Seit Erscheinen seines Debüts "Der lange Gang über die Stationen" vor gut zehn Jahren arbeitet Reinhard Kaiser-Mühlecker sehr hartnäckig und mit wachsendem Erfolg daran, dem Bauern- und Dorfleben zu seinem literarischen Recht zu verhelfen. Es sind wuchtige Geschichten aus der Provinz, die der österreichische Schriftsteller mit altmodischem Ton erzählt. Sie handeln von Schuld und Schicksal, vom alternativlosen Leben und wortkargen Menschen, die altösterreichische Namen wie Joseph oder Ferdinand tragen. Doch die gängigen Etiketten, mit denen eine solch fulminant anachronistische Unternehmung gerne belegt wird, haften auf Kaiser-Mühleckers Büchern nicht. Es sind keine Anti-Heimatromane, noch weniger Heimatromane. Weder verklärt Kaiser-Mühlecker das Landleben rückwärtsgewandt als heile Welt, noch schildert er es als dumpfe Hölle.
Archaische Geschichten aus der österreichischen Provinz
Gerade mal 36 Jahre jung ist Kaiser-Mühlecker und damit einer der jüngsten unter den großen Unzeitgemäßen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Mit dieser ästhetischen Rückwärtsgewandtheit läuft man in rechtspopulistisch aufgeheizten Zeiten leicht Gefahr, politisch missverstanden zu werden. Und als wollte Kaiser-Mühlecker diesem Vorwurf vorbeugen, lässt er den Ich-Erzähler Jan am Anfang seines neuen Romans "Enteignung" erst mal ein etwas unmotiviertes Gesinnungsbekenntnis ablegen. Jan arbeitet als Journalist in einer Fünfzigtausend-Einwohner-Stadt. Seit der letzten Wahl stellt die Rechtspartei dort den Oberbürgermeister. Was Jan veranlasst, seinem Redaktionsleiter gegenüber auf Distanz zu gehen zu dieser vulgären, populistischen Spielart des Konservatismus:
"Sie gefallen mir nicht, sagte ich, "und sie werden mir nie gefallen. Aber du bist der Chefredakteur, und du kannst es ja halten, wie du willst."
Wie so viele Figuren in den Romanen Reinhard Kaiser-Mühleckers ist auch Jan zurückgekehrt an den Ort seiner Kindheit. Der Lauf der Zeit macht sich dem fortschrittsskeptischen Ich-Erzähler dort vor allem als Störung, wenn nicht als Niedergang bemerkbar. Wiesen müssen gesichtslosen Neubausiedlungen weichen, die Stadt enteignet Bauern für sinnlose Windparkprojekte, verschleierte Frauen "hocken im Park beisammen" – und die Landwirte führen einen harten Überlebenskampf. Der Erzähler liest die Symptome dieser Krise seismographisch an unscheinbaren Details ab und sensibilisiert den Leser ganz nebenbei dafür, dem äußeren Anschein zu misstrauen:
"Ich schaute zu dem neuen Stall hin; auch er würde, wie alles in den vergangenen Jahrzehnten zu den ursprünglichen Gebäuden Dazugebaute, sicherlich unverputzt bleiben. Überhaupt die zunehmende Schmucklosigkeit ringsum. Ausdruck dafür, dass weder Zeit noch Geld blieb? Hier fanden sich, im Gegensatz zu den meisten anderen Höfen, vor den Fenstern immerhin noch Blumen, rote und rosarot-weiße Pelargonien; aber nach dem Frost, als ich mich gewundert hatte, dass sie sie nicht hineingestellt hatten, war ich draufgekommen, dass sie nicht echt waren."
"Sie gefallen mir nicht, sagte ich, "und sie werden mir nie gefallen. Aber du bist der Chefredakteur, und du kannst es ja halten, wie du willst."
Wie so viele Figuren in den Romanen Reinhard Kaiser-Mühleckers ist auch Jan zurückgekehrt an den Ort seiner Kindheit. Der Lauf der Zeit macht sich dem fortschrittsskeptischen Ich-Erzähler dort vor allem als Störung, wenn nicht als Niedergang bemerkbar. Wiesen müssen gesichtslosen Neubausiedlungen weichen, die Stadt enteignet Bauern für sinnlose Windparkprojekte, verschleierte Frauen "hocken im Park beisammen" – und die Landwirte führen einen harten Überlebenskampf. Der Erzähler liest die Symptome dieser Krise seismographisch an unscheinbaren Details ab und sensibilisiert den Leser ganz nebenbei dafür, dem äußeren Anschein zu misstrauen:
"Ich schaute zu dem neuen Stall hin; auch er würde, wie alles in den vergangenen Jahrzehnten zu den ursprünglichen Gebäuden Dazugebaute, sicherlich unverputzt bleiben. Überhaupt die zunehmende Schmucklosigkeit ringsum. Ausdruck dafür, dass weder Zeit noch Geld blieb? Hier fanden sich, im Gegensatz zu den meisten anderen Höfen, vor den Fenstern immerhin noch Blumen, rote und rosarot-weiße Pelargonien; aber nach dem Frost, als ich mich gewundert hatte, dass sie sie nicht hineingestellt hatten, war ich draufgekommen, dass sie nicht echt waren."
