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Reihe Wasserzeichen
Der Aralsee zwischen gottgegeben und preisgebunden

Wasser wird als blaues Gold bezeichnet. Doch die Nutzung dieses Gutes erfolgte in der Vergangenheit nicht immer nachhaltig. Ein Beispiel ist der Aralsee in Zentralasien. Einst war er der viertgrößte See der Welt. Nun hat er 90 Prozent seiner Fläche eingebüßt. Die Anrainerstaaten des Sees sind sich auch nicht einig - Wirtschaftsgut oder Menschenrecht.

Von Alfred Diebold |
    Ein Schiff auf dem Trockenen, aufgenommen 1989. Im Vordergrund ein Kamel. Auf Grund extremer Wasserentnahme in den vergangenen Jahren zur Bewässerung von Baumwollplantagen in Usbekistan und Kasachstan versandet der einst viertgrößte See der Welt stetig.
    Ein Schiff auf dem Trockenen des Aralsees in Usbekistan (picture-alliance/Lehtikuva)
    Ban Ki-moon, UN-Generalsekretär, sprach im Frühjahr 2010 von einer der "schockierendsten Katastrophen unseres Planeten". Bei einem Helikopterflug über den ausgetrockneten Aralsee blickte er auf den im gelblichen Sand liegenden Schiffsfriedhof des usbekischen Fischerstädtchens Moinak ein Überbleibsel des einst prosperierenden Hafens.
    Wasser, das früher in den Aralsee mündete, wurde seit den 1950er-Jahren auf Befehl Moskaus hauptsächlich auf die unendlichen Baumwollfelder und in die Kanäle der damaligen Sowjetrepubliken geleitet. Immer mehr Wasser verdunstete, als dem See zugeführt wurde.
    Die Konsequenzen waren absehbar, bekannt und dennoch wurde die Katastrophe in Kauf genommen. "Der Aralsee müsse sterben wie ein Held", hat angeblich ein sowjetischer General gesagt. Der Mensch wollte Herr über die Natur sein.
    Die Nutzung von Frischwasser ist ein altes und konfliktreiches Thema. Wo Wasser knapp ist, gibt es Verteilungskämpfe: ob im Nahen Osten, entlang des Nils oder am Ganges. Seit Jahrzehnten diskutieren Fachleute im Rahmen der Vereinten Nationen und zahlreichen staatlichen und nicht-staatlichen Foren über den Umgang mit Wasser. Bis heute gibt es keinen Konsens bei der Beantwortung der zentralen Fragen: Was ist Wasser wert? Wem gehört es? Und welche Verantwortung erwächst daraus für den Einzelnen, für die private Wirtschaft und die Gesellschaft?
    Aralsee - einst viertgrößter See der Welt
    In Zentralasien werden Antworten darauf gesucht. Zentralasien - das sind die Staaten Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und Afghanistan. Diese Staaten sind Teil des Aralseebeckens, wobei der Aralsee selbst auf kasachischem und usbekischem Territorium liegt. Die Grenze verläuft mitten durch den See.
    Wasser: Zuerst ist es eines der vier Grundelemente. Im Gegensatz zu Wirtschaftsgütern ist es nicht ohne Weiteres reproduzierbar und kann durch kein anderes Gut ersetzt werden. Ohne Wasser gibt es kein Leben.
    Wasser hat einen kulturellen, sozialen und symbolischen Wert. In vielen Religionen steht Wasser am Anfang der Schöpfungsgeschichte. Im Judentum, Christentum und ebenso im Islam. Gott wird gepriesen als derjenige, der Wasser und damit Leben gibt. Die Geschichten des Alten Testaments spiegeln die Erfahrungen der Menschen im Nahen Osten mit Wasserknappheit wider und zeigen den Respekt, den sie sowohl der lebensspendenden wie der zerstörerischen Kraft des Wassers zollten. Islamische Mystiker vergleichen Gott mit einem endlosen Ozean. Im Christentum wird der Gläubige durch das Ritual der Taufe gereinigt und in die christliche Gemeinschaft aufgenommen. Millionen von Hindus vollziehen rituelle Waschungen im Ganges, dem wichtigsten der sieben Heiligen Flüsse im Hinduismus. Wasser gilt im Islam als Geschenk Gottes und hat deswegen den Status eines Gemeinschaftsgutes, zu dem jeder Zugang haben sollte.
