Maja Ellmenreich: An Energie kaum zu überbieten - Carolin Widmann spielt da gerade den Beginn der Nummer Eins aus den sechs "Capricci", die der italienische Komponist Salvatore Sciarrino in den 1970ern geschrieben hat. Die Musik der Gegenwart, auch die der letzten Jahre und Jahrzehnte, ist Carolin Widmann ein ganz besonderes Anliegen. Namhafte Komponisten haben für sie Werke geschrieben. Die Liste der Uraufführungen, die sie gespielt hat, sind entsprechend lang. Gefragte Solistin, Kammermusikerin und Professorin ist Carolin Widmann. Außerdem Schwester des Klarinettisten und Komponisten Jörg Widmann, Ehefrau und Mutter zweier Kinder.
Carolin Widmann, wenn Sie alleine auf der Bühne stehen und zum Beispiel die "Capricci" von Sciarrino spielen: Welche Energie ist da eher gefragt - körperliche oder geistige?
Carolin Widmann: Ich glaube, bei Konzerten immer beides. Ich merke das immer - wenn irgendetwas nicht stimmt - wie viel stimmen muss, um auf der Bühne zu stehen, damit man das Maximale aus sich herausholen kann - körperlich, geistig von der Stimmung her, von der Motivation, dass man etwas mitteilen will. Das ist an einigen Tagen auch anders als an anderen. Also in jeder Hinsicht wird Höchstleistung gefordert.
Maja Ellmenreich: Woher zum Beispiel kann diese Energie kommen, wenn wir jetzt noch mal bei Sciarrino bleiben? Woher nehmen Sie die Energie, was ist das für eine Energie, die Sie da aufbringen? Können Sie die beschreiben?
Carolin Widmann: Also zum einen ist es natürlich immer eine körperliche Sache. Wenn ich auf der Bühne stehe, müssen die Hände absolut das tun, was ich mit dem Gehirn von ihnen verlange. Das ist schon mal eine Form der Energie. Das andere, was ich immer wichtiger finde, je älter ich werde, ist diese interpretatorische Energie, und die erlange ich eigentlich, wenn ich wirklich darüber nachdenke, aus der Ruhe vor dem Auftritt. Wenn ich morgens aufwache an einem Konzerttag, ist der Konzertabend sofort in meinem Bewusstsein. Also ich wache nicht auf wie an jedem anderen Tag, sondern weiß ganz genau, heute Abend um acht Uhr stehst du auf der Bühne und spielst dieses oder jenes Stück. Und ob ich es will oder nicht, konzentriere ich mich den gesamten Tag auf dieses Konzert, und je näher der Konzerttermin rückt oder die Konzertuhrzeit rückt, umso mehr versuche ich mir auch die Musik vorzustellen und einfach diese Ruhe als so eine Art Grundlage zu haben für das, was dann auf der Bühne später passiert.
Maja Ellmenreich: Diese Ruhe, von der Sie sprechen, also schonen Sie sich? Verstehe ich das richtig, dass Sie vielleicht sich nicht so ablenken, dass Sie versuchen, dass Sie nicht so viel anderes noch um die Ohren haben, was vielleicht manchmal schwierig ist, wenn man zwei kleine Kinder hat?
"Jetzt zählt nur noch das, was ich auf der Bühne sagen will"
Carolin Widmann: Ich habe da Alles mögliche ausprobiert. Es gibt ganz verschiedene Situationen. Manchmal kann man es sich ja auch nicht aussuchen, wie Sie sagen. Als meine Kinder sehr klein waren zum Beispiel, musste ich bis kurz bevor ich auf die Bühne ging, mich noch um die kümmern. Aber ich habe immer mir dann noch diese ein oder zwei Minuten zumindest genommen, um mich jetzt wirklich darauf einzustellen: So, jetzt zählt nur noch das, was ich auf der Bühne sagen will und was ich vorbereitet habe und alles andere auszublenden. Manchmal gelingt das, manchmal gelingt das nicht. Oder aber, wenn es etwas gibt, was mich emotional bewegt, das einzubringen in den Konzertantenvortrag. Also wenn es etwas gibt, was mich emotional bewegt, dann wirklich zu sagen, diesen Konzertabend möchte ich dieser oder jener Person widmen innerlich, die mich an diesem Tag emotional bewegt hat zum Beispiel. Also ich widme eigentlich meinen Konzertabend immer einer Person oder einem Motto oder einem Thema oder einem Gefühl bevor ich auf die Bühne gehe. Klingt vielleicht lächerlich, aber ist für mich wie eine Art fast mystische Einstimmung aufs Konzert.