Der Ich-Erzähler kehrt ins Dorf seiner Kindheit zurück
Jan war einmal eine größere Nummer im journalistischen Betrieb. Doch seit er vor fünf Jahren wieder in das Haus im Dorf unweit des kleinen Städtchens eingezogen ist, das ihm die Tante vererbt hat, füllt er mit seinen Texten den Platz zwischen den Anzeigen des heruntergekommenen Lokalblatts. Aus besseren Tagen sind ihm noch ein schicker alter Wagen und das Gefühl geblieben, fehl am Platze zu sein. Woraus für ihn aber nichts folgt. Denn Jan ist vieles egal. Unentschlossen, abgekapselt und unbeteiligt lebt und liebt er vor sich.
Kaiser-Mühlecker benötigt nur wenige Seiten, um seinem Ich-Erzähler die sehr überzeugende Kontur eines zwischen Melancholie und Überdruss schwankenden Mannes ohne emotionale Eigenschaften zu verleihen. Eines Menschen, der trotz seiner auf der ganzen Welt verteilten Facebook-Bekannten bindungslos ist und zu allem auf Distanz geht, zu sich selbst genauso wie zu seinem Umfeld:
"Wie oft schon hatte ich darüber gestaunt, wie tief Menschen empfinden können; das war eine Fähigkeit, die mir abging, was ich aber nie wirklich bedauert hatte: Auch das Bedauern war schließlich eine Fähigkeit."
Kaiser-Mühlecker benötigt nur wenige Seiten, um seinem Ich-Erzähler die sehr überzeugende Kontur eines zwischen Melancholie und Überdruss schwankenden Mannes ohne emotionale Eigenschaften zu verleihen. Eines Menschen, der trotz seiner auf der ganzen Welt verteilten Facebook-Bekannten bindungslos ist und zu allem auf Distanz geht, zu sich selbst genauso wie zu seinem Umfeld:
"Wie oft schon hatte ich darüber gestaunt, wie tief Menschen empfinden können; das war eine Fähigkeit, die mir abging, was ich aber nie wirklich bedauert hatte: Auch das Bedauern war schließlich eine Fähigkeit."
Fast lustlos stolpert der Held in eine Liebesaffäre
Zufällig stolpert der Ich-Erzähler in eine Affäre hinein. Allerdings ist "Affäre" fast schon ein zu großes Wort für das, was Jan mit der Lehrerin Ines verbindet. Die alleinerziehende Ines ist aus der "Hauptstadt" ins Dorf gezogen. Sie trinkt zu viel und kümmert sich zu wenig um ihre Kinder. Geradezu desinteressiert lässt Jan sich zunächst auf diese Liaison ein, als sei sie ein Experiment. Schon bald aber wird ihm klar, dass er nur einer von vielen Männern ist, mit denen Ines schläft. Jan beginnt Ines hinterher zu spionieren, bis zu einer Waldhütte, wo sie sich heimlich mit dem verheirateten Landwirt Flor trifft:
"In dem Moment, so unerwartet, dass ich zusammenzuckte, stürzte sie auf ihn zu und schlug ihm die Zähne in den Hals. Er schrie auf und stieß sie fluchend weg. Er packte sie an den Armen und hielt sie fest. Ich wusste nicht, was vor sich ging. Sie starrten einander an. Plötzlich ließ Flor einen Arm los und öffnete mit der freien Hand seinen Gürtel. Zumindest versuchte er es, bekam ihn aber nicht auf. Auch er zitterte oder bebte jetzt. Da drängte sie seine Hand weg und öffnete den Gürtel, dann den Knopf, und zuletzt zog sie den Schlitz auf."