    Meine usbekischen Kollegen vom Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees, mit denen ich von 2010 bis 2012 zusammengearbeitet habe, ließen keine Gelegenheit aus zu betonen, dass Wasser eine von Gott gegebene Gabe sei, und dass es dafür keinen Preis geben könne. Der Internationale Fond zur Rettung des Aralsees wurde 1993 gegründet und ist eine zwischenstaatliche Organisation. Mitglieder sind die früheren Sowjetrepubliken Zentralasiens. Der Sitz des Exekutivkomitees rotiert turnusmäßig alle drei Jahre. Heute ist er in der usbekischen Hauptstadt Taschkent.
    Zitat Goethe aus Faust 2 II. Akt, (Felsbuchten des Ägäischen Meers)
    Thales:
    "Alles ist aus dem Wasser entsprungen! Alles wird durch das Wasser erhalten! Ozean, gönn uns dein ewiges Walten!"
    Hätten die Sowjets auf Thales gehört, die Region sähe anders aus! Früher war der Aralsee der viertgrößte See der Welt mit einem Umfang von 68.000 Quadratkilometern und damit 110 Mal so groß wie der Bodensee, inzwischen hat er 90 Prozent seines Volumens eingebüßt.
    Bewegungslose Fischkutter in der Wüste
    Das erste Mal war ich 1992 kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit einer Delegation nach Zentralasien gekommen. Wir waren auf einer Fact finding Mission, wussten wenig und wollten alles über die neuen Republiken und die politischen Entwicklungen erfahren. In allen Hauptstädten wurden wir von den Präsidenten empfangen. Es war eine unvergessliche Reise, auch deswegen, weil wir überall mit der Aralseekatastrophe konfrontiert wurden. So richtig verstanden hatten wir sie bei dieser ersten Reise wohl nicht. Deswegen kamen wir im Mai 1993 wieder in die Region. Fakten, Statistiken, Spekulationen über die Situation waren uns bekannt. Aber ohne die Begegnung mit betroffenen Menschen konnte das Bild nicht vollständig sein. Muss man das Desaster mit eigenen Augen gesehen haben?
    Boote auf dem Trockenen in einem Gebiet, das früher vom Wasser des Aralsees bedeckt war, aufgenommen in Usbekistan 1996. Der Aralsee gehört zu den früheren Sowjetrepubliken Kasachstan (im Norden) und Usbekistan (im Süden des Sees). Er war usprünglich mit 65000 Quadratkilometern fast so groß wie Bayern, hat aber seit 1969 mehr als 40 Prozent seiner Fläche verloren. Frühere Hafenstädte liegen heute in Salzwüsten, die bis zu 50 Kilometer vom Ufer entfernt sind. Ursache ist eine zu große Wasserentnahme aus den beiden Zuflüssen Amu Darja und Syr Darja zur Bewässerung der Baumwollplantagen in beiden Ländern.
    Boote auf dem Trockenen in einem Gebiet, das früher vom Wasser des Aralsees bedeckt war. (picture-alliance/dpa/Caj Bremer/HS CBOO)
    Also reisten wir zum Aralsee, besser gesagt zunächst in die Stadt Aralsk, wo es vor vier Jahrzehnten noch einen funktionierenden Hafen gab. Nach einem abenteuerlichen Flug landeten wir dort spät abends. Niemand hat uns in Empfang genommen. Die Ereignisse des nächsten Tages überraschten selbst Hans-Jochen Vogel, unseren Delegationsleiter. Wir waren überhaupt nicht willkommen. Der leitende Arzt des Krankenhauses wollte weder mit uns sprechen noch unsere humanitären Hilfsmittel annehmen, die er nicht brauchte. Auch der Chef der Stadtverwaltung hatte die Nase voll von Leuten aus dem Westen, die - aus seiner Sicht - hierher kamen, um viele überflüssige Fragen zu stellen und anschließend beleidigend und sensationsheischend über die Situation rund um den Aralsee zu schreiben: "Ihr kommt, schaut euch alles an, beutet uns aus und geht wieder. Wir bleiben hier und für uns ändert sich nichts, was haben wir von ihrem Besuch?"
