweise, dass Menschen afrikanischer Herkunft weniger intelligent sind oder faul. Das ist auch so ein klassischer Topos, der aus der Kolonialzeit stammt. Solche Bilder, denke ich mal, sind, weil eben diese koloniale Vergangenheit nie wirklich kritisch hinterfragt wurde, immer noch in den Köpfen vieler da.
Köhler: ...sagt Marianne Bechhaus-Gerst, Professorin für Afrikanistik an der Universität in Köln, in unserer Reihe "Späte Reue: Deutschland und die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte".
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