Maja Ellmenreich: Ja, klingt regelrecht energetisch, würde ich fast sagen. Verraten Sie das vorher oder passiert das einfach, behalten Sie das für sich, wem Sie das widmen?
Carolin Widmann: Ich behalte es für mich, und manchmal muss es noch nicht mal bewusst gedacht werden. In letzter Zeit versuche ich es tatsächlich zu verbalisieren und sogar auch aufzuschreiben, um es einfach mehr zu kanalisieren. Das kann ein Wort sein oder das kann ein Gefühl sein, das kann eine Person sein. Ich experimentiere sogar ein bisschen mit Dingen wie Farben oder Assoziationen in letzter Zeit, aber ich möchte einfach diesen Moment auf der Bühne, der ja auch einer der Anspannung ist übrigens oder für mich zumindest auch einer der Anspannung ist, sehr bewusst empfinden, und ich versuche daran zu arbeiten, das immer noch bewusster zu empfinden und immer noch klarer zu sehen, was eigentlich passiert auf der Bühne und mich auch zu beobachten, damit ich lernen kann auch.
Maja Ellmenreich: Nun sind Sie ja nicht allein auf der Bühne unbedingt. Bei so einem Solostück wie von Sciarrino natürlich schon, aber sonst ja auch häufig mit Orchesterbegleitung, mit einem Dirigenten direkt neben Ihnen, womöglich noch mit anderen Solisten oder Kammermusikfreunden. Macht das für Sie einen Unterschied, ob Sie sozusagen alleine verantwortlich sind oder, ob Sie Teil eines, ich nenne es jetzt mal: musikalischen Teams sind, dessen Energie ja vielleicht auch nicht so zu beeinflussen ist von Ihrer Seite aus?
"Oft genieße ich es, wenn ich alleine auf der Bühne bin"
Carolin Widmann: Ja, das ist witzig, dass Sie es sagen. Oft genieße ich es, wenn ich alleine auf der Bühne bin, weil ich dann auch die Stille timen kann, zum Beispiel, dass ich selber entscheiden kann, wann ich anfange - das liebe ich an Soloabenden - und dass ich selber mir überlegen kann, wie viel Zeit ich zwischen den Sätzen brauche, welches Tempo ich nehme. Wenn ich aber mit anderen Menschen auf der Bühne bin, kommt dann auch noch mal an, ob es eine kleinere Gruppe ist - das ist dann sehr intim, und das sind dann oft sehr enge Freunde auch von mir -, da möchte ich dieses Kollektiv auch genießen. Wenn es ein großes Orchester ist, ist das eher eine anonyme Masse - es sind ja 100 Leute im Orchester - aber selbst dann ist es natürlich auch eine ungemeine Energie, wenn man mit 100 Leuten zusammen Musik macht.
Maja Ellmenreich: Es kommt ja auch mal vor, dass Sie mit Ihrem Bruder gemeinsam auf der Bühne stehen, mit Ihrem Bruder Jörg Widmann. Er ist einer der gefragtesten und produktivsten deutschen Komponisten unserer Zeit, außerdem ist er Klarinettist. Ist das gemeinsame Musizieren mit ihm für Sie in einer gewissen Weise energiesparender, weil Sie sich so gut kennen und von Kindesbeinen an miteinander musizieren?
"Mit meinem Bruder komme ich immer wieder an diesen Ursprung meiner Musikliebe zurück"
Carolin Widmann: Sagen wir mal so: Es ist weniger arbeitsintensiv im Vorfeld, weil wir so viele der Stücke, die wir spielen, einfach schon sehr oft gespielt haben, und auf der Bühne ist es so energetisch wie mit kaum jemand anderen. Also es wiegt eigentlich dieser Spieltrieb vor wie bei uns in der Kindheit, wenn wir irgendwelche Dinge gespielt haben bis zum Exzess, und so ein bisschen ist das, wenn wir gemeinsam auf der Bühne sind, dann macht der eine was musikalisch ein bisschen anders als wir besprochen haben in der Probe, dann will der andere ihn noch übertrumpfen, dann schlage ich wieder zurück, dann spielt er mir einen Ball zu, und das endet teilweise auch so, dass wir selber grinsen müssen, weil das einfach total überzogen ist teilweise, aber mit meinem Bruder komme ich immer wieder an diesen Ursprung meiner Musikliebe zurück.