    Was kann man darauf antworten?
    Wir ließen uns nicht beirren. Schon bald waren wir wieder mit dem Helikopter in der Luft. Genau das wollten wir sehen: Lastkähne, Passagierschiffe und Fischkutter. Aber bewegungslos, kaputt und verrostet lagen sie in der Wüste. Am 3. Mai 1993 kreisten wir im Hubschrauber vom Typ Mi-14 der sich auflösenden Sowjetmarine über diesem Schiffsfriedhof und bekamen eine Vorstellung davon, was sich in den letzten 40 Jahren hier abgespielt hatte.
    Barsakelmes, das Naturreservat, war 1993 noch vollständig von Wasser umgeben. Aeroflot bot noch in den 1980er-Jahren tägliche Flüge mit einer Antonov-2 von Aralsk an. Im Sommer lebten weit über 100 Menschen hier. Kulan, eine seltene asiatische Pferdeeselart, und Saigaantilopen hatten genügend Auslauf und Nahrung. Eine Forschungsstation und ein Museum waren eingerichtet. Wissenschaftler und Touristen kamen gerne. Viele Jahrzehnte galt die Insel als romantische Perle der Natur mit Sandstränden, Steilküste und herrlichem Klima.
    Wassermanagement in der UdSSR
    Stunden später auf der Insel Barsakelmes im Aralsee: Noch heute sehe ich den Naturparkwächter mit seinem Traktor auf den Hubschrauber zufahren. Auf der Ladefläche seines Anhängers saßen seine Frau und zwei Kinder, brav mit verängstigten Gesichtern, die wenigen Habseligkeiten neben sich. Diese Familie war die letzte, die in dem früheren Paradies verblieben war. Leider hatte der Naturparkwächter uns nichts von seiner Absicht erzählt, die Insel mit uns verlassen zu wollen. Die Turbinen des Helikopters liefen schon heiß, die Rotorblätter bewegten sich. Nehmen wir sie mit und befreien sie vom einsamen Inseldasein? Eine Entscheidung musste getroffen werden.
    Die Geschichte des Wassermanagements in Zentralasien während der Sowjetzeit ist schnell erzählt. Das Oberflächenwasser aus den Hochgebirgen des Tian Shan und Pamir wurde und wird auch heute noch hinter den großen Mauern des Toktoguldamms in Kirgisistan und des Nurekdamms in Tadschikistan gestaut und bei Bedarf im Frühjahr und Sommer während der Vegetationsperiode abgelassen.
    Bewässerungslandwirtschaft wurde in der Sowjetunion in großem Stil betrieben. Die bewirtschafteten Flächen wurden seit den 1950er-Jahren fast verdoppelt, von 4,2 Millionen Hektar auf 7,4 Millionen Hektar 1989. Ergab die Baumwollernte 1913 in Usbekistan 517.000 Tonnen, so waren es 1989 über 5,2 Millionen.
    Alfred Diebold, geboren 1953, lebt in Rom und Almaty. Er ist promovierter Volkswirt, lernte als Fotograf und Filmemacher an der Tisch School of the Arts in New York, arbeitete bei den Vereinten Nationen, Nichtregierungsorganisationen und privaten Unternehmen in Asien, Afrika und Europa.

    Nachhaltige Bewirtschaftung der Wasserressourcen, die Integration ökonomischer, ökologischer und politischer Erwägungen im grenzüberschreitenden Wasserressourcenmanagement sind seine Themen, als Technischer Direktor das Exekutivkomitees der Internationalen Stiftung zur Rettung des Aralsees in Almaty/Kasachstan veröffentlichte er 2012 das Buch "From the Glaciers to the Aral Sea".

    Heute lehrt er an der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty.
    Wasser im Sommer für Energie im Winter
    Baumwolle konsumiert viel Wasser, das wussten die Bewohner der Oasen. Deshalb baute man in der vorsowjetischen Zeit vor allem Getreide an. 1913 waren es 212.000 Tonnen Weizen, 75 Jahre später nur noch 21.000 Tonnen, zehn Mal weniger. Bald war Zentralasien von Getreideimporten abhängig. Auch das war Teil der Planwirtschaft. Tausende Kilometer von Kanälen und Reservoirs wurden angelegt und die Wasserressourcen von Moskau aus gemanagt. Es gab die Anordnung, dass die Oberanrainer, die Upstream-Republiken Kirgisistan und Tadschikistan im Tausch für Bewässerungswasser während der Wachstumsperiode im Winter Strom, Gas und Öl von den Unteranrainern, den Downstream-Republiken Usbekistan und Kasachstan erhalten. Es sollte ein Ausgleich hergestellt werden: Wasser im Sommer für Energie im Winter.