Verzweifelt roh und gewalttätig ist diese Begegnung, die Jan im Wald beobachtet. Sie lässt ihn etwas fühlen, was er kaum für möglich hielt: Kränkung, ja: Eifersucht. Als unbezahlter Praktikant schleicht er sich daraufhin in das Leben seines Nebenbuhlers Flor ein, schuftet von früh bis spät im Schweinestall und schläft sonntags mit dessen Frau Hemma.
Verzweifelt roh und gewalttätig ist diese Begegnung, die Jan im Wald beobachtet. Sie lässt ihn etwas fühlen, was er kaum für möglich hielt: Kränkung, ja: Eifersucht. Als unbezahlter Praktikant schleicht er sich daraufhin in das Leben seines Nebenbuhlers Flor ein, schuftet von früh bis spät im Schweinestall und schläft sonntags mit dessen Frau Hemma.
Plötzlich packt den lange Gefühllosen die Leidenschaft
Erzählt wird all das konsequent aus der Sicht von Jan, der zunächst ein sehr unzuverlässiger Chronist seiner eigenen Gefühle ist. Denn Jan muss sich am Ende eingestehen, dass ihm in seinem emotional heruntertemperierten Leben etwas fehlt:
"Ich sah dem Wasser zu, wie es kam und ging und verspürte so etwas wie eine Sehnsucht nach etwas Ganzem in meinem Leben oder danach, dass mein Leben ein Ganzes sei. Nach einer Weile verflüchtigte sich diese Empfindung, und mir kam es nur folgerichtig vor, denn es gab nichts Ganzes."
Die geschickte perspektivische Engführung macht den nicht geringen Reiz des Romans aus. Vieles bleibt rätselhaft und bewusst unausgeführt. Handlungsstränge scheinen zunächst seltsam unverbunden in der Luft zu hängen: die Geschichte des Landwirts Flor, der gegen seine Enteignung durch die Stadt ankämpft. Die Krise des Journalismus. Die Affäre, die der Ich-Erzähler mit Flors Ehefrau Hemma beginnt. Dann geistert auch noch ein Baubeauftragter der Gemeinde durch das Geschehen, zunächst am Rande des Sichtfelds, bis er überraschend ins Zentrum rückt.
Für den Leser nicht vorhersehbar, im Rückblick aber geradezu schicksalhaft zwangsläufig führt Reinhard Kaiser-Mühlecker all diese losen Enden zusammen, mit Ines als erotischem Knotenpunkt. Am Ende wird er auch die zunächst so schwer fassbaren Empfindungen seiner Figuren auf elementare Grundformen reduziert haben: Verlangen, Verzweiflung, Eifersucht, Hass. Große Gefühle, die Reinhard Kaiser-Mühlecker auf kleinem Raum gekonnt zu entfalten versteht: in der Form einer Geschichte, die zeitlos-archaisch anmutet, auch wenn sie im 21. Jahrhundert spielt.
"Ich sah dem Wasser zu, wie es kam und ging und verspürte so etwas wie eine Sehnsucht nach etwas Ganzem in meinem Leben oder danach, dass mein Leben ein Ganzes sei. Nach einer Weile verflüchtigte sich diese Empfindung, und mir kam es nur folgerichtig vor, denn es gab nichts Ganzes."
Die geschickte perspektivische Engführung macht den nicht geringen Reiz des Romans aus. Vieles bleibt rätselhaft und bewusst unausgeführt. Handlungsstränge scheinen zunächst seltsam unverbunden in der Luft zu hängen: die Geschichte des Landwirts Flor, der gegen seine Enteignung durch die Stadt ankämpft. Die Krise des Journalismus. Die Affäre, die der Ich-Erzähler mit Flors Ehefrau Hemma beginnt. Dann geistert auch noch ein Baubeauftragter der Gemeinde durch das Geschehen, zunächst am Rande des Sichtfelds, bis er überraschend ins Zentrum rückt.
Für den Leser nicht vorhersehbar, im Rückblick aber geradezu schicksalhaft zwangsläufig führt Reinhard Kaiser-Mühlecker all diese losen Enden zusammen, mit Ines als erotischem Knotenpunkt. Am Ende wird er auch die zunächst so schwer fassbaren Empfindungen seiner Figuren auf elementare Grundformen reduziert haben: Verlangen, Verzweiflung, Eifersucht, Hass. Große Gefühle, die Reinhard Kaiser-Mühlecker auf kleinem Raum gekonnt zu entfalten versteht: in der Form einer Geschichte, die zeitlos-archaisch anmutet, auch wenn sie im 21. Jahrhundert spielt.
Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Enteignung"
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main. 224 Seiten, 21 Euro
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main. 224 Seiten, 21 Euro