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Reihe "Unsere Wurzeln, unser Erbe"
Bedrohliche Erinnerungen durch Rosenkohl, schöne bei Bonbons

Das Geschmacksgedächtnis: Viele glauben nicht daran, doch es gibt es. Nicht nur in der Literatur, wie bei Grass oder Proust, sondern auch in unserem alltäglichen Leben. Jeder Geschmack führe uns in eine Szene des Erlebens, erklärte Soziologe Tilman Allert im Dlf.

Tilman Allert im Gespräch mit Birgid Becker |
    Mädchen mit einer Handvoll Bonbons
    Für den Soziologen Tilman Allert ist das Himbeer-Bonbon "eine Ikone früher Geschmacksempfindungen". (imago stock&people)
    Birgid Becker: In unserer Weihnachtsreihe zu unseren Wurzeln und unserem Erbe geht es an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag nach zweimal Festessen hinter uns und einmal Festessen vor uns um den Geschmack und das, was sich über den Geschmack in unser Gedächtnis transportiert. Es geht um das, was man Geschmacksgedächtnis nennen könnte, und wenn nun der Einwand kommt, gibt es nicht, Geschmacksgedächtnis, dann tritt jetzt der Soziologe Tilman Allert den Gegenbeweis an. Tilman Allert habe ich vor der Sendung auf die Himbeer-Bonbons aus seiner Kindheit angesprochen. An die erinnert er sich noch.
    Tilman Allert: Ja, die Himbeer-Bonbons sind wie alles das, was wir vom Geschmack aus der frühen Zeit erinnern, mit Szenen verbunden. Dazu gehört eigentlich immer eine Szene und der Geschmack ist dann gleichsam eine Abkürzung für eine erlebte Szene. Nun, was war die erlebte Szene bei einem Himbeer-Bonbon, das man in den frühen 50er-Jahren als kleiner Bub genossen hat? – Das war erlaubte Regression, so kann man das etwas vornehm nennen. Das war eine Regression, eine Art Versüßung des Lebens in einer Zeit, in der das überhaupt nicht selbstverständlich war. Diese kleinen Schokoladenstäbchen, die es heutzutage an jeder Tankstelle zu kaufen gibt, das gab es alles gar nicht zu der Zeit. Und das Himbeer-Bonbon ist sozusagen eine Ikone früher Geschmacksempfindungen und was da geschieht ist eigentlich unglaublich faszinierend. Das Bonbon übernimmt den Zugang zur Erinnerung. Das ist das Schöne und das macht eigentlich in vielerlei Hinsicht beinahe jeder Geschmack. Jeder Geschmack führt uns in eine Szene des Erlebens.
    Von Geschmack getragener Trost
    Becker: Wenn wir jetzt unsere bildungsbürgerliche Seite raushängen lassen – Geschmackserinnerung oder der Zugang zur Erinnerung, das ist ja auch in der Literatur eine feste Größe. Ahoj-Brause zum Beispiel bei Günter Grass.
    Allert: Ja, das ist die berühmte Brause, die da so aus einem wunderbaren jungen Mädchen-Bauchnabel geschlürft wird von dem kleinen Oskar. Da müssen wir eigentlich gar nicht das Bildungsbürgerliche bemühen. Das ist etwas ganz Elementares. Man kann also nicht sagen, das verschließt sich Menschen aus anderen Milieus. Pustekuchen! – Jeder hat die Möglichkeit, über den Geschmack sich an schöne Zeiten zu erinnern, und die schönen Zeiten haben ja interessanterweise immer etwas mit einer erlaubten Regression zu tun und die erlaubte Regression, zugelassene Regression, es ist ein umfassender Trost, der von diesem Geschmack dann getragen wird und in dem man sich wohl fühlt. Das hat, wenn man das so sieht, eigentlich überhaupt nichts mit Belesenheit oder dergleichen zu tun. Man muss Grass nicht gelesen haben, um die Sensation des Brausepulvers zu spüren.
    Der Soziologe Tilman Allert bei der Frankfurter Buchmesse 2015.
    Der Soziologe Tilman Allert bei der Frankfurter Buchmesse 2015. (Deutschlandradio / BILDSCHÖN GmbH / D. Prokofiev)
    Becker: Die Regression, die müssten Sie mir noch mal erklären. Angesichts dieser – Sie haben das selber gesagt – sensationell explodierenden Ahoj-Brause, wo ist die Regression?