    Dieses Regime funktionierte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Ziel der Sowjets war: keinen Tropfen Wasser zu vergeuden und möglichst viel Baumwolle zu produzieren. Energieerzeugung durch Wasserkraft hatte dagegen keine Priorität. Wie sich zeigte, war der Bau des Karakumkanals besonders verhängnisvoll. Stalin hatte den Befehl dazu gegeben. Ein 1000 Kilometer langer Kanal wurde vorbei an der turkmenischen Hauptstadt Aschgabad bis in die Nähe des Kaspischen Meeres ausgehoben. Er sollte Wasser zu den neuen riesigen Baumwollplantagen transportieren. Seit den 1960er-Jahren fließt die Hälfte des Wassers des Amu Darja so in die turkmenische Wüste, wo es in unvorstellbaren Mengen im sandigen Untergrund versickert, die Felder bewässert - die turkmenische Baumwolle ist angeblich die begehrteste - und Grünanlagen in den Städten besprengt.
    Wasser war für die Sowjetunion ein Produktionsfaktor, ein Kollektivgut, das Moskau gehörte und ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt für wirtschaftliche Zwecke eingesetzt wurde. Das Schrumpfen des Aralsees nahm man wissend in Kauf. Die Katastrophe war nicht aufzuhalten. Das Wasser gehörte dem Staat. Und mit der Baumwolle, auch "Pflanzenschaf" oder "weißes Gold" genannt, ließen sich Devisen verdienen.
    Wasser hatte einen Wert, denn ohne Wasser gibt es keine Baumwolle. Aber Wasser hatte keinen Preis, der sich an der Knappheit, den Bereitstellungskosten oder einer alternativen Verwendung orientiert hätte. Man kann feststellen: Der Aralsee wurde de facto über Jahrzehnte in alle Welt exportiert - in Form von Baumwollfasern.
    Im Frühjahr 2012 traf ich den besten Kenner und auch als Vater des Aralsees bezeichneten Wissenschaftler Philip Micklin. Wir verbrachten zwei Tage zusammen in Barsakelmes. Der amerikanische Professor kennt die Entwicklung um den Aralsee schon seit den 1960er-Jahren, als er im Auftrag staatlicher amerikanischer Agenturen Satellitenbilder auswertete und wissenschaftliche Aufsätze verfasste. Es gibt praktisch keine Publikation zum Thema, in der er nicht zitiert wird. Im Auftrag der amerikanischen Agentur für internationale Entwicklung und auf Initiative von Al Gore übersiedelte Micklin in den 90er-Jahren nach Taschkent und bot den Usbeken Hilfe bei der Organisation des Wassermanagements an. Seinem Bericht nach wurde er von den offiziellen Vertretern in der Region mit den Worten begrüßt: "Gospodin Micklin, wir brauchen Sie nicht, wir haben seit Jahrhunderten Erfahrung mit der Bewässerungslandwirtschaft. Gab es die Vereinigten Staaten damals schon?"
    Usbekische Bewässerungsmethoden
    Die Usbeken sind stolz auf ihre Geschichte, die ohne ihre traditionellen Bewässerungsmethoden anders verlaufen wäre. Schon im 7. Jahrhundert wurden unter arabischer Herrschaft Bewässerungskanäle in den Gebieten mit sesshafter Bevölkerung im Ferghana-Tal und den uns bekannten Oasenstädten Bukhara und Khiva angelegt. Städte, die wir heute mit der Seidenstraße in Verbindung bringen. Für die Kontrolle der Wasserverteilung war die zentrale Verwaltung zuständig, während das Management in der Verantwortung der lokalen Beamten lag. Der Khan verstand sich als eine Art Treuhänder im Namen Gottes. Bauern zahlten Gebühren für die Wassernutzung und waren verpflichtet, sich an den notwendigen Instandhaltungsarbeiten zu beteiligen.