Maja Ellmenreich: Ganz besonders lieben werden Sie wahrscheinlich auch Ihre Geige. Das ist eine Giovanni Battista Guadagnini aus dem Jahr 1782, also eine besonders wertvolle Geige, in vielfacher Hinsicht wertvoll. Welchen Anteil hat das Instrument an Ihrem Spiel? Liefert diese besondere Geige Ihnen auch eine bestimmte Art von Energie?
"Diese Geige ist so viel erfahrener und weiser als ich"
Carolin Widmann: Absolut. Schon allein durch ihr Alter und ihre Geschichte. Diese Geige ist so viel erfahrener und weiser als ich, kann sie mir jeden Tag beweisen. Es ist wie eine Symbiose, und ich fühle mich auch wie eine Art Aufpasser für die Geige auf Zeit. Ich bin ja nun auch nicht unsterblich, und ich werde für ein paar Jahre diese Geige haben, einige Jahre diese Geige noch spielen können, und dann kommt jemand nach mir, der sie bekommt, und noch mal jemand nach dieser Person, die sie bekommt. Also ich habe jetzt mal für wenige Zeit den Auftrag, mich um diese Geige zu kümmern. Es ist wirklich wie ein Familienmitglied für mich, und ich frage jeden Morgen, wenn ich beginne mit ihr zu arbeiten, erst mal, wie geht es uns heute, und was ist heute für ein Wetter. Das wirkt sich ja auch auf die Geige aus. Ich finde, da gibt es viele menschliche Züge auch. Also wenn ich zu viel von der Geige will, dann macht sie sofort zu.
Maja Ellmenreich: Kann also auch einen schlechten Tag haben, so eine Geige.
Carolin Widmann: Au ja!
Maja Ellmenreich: Ich komm noch mal auf unsre Urfrage zurück: Kommt diese Energie vielleicht auch manchmal ausdrücklich daher, sich nämlich mal nicht mit Musik zu beschäftigen, also sich um die Kinder zu kümmern, um den Haushalt zu kümmern oder Urlaub zu machen und die Geige gar nicht mitzunehmen - ist das auch ein Energielieferant für Sie?
"Die Energie kommt aus der Ruhe"
Carolin Widmann: Ich habe da in den letzten Jahren sehr viel dazugelernt, wie ich funktioniere. Also ich denke, das ist bei jedem Menschen anders, und bei kreativen Menschen ist oft die Gefahr, dass wir ja so viel Energie aus der Materie, die wir jeden Tag machen, beziehen. Also nach einem Konzert bin ich natürlich total erschöpft, aber auch total energetisiert und denke, ich könnte das unendlich so weitermachen. Am nächsten Abend bin ich wieder auf der Bühne, wieder total high, und denke, oh, ich will gleich am nächsten Abend weitermachen. Die Musik macht mich high, natürlich, und ich denke, ich hätte dann endlos Energie, aber ich habe schon gelernt, dass ich jedes Jahr eine lange Pause brauche - die mache ich meistens im Sommer - wo wirklich die Geige eine untergeordnete Rolle spielt, eine Zeit lang. Und dann in der zweiten Hälfte meiner Pause gehe ich wieder ans Arbeiten, aber eben sehr behutsam und sehr analytisch und versuche auch, die Dinge umzusetzen, die ich gelernt habe und so weiter, aber noch nicht damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Also ich glaube, das ist eine Komponente aus zwei Sachen, diese Energiefrage. Die Energie kommt aus der Ruhe und aus dem Sich-nicht-Beschäftigen mit dem, was man als Beruf tut, nämlich im Sommer als Pause oder auch, wenn man am Abend nach einem durchunterrichteten Tag nach Hause kommt und sich um die Kinder kümmert. Und da ist es eben absolut überhaupt nicht wichtig, was ich den ganzen Tag über gemacht habe. Das weiß jeder, der Kinder hat, dass es die überhaupt nicht interessiert, wenn man abends Heim kommt, ob man müde ist oder was man gemacht hat. Und die andere Komponente dieser Energie ist, glaube ich, wirklich, dass wir Leute, die ihre Arbeit lieben, so viel Energie aus der Arbeit selbst bekommen. Ich kann mir eine Partitur anschauen und mich so daran freuen und sofort Lust haben, das jetzt zu spielen oder zu hören. Das ist etwas, was passiert, wenn man die Materie, an der man arbeitet, einfach passioniert liebt.
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