    Allert: Die Regression ist die Regression auf eine Empfindung, die diesen Geschmackserlebnissen unterlegt ist. Es ist ja nie so, dass es gleichsam nur der Geschmack ist, gleichsam eine sensorische Ansprache, sondern damit sind immer Erlebnisse verbunden. Und nun ja, wenn wir bei der Ahoj-Brause von Günter Grass in der Blechtrommel bleiben, dann ist das ja eingebettet in eine unglaublich kitzelnde erotische Atmosphäre. Das wird getragen. Dieser Geschmack trägt gleichsam diese Erinnerung.
    Gütekriterien der geschmacklichen Sensation
    Becker: Und wenn man sich so überlegt, dann schaffen die Geschmackserinnerungen ja nicht nur Zugang zu Erinnerungen, sondern sie sind auch ein ganz starkes Bindeglied, nicht wahr. Die Ahoj-Brause des Fiktiven Oskar Matzerath, die haben Sie wahrscheinlich genauso in Ihrem Geschmacksgedächtnis wie ich die in meinem Geschmacksgedächtnis habe, und zugleich haben ähnliche Erinnerungen sehr viele Menschen. Ein stärkeres Bindeglied zwischen den verschiedenen Erinnerungen kann es ja kaum geben.
    Allert: Ja. Das ist insofern etwas schräg, wenn die Menschen immer sagen, über Geschmack lässt sich nicht streiten. Das würde ich ganz anders sehen. In dem Maße, in dem wir es mit ganz elementaren Vorgängen zu tun haben, also wenn man so will über den Geschmack induzierte Erinnerungsspuren, in dem Maße können wir auch darüber sprechen, um das mal etwas harmloser zu sagen. Es muss ja nicht immer ein Streit sein. Aber man kann darüber sprechen und man kann auch gleichsam Gütekriterien der geschmacklichen Sensation geradezu bestimmen. Ich muss nicht daran erinnern, dass es ganze Berufsgruppen gibt – die nennen wir von mir aus Restaurantprüfer -, die darauf spezialisiert sind, nicht einfach irgendwas zu sich zu nehmen, sondern die müssen die Geschmackskombinationen, die interessanten Mixturen oder, was das Kauen betrifft, die interessanten Sensationen, die entstehen im Mundraum, darüber müssen die nachdenken und das müssen die bestimmen. Wenn es dazu geradezu eine Berufsgruppe gibt, ja Du liebe Güte, dann soll man sich nicht wundern, dass auch Menschen normaler Ausstattung in der Lage sind, über den Geschmack zu streiten oder, wie wir gerade gesagt haben, über den Geschmack zu sprechen.
    Der arme Rosenkohl kann nichts dafür
    Becker: Unter unseren Erinnerungsvarianten ist aber diese Geschmackserinnerung eine sehr unintellektuelle, oder? Und dann vielleicht auch ein bisschen eine eklige – Mundhöhle, Zunge, Speichel, diese ganze Mundsache. Ist die ein bisschen eklig oder eben nicht?
    Allert: Ja, das kommt dann natürlich auf die Geschmacksvariante an, die sich ja, wie wir gesagt haben, mit einer Szene verbindet, mit einem Erleben verbindet. Bei mir ist der Rosenkohl, der ist einfach so assoziiert mit unangenehmen Situationen, dass dieser arme Rosenkohl - dazu kann er ja nichts -, der ist in meiner Wahrnehmung einfach eine Zumutung. Ich würde es anders sehen. Der Mundraum ist im Grunde ein Abenteuerspielplatz. So muss man sich das vorstellen. Und da kommt dann irgendwas rein, wird da von oben nach unten gewirbelt, wird geschlürft oder auf die linke Seite und die rechte Seite geschoben. Ab und zu sind die Zähne auch dabei und leisten irgendeine Assistenz. Und was da geschieht ist eigentlich, man könnte sagen, eine Spielerei, und diese Spielerei, die ist ja in diesem hoch komplexen, sensorisch komplexen Mundraum verbunden mit dem Auslösen, wie wir gesagt haben, von wunderbaren oder – Stichwort Rosenkohl – mit bedrohlichen Erinnerungen oder Erinnerungen, die nicht so besonders schön sind.
    Geschmacksempfindungen sind historisch gebunden
    Becker: Es gibt Geschmackserinnerungen, die vergehen aber wohl tatsächlich im Lauf der Generationen. Wer zugibt wie Sie in Ihrem Buch, der Mund ist aufgegangen vom Geschmack der Kindheit, also der zugibt, dass er sich noch an den Geschmack von Lebertran erinnert, der kann, ich sage es unhöflich, keine 40 mehr sein. Da hört dann eine Geschmackserinnerung irgendwann auf zu sein, oder?