    Das private Basel Institute of Commons and Economics stellt auf seiner Internetseite fest: "Wenn etwas allen gehört und nicht gekauft werden muss, kann man es als Gemeingut, Gemeinschaftsgut oder - altmodischer - als Allmende bezeichnen". Gemeingüter (im Englischen commons genannt) werden auch als soziale Beziehung verstanden. Es sind nicht die natürlichen Ressourcen selbst, sondern die Beziehungen, die durch ihre Nutzung, in unserem Fall Wasser, entstehen. Der Commons-Begriff beschreibt Art und Charakter der Beziehung zwischen den sozialen Gruppen, die Ansprüche auf sie erheben, indem sie ihre Zugangs- und Nutzungsrechte an den Ressourcen gestalten. Ohne Zweifel war Wasser in Usbekistan noch vor 150 Jahren "Gemeinschaftsgut", ein "common". In Deutschland hat das Max Planck-Institut in Bonn 2004 mit interdisziplinären Teams begonnen, die "Gemeinschaftsgüterversorgung" zu erforschen.
    Recht auf sauberes Wasser?
    Ein wichtiges Datum war der 28. Juli 2010, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine nichtbindende -man sollte es wiederholen - nichtbindende Resolution zum Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitärversorgung annahm. Diese Resolution fordert Staaten und internationale Organisationen auf, mittels finanzieller, professioneller und technischer Unterstützung den Entwicklungsländern zu helfen, allen Menschen sicheres, sauberes, zugängliches und erschwingliches Trinkwasser und Sanitäranlagen zur Verfügung zu stellen. 122 Staaten stimmten für die Resolution, 29 Staaten waren bei der Versammlung nicht anwesend, 41 enthielten sich ihrer Stimme, darunter auch Kanada und die USA. In ihrer Begründung heißt es, dass die Resolution uneindeutig sei und es kein "internationales Recht" auf Wasser gäbe. Heute wird dieses Menschenrecht in Zentralasien von Nichtregierungsorganisationen eingefordert. In jedem Fall hilft dieses Menschenrecht argumentativ gegenüber den Regierungen. Auch in Europa sind Bürger aktiv geworden und berufen sich darauf.
    Right2Water ist eine Europäische Bürgerinitiative. Über 1,8 Millionen Unterschriften wurden gesammelt. Die zentralen Aussagen und Forderungen sind: "Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht - Wasser ist ein Öffentliches Gut, keine Handelsware". Die Versorgung mit Trinkwasser und die Bewirtschaftung der Wasserressourcen darf nicht den Binnenmarktregeln unterworfen werden. Die Wasserwirtschaft ist von der Liberalisierungsagenda auszuschließen. Die EU verstärkt ihre Initiativen, einen universellen Zugang zu Wasser und sanitärer Grundversorgung zu erreichen." Erklärtes Ziel der Bürgerinitiative Wasser ist ein Menschenrecht! ist es, die Liberalisierung der Wasserversorgung aufzuhalten und in Europa allen Menschen eine Versorgung mit Wasser und sanitären Mindeststandards zu garantieren.
    Wasserversorgung kann auch privatwirtschaftlich organisiert werden: Bei privater Wasserversorgung sollte es Grundsätze und Standards geben, damit die soziale und ökologische Verträglichkeit beim Wasserverbrauch gewährleistet ist im Sinne der Menschenrechte. Käme die Europäische Kommission zu diesem Schluss, wäre viel erreicht. Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 und dem Aufbau neuer unabhängiger Staaten kamen viele internationale Experten, allen voran von der Weltbank nach Zentralasien. Waren die in der Sowjetunion ausgebildeten Wasserbauingenieure gewohnt, jedes Problem mit noch mehr Wasser, weiteren Kanälen und Dämmen zu lösen, forderte die westliche marktwirtschaftliche Denkweise nun quasi über Nacht ein Umdenken.
    Die Dublin-Prinzipien
    Umweltdiskussionen in den USA und Europa ab den 1960er-Jahren und die Empfehlungen der UN-Konferenzen waren an den Entscheidungsträgern in Zentralasien komplett vorbei gegangen. Plötzlich sollte das Konzept von Wasser als ökonomischem Gut, das vor allem von den internationalen Finanzinstitutionen Weltbank und Weltwährungsfonds verfolgt wurde, übernommen werden. Es besagt, dass Wasser einen Preis haben muss, weil es knapp ist. Der ökonomische Wert entsteht durch die Bereitstellung und anschließende Nutzung von Wasser. Diese Auffassungen finden sich in den 1992 definierten Dublin-Prinzipien wieder. Verkürzt dargestellt: Trinkwasser ist ein endliches und verletzliches Gut, das absolut notwendig ist für Leben, Entwicklung und Umwelt. Wasser hat einen wirtschaftlichen Wert in seinen konkurrierenden Nutzungsarten und sollte als ökonomisches Gut anerkannt werden.
    John Briscoe steht für diese Auffassung. Er war früher Wasser-Beauftragter der Weltbank, ist heute Harvard-Professor und diesjähriger Gewinner des Stockholm Water Prize, den der schwedische König jährlich vergibt. Für ihn führen Wassermärkte und Privateigentum an Wasser zu einer besseren Wasserversorgung. Nestlé, Coca-Cola und die anderen Anbieter von abgefülltem Trinkwasser stimmten ihm (natürlich) schon immer zu. Unter bestimmten Bedingungen könnte Briscoe recht haben. Besonders dort, wo es bereits gesetzliche Regelungen gibt, die den Menschen aufgrund ihres Grundbesitzes Wasserrechte einräumen. Dort kann Wasser veräußert werden und für die profitabelste Nutzung verwendet werden. Damit ist aber schon gesagt und das Problem erkannt, dass nach gesellschaftlichen Wohlfahrtskriterien eine wünschenswertere Verwendung ausgeschlossen wird. Kritiker behaupten deshalb: Mit dem Ansatz "Wasser als Handelsware" (Privatgut) kann die Grundversorgung der ärmsten Bevölkerungsschichten weltweit nicht sicher gestellt werden.
    Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte 2008 die Wasserinitiative Zentralasien, den sogenannten "Berliner Prozess" ins Leben gerufen. Ziel dieser präventiven Diplomatie-Initiative ist es, die regionale Wasserzusammenarbeit in Zentralasien zu verbessern.
    In diesem Rahmen kehrte ich Anfang 2010 wieder für einen längeren Aufenthalt nach Almaty, der früheren Hauptstadt Kasachstans, zurück. Im Auftrag der Bundesregierung, vertreten durch das Zentrum für Internationale Migration, das in die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) integriert wurde, trat ich die Stelle des Technischen Direktors beim Exekutivkomitees des Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees an. Die Aufgabe des Komitees besteht in der Hilfestellung, die Wasserressourcen Zentralasiens durch die Mitgliedsländer Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan gerecht, effektiv und effizient zu nutzen und dafür zu sorgen, dass sich internationale Geberorganisationen engagieren. Eine schwierige, wenn nicht unmögliche Aufgabe, wie ich erkennen sollte!
    Bei Konferenzen außerhalb der Region hielten der Vorsitzende und ich häufig Vorträge. Es zeigte sich wiederholt: Das Aralseebecken, verkürzt definiert als das Einzugsgebiet der Flüsse, die den Aralsee speisen, ist selbst bei Wasserexperten weitgehend unbekannt. Diesen Zustand wollten wir unbedingt ändern. Es galt, eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln. Donors (Finanzinstitutionen und Entwicklungshilfeorganisationen), Fachleute und die Öffentlichkeit sollten besser verstehen, wer wir sind, was wir tun, wie die Ausgangslage ist, was getan werden sollte. Daraus entstand die Kampagne "Von den Gletschern zum Aralsee - Wasser verbindet".
    Gottgegeben oder preisgebunden
    Die Ober- und die Unteranrainer des Aralseebeckens haben unterschiedliche Auffassungen: Das Unteranrainerland Usbekistan besteht darauf, dass es kein Privateigentum an dem gottgegebenen Gut Wasser und auch keinen Preis geben kann. Oberanrainer Kirgisistan hingegen lässt sich von den "Dublin principles" und der aus den USA stammenden "Harmon Doktrin" leiten: Die 100 Jahre alte Doktrin besagt, dass ein Land souverän über seine Wasserläufe nach eigenem Gutdünken verfügen kann, ohne Rücksicht auf seine Unteranrainer nehmen zu müssen. Das kirgisische Parlament startete 2001 die Initiative: "Gesetz über die internationale Nutzung der Wasserobjekte, Wasserressourcen, und Wassermanagementeinrichtungen". Wasser sollte verkauft werden, so wie Kohle, Gas und Öl.