    Allert: Ja. Das ist ja das Interessante am Geschmack. Erst mal denken viele Menschen, darüber kann man nicht streiten. Dann denken viele Menschen, das ist etwas ganz Individuelles. Ja und nein, haben wir jetzt schon gesagt. Bestimmte Geschmäcker sind historisch gebunden. Wir haben es also mit einem ganz elementaren Vorgang zu tun, der sich im Mundraum und mit seinen unglaublich raffinierten Sensorien abspielt. Und jetzt kommt der zweite Gedanke: Diese Geschmacksempfindungen sind historisch gebunden. Und wie Sie sehr schön gesagt haben: Irgendwann fallen die der Vergessenheit anheim und es soll einen dann gar nicht wundern, das ist aber auch gar nicht dramatisch, dass es dann manche Leute gibt, die bei Brausepulver einfach nur mit den Schultern zucken und sagen, sagt mir nichts. Das ist in der Tat auch typisch für unsere Geschmacksempfindungen. Sie haben eine eigene Geschichte, ganz eigenartig. Man denkt, das geht gar nicht. Geschichte hat immer nur etwas Symbolisches. Aber der Geschmack selber ist auch eine geschichtliche Größe, worüber ich einiges in diesem kleinen Büchlein geschrieben habe.
    Becker: Geschmackserinnerungen können auch sterben, nicht wahr, wenn es den besonderen Kuchen oder Nachtisch oder meinethalben Nudelsalat aus der Kindheit nicht mehr gibt, weil es die Person nicht mehr gibt, die als einzige diesen Kuchen oder Nachtisch genauso machen konnte, wie man ihn in Erinnerung hatte. Wenn es die nicht mehr gibt, dann stirbt auch die Geschmackserinnerung mit ihr. Ist das so?
    Allert: Ja, es bleibt die Sehnsucht. Sterben – vorsichtig! Es bleibt die Sehnsucht. Wie viele Menschen – das geht uns allen ja so und das hat mit Gebildetheit eigentlich gar nichts zu tun -, wie viele Menschen erinnern sich nicht noch genau an die Art und Weise, wie die Oma die Soße zubereitet hat oder die Bratkartoffeln gemacht hat. Da taucht eine ganz komplexe Spur von Erinnerungen auf. Es gibt ja diesen berühmten Spruch, das einzige Paradies, das uns verblieben ist, ist die Erinnerung, und das könnte man hier jetzt auch einsetzen. Das ist die Rettung vor dem Tod, ist die Erinnerung.
    Der Orient kam über Datteln und Feigen
    Becker: Gibt es eine Weihnachts-Geschmackserinnerung für Sie?
    Allert: Weihnachten war für meine Kindheit immer paradiesisch insofern, als es dort Datteln und Feigen gab und gelegentlich sogar Pistazien. Du liebe Güte! Ich gehöre nun schon, wie man längst gemerkt hat, zu den Älteren. Und dass es so etwas überhaupt im Jahreszyklus gab, das war eine Sensation. Die Vielfalt der Nüsse gehörte dazu und, wenn man so will, der Orient, den man vielleicht über Märchen, Kalif Storch und dergleichen, irgendwie kannte. Dieser Orient, der kam nun plötzlich über Datteln und Feigen. Man kannte vielleicht Äpfel und Birnen und vielleicht auch noch eine Apfelsine, wie man damals immer sagte, aber Datteln und Feigen, das war schließlich die Einladung, in einen anderen Kontinent zu gehen. So schön war das.
    Becker: Gelingt Ihnen das oder tun Sie das schon mal, dass Sie ganz bewusst sich, wenn Sie eine Dattel oder eine Feige essen, die Bilder der Weihnachtsfeste von damals wieder in Erinnerung holen, wieder lebendig werden lassen?
    Allert: Ja. – Ja, ja, das kann ich nur bestätigen. Wir bewegen uns ja in der deutschen Kultur. Alle Welt kennt den sogenannten bunten Teller. Ich nehme an, den gibt es heute auch noch. Ja was ist der bunte Teller? – Der ist eine einzige Einladung, sich zu erinnern an Zeiten des unbekümmerten Genießens. Deswegen gibt es bei uns bis auf den heutigen Tag den bunten Teller, wo natürlich nicht fehlen dürfen die Marzipankartoffeln. Die sind ganz wichtig. Und immer noch – auch das war früher eine Sensation – ein Stück Niederegger Marzipan, wenn ich das jetzt überhaupt im Rundfunk so sagen darf.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.