    Kirgisische Fachleute hatten zwar gewarnt, konnten die Verhärtung der Fronten mit Usbekistan jedoch nicht aufhalten. Seit 1992 ist vereinbart, dass sich die Wasserminister der IFAS-Mitgliedsländer drei Mal im Jahr treffen, um entsprechend von Quoten aus der Sowjetzeit, das Wasser zu verteilen. Ich habe es selbst erlebt, das - wie man mir sagte - immer gleiche Ritual: Usbeken verfügen über die Daten, sie machen Vorschläge. Die Unteranrainer Kasachstan und Turkmenistan akzeptieren. In normalen und wasserreichen Jahren gibt es kein Problem.
    Turkmenistan bekommt für den Karakumkanal seit Jahren sehr viel Wasser. Das Land sitzt am längsten Hebel, denn die Wasserregulierung am Amu Darja können sie souverän bestimmen. Kirgisen und Tadschiken aber wehren sich. Tadschikistan unterschreibt die Vereinbarung nach kleinen Zugeständnissen, nur Kirgisistan bleibt hart und stimmt nie zu. Trotzdem bekommt Usbekistan das Wasser von Kirgisistan, weil es nicht für immer gespeichert oder weggeschlossen werden kann wie Gold etwa. Nur nicht zu der Zeit, in der sie es brauchen. Nach dem Treffen geht man ausgiebig essen, trinkt Wodka wie in alten Zeiten, als man in St. Petersburg oder Moskau gemeinsam studiert hat. Die handelnden Persönlichkeiten kennen sich seit Jahrzehnten.
    Das alte System funktioniert nicht mehr. Was während der Sowjetzeit selbstverständlich war, gibt es nicht mehr.
    Die Energielieferungen im Winter der Unteranrainer nach Kirgisistan kommen nicht mehr. Eine Vereinbarung von 1998, die sich am alten Sowjetsystem orientierte, wird schon lange nicht mehr respektiert mit der Folge, dass Kirgisistan im Winter zur Stromerzeugung das Wasser aus dem Toktogulstaudamm ablässt. Sehr zum Ärger von Usbekistan, das das Wasser im Frühjahr und Sommer braucht. Beide Länder wissen, dass man sich einigen sollte, nur um welchen Preis? Solange es genug Wasser gibt, ist der Zwang, Kompromisse zu finden, überhaupt nicht vorhanden!
    Stärkung der Institutionen
    Tadschikistan beabsichtigt, den höchsten Staudamm der Welt, bekannt als Rogun mit einer Höhe von 330 Meter am Vaksh, einem Zufluss des Amu Darja, zu bauen. Technisch und finanziell vermutlich machbar, politisch sehr problematisch. Die Weltbank hat eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die noch in diesem Jahr vorgestellt werden soll. Nicht ohne Grund ist Usbekistan gegen den Bau, da befürchtet wird, dass Tadschikistan die Position als Oberanrainer missbrauchen wird. Sie könnten den "Wasserhahn" nach Belieben auf- und zudrehen. Keine Option für Usbekistan. Seit Jahren wird gestritten, werden Grenzen geschlossen, Güter an den Grenzen nicht abgefertigt, Stromleitungen und Lieferungen unterbrochen - alles was dem Nachbarland Tadschikistan das Leben schwer macht. Taschkent hat schon gedroht, notfalls mit Gewalt den Bau zu verhindern. Wie wird sich die internationale Gemeinschaft dazu verhalten? Im Kern ist es keine schlechte Idee, den Damm zu bauen. Bei gemeinsamer Bewirtschaftung könnte die gesamte Region profitieren.
    Es gibt Gemeinschaftsgüter, die, wenn sie Staatsgrenzen überschreiten, zu internationalen Gemeingütern werden. Dazu gehören die großen Ströme Zentralasiens. Die Vereinten Nationen, betrachten die grenzüberschreitenden Flüsse als internationale Gemeinschaftsgüter - ausformuliert in der Helsinki-Konvention von 1992. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich zu den Prinzipien: "Fair and equitable use and no harm". Sinngemäß eine angemessene Nutzung und keine Verschmutzung der internationalen Gewässer. Durch Verhandlungen soll ein gegenseitig akzeptables Ergebnis erzielt werden.
    Es verwundert also nicht, dass Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan die Konvention unterschrieben haben. Kirgisistan und Tadschikistan werden wohl nie zu den Unterzeichnerstaaten gehören.
    "It is time to act", sagte Ban Ki-moon am Ende seiner Reise im Jahr 2010 und fügte hinzu "Nur gemeinsam können die Zentralasiaten ihre Probleme lösen".
    UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon während einer Prssekonferenz in Juba, Südsudan EPA/PHILLIP DHIL
    UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon während einer Prssekonferenz in Juba, Südsudan (picture-alliance/epa/Phillip Dhil)
    Das heißt für mich: Institutionen müssen gestärkt werden. Gute Beispiele für solche institutionellen Lösungen wie die Donaukommission gibt es genug. Alles ist da: Daten, Kenntnisse, Fähigkeiten, Fachleute. Bisher nur fehlte der politische Wille.
    All die Jahre hat mich die Geschichte von Barsakelmes nicht losgelassen. Was ist aus der Parkwächterfamilie geworden? Wir hatten sie nicht mitnehmen können. Unser Helikopter hatte damals nicht die Kapazität noch viel mehr "Last" mitzunehmen. Ich wollte unbedingt auf die Insel zurückkehren. Nick Aladin, ein russischer Wissenschaftler aus St. Petersburg, der in der Sowjetzeit jeden Sommer auf Barsalkelmes Daten sammelte, lud mich 2012 zur Teilnahme an einer Aralsee Expedition mit internationaler Beteiligung ein.
    Ein Hubschrauber oder ein Boot waren nicht mehr nötig. Die Insel war keine Insel mehr, man konnte über Land vorbei an riesigen Salzflächen durch die vergiftete Wüste zur Forschungsstation fahren, oder besser gesagt, was davon noch übrig ist. Zuerst ging ich zum Friedhof. Kreuze mit Jahreszahlen nach 1993 gab es nicht. In den letzten 20 Jahren ist das Leben verschwunden. Die Kulan wurden in den Altyn-Emel Park in die Nähe von Almaty umgesiedelt, die Saigaantilopen haben sich selbstständig in andere Regionen verabschiedet, nicht einmal mehr Ameisen konnte ich sehen. Noch nie habe ich einen so toten Ort besucht.
    Die Parkwächterfamilie war auch ohne uns aufs Festland gekommen. Der gemeinsame Versuch, Kontakt mit der Familie aufzunehmen, ist leider gescheitert. Das einzige, was wir erfuhren war, dass sie sich in der Nähe von Aralsk zunächst ein neues Zuhause geschaffen hat. Danach verlor sich ihre Spur.
    Einzelschicksale zeigen am besten, dass politische Entscheidungen nicht immer im Interesse des Gemeinwohls gefällt werden. Beteiligungsrechte, Klagen und Einmischung der Bürger ist nicht überall vorgesehen und auch nicht gewünscht. Gerade bei Infrastrukturmaßnahmen wie großen Dammbauten oder der Erschließung neuer Agrarflächen geht es oft um wirtschaftliche und politische Interessen, die mit dem Gemeinwohl in Konkurrenz liegen. Es sind meistens politische und weniger wirtschaftliche Gründe, die gegenseitig vorteilhaften Abkommen im Wege stehen.
    In Zentralasien geht es immer um Macht. Ereignisse in der Ukraine und auf der Krim wirken sich aus. Unabhängig davon wie es weiter geht: Wasser bleibt umkämpft. Wasser ist eine Gabe Gottes, ein Menschenrecht und Gemeinschaftsgut, für einige auch ein Wirtschaftsgut, ohne das wir nicht existieren können.
    An den beiden Pfingstfeiertagen setzen wir in Essay und Diskurs die Reihe "Wasserzeichen" fort: Mit einem Essay über "Wasser in Sprechakten – Taufe und Weissagung" von Oya Erdogan.