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Reinhold Michels: Otto Schily. Eine Biographie

Kaum ein Politiker westdeutscher Provenienz musste sich im Laufe der Jahre so häufig als Wendehals, der seine einstigen Ideale verraten habe, beschimpfen lassen wie Otto Schily. Einst als RAF-Anwalt unter Verdacht, mit dem Terrorismus zu sympathisieren, ist Schily in seinem derzeitigen Amt als Innenminister in den Augen vieler zu einem Law and Order-Hardliner mutiert, dessen Sicherheitspakete selbst einen Manfred Kanther blass aussehen ließen. Ein Missverständnis, glaubt hingegen Reinhold Michels, Autor einer bei der DVA erschienenen Otto Schily-Biographie. Ob als Ensslin-Verteidiger, Parteispenden-Aufklärer oder Hüter der inneren Sicherheit - Schily sei sich durchaus treu geblieben.

Brigitte Baetz |
    Die Mitglieder der Roten Armee Fraktion sollen als gewöhnliche Kriminelle, als Menschen auf niederster sittlicher Wertstufe, ohne jeglichen politischen Anspruch dargestellt werden. Der politisch-militärische Charakter der Auseinandersetzung zwischen dem Staatsapparat und der Roten Armee Fraktion soll geleugnet werden.

    Otto Schily 1977 als Verteidiger der Terroristin Gudrun Ensslin im sogenannten Stammheim-Prozess.

    Ich glaube, die Regierungskoalition, aber auch Vertreter der Regierung, haben mit dem Amnestievorhaben ein erbärmliches, ein klägliches Rechtsverständnis, ein bis ins innerste Mark verfaultes Rechtsbewusstsein erkennen lassen. Es ist ein dermaßen verludertes Rechtsbewusstsein, dass die Konsequenz nur heißen kann, dass die Regierung sich nicht nur von diesem üblen Amnestieplan verabschiedet, sondern sich eiligst selbst von der politischen Bühne verabschiedet. (Applaus)

    Otto Schily 1984 als Bundestagsabgeordneter der Grünen in der Auseinandersetzung um die Parteispendenaffäre.

    Einige behaupten, wir würden ein Volk von Verdächtigen schaffen wollen, das hängt natürlich mit der ..., sozusagen der Gefühlsregung zusammen, dass wir es gewohnt sind, dass Fingerabdrücke nur in Ermittlungsverfahren abgenommen werden, davon muss man sich lösen.

    Otto Schily heute - SPD-Mitglied und als Bundesinnenminister Verkörperung staatlicher Autorität. Wer ist dieser Mann, der sich vom Terroristenanwalt erst zum grünen Bundespolitiker und dann zum sozialdemokratischen Law and Order-Mann gewandelt hat? Wer bei ihm selbst nachfragt, erhält als Antwort allerhöchstens den Satz "Otto Schily ist Otto Schily". Damit aber wollte sich Reinhold Michels, Redakteur der Rheinischen Post in Düsseldorf, nicht zufrieden geben. Akribisch hat er das Leben Otto Schilys aufgezeichnet - wenn auch oft in allzu betulichem Ton. Aufgewachsen als Sohn eines Hüttendirektors in Bochum, als zweitjüngstes unter fünf Geschwistern, galt Otto Schily schon in seiner Jugend als Einzelgänger, als schüchtern, aber stur. Die Eltern waren Anhänger der Anthroposophie, einer ganzheitlich orientierten, christlich geprägten Lebensanschauung, die im Dritten Reich als verdächtig galt. Musik und geistige Anstrengung waren wichtig.

    Wer in einer solchen Familie aufwächst, entwickelt entweder Komplexe oder dauerhaft festes Selbstbewusstsein. Otto Schily, der einstmals schmächtige Musikus und zarte Sturkopf, bezieht aus seiner Herkunft Kraft und Stehvermögen. Auch als er in den späten Sechzigern in Kreisen verkehrte, wo Skepsis, wenn nicht Verachtung gegenüber der Vorgänger-Generation gepflegt wurde, ließ Otto Schily nichts auf sein Elternhaus kommen. In seiner ironischen, Überlegenheit signalisierenden Art drückte er Verbundenheit und Verwurzelung so aus: "Es kann ja mal vorkommen, dass einer von Haus aus nicht auf Sand gesetzt ist, sondern gerade von dort, wo andere ihre Krankheiten herhaben, Reserven bezieht."

    Die Eltern kommen früh bei einem Autounfall ums Leben, zwei der Brüder werden später bei Exkursionen in den Alpen sterben. Otto Schily, der lebenslange Einzelgänger, etabliert sich Mitte der 60er Jahre als Wirtschaftanwalt in Berlin. Über seine spätere erste Frau bekommt der schon Arrivierte Kontakt zur Studentenbewegung.

    Otto Schily spürte reichlich Nachholbedarf in Marxismus und deckte ihn eifrig mit einschlägiger Lektüre. Seine Selbstbeschreibung als liberaler Kommunist, die er mit dem Zusatz versah, so etwas gebe es nicht und deshalb befinde er sich eigentlich im politischen Niemandsland, war ihm nicht peinlich. Er wollte damit ausdrücken, dass Rechtsstaatlichkeit und Liberalität zusammen mit sozialer Gerechtigkeit zu seinen politisch-gesellschaftlichen Grundauffassungen zählten. Die Ursprungsidee des Kommunismus nannte er eine durchaus humanitäre Anschauung. Die Ideen von Marx hatten für ihn einen positiven Ansatz. Das Dumme sei, dass sie im Laufe der Geschichte verzerrt und vor allem von pseudo-sozialistischen Organisationen ins Gegenteil verkehrt worden seien.

    Otto Schily kultiviert das Leben zwischen den Stühlen. Er verteidigt mehrere Vertreter der Außerparlamentarischen Opposition, darunter auch seinen Kollegen Horst Mahler. Gleichzeitig bleibt er aber auch Wirtschaftsanwalt und in Auftreten und Kleidung durchaus bürgerlich. Ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerät er als Verteidiger der Terroristin Gudrun Ensslin, über die Reinhold Michels schreibt:

    Mit dem RAF-typischen Zynismus sagte die Pfarrerstochter im Gossendeutsch, Schily werde allein schon wegen der Klamotte gebraucht, die er vor Gericht abziehe. Hinter den Wörtern "Klamotte" und "abziehen" steckte eine bestimmte Erwartung der Angeklagten, der Schily nicht immer widerstehen konnte. So nutzte er das Beweisantragsrecht der Verteidigung für eine Taktik, die mit Prozessverschleppung nicht falsch beschrieben worden ist. Er erlaubte sich Äußerungen und Auftritte, welche auch dann peinlich und entgleisend wirkten, wenn sie außerhalb des Gerichtssaales zu erleben waren. Prozessbeobachter Jürgen Diebäcker zog Ende April 1977 sein persönliches Schily-Fazit: "Vieles, was Schily in Stammheim sagte, hat sein Renommee ramponiert.

    Nach dem Selbstmord der vier Hauptangeklagten im Stammheimprozess verlässt Otto Schily nicht für lange die Bühne der Öffentlichkeit. Er, der als Rechtsvertreter von Terroristen viel Hass aus der Bevölkerung auf sich gezogen hatte, begründet die Grünen mit und wird als einer der ersten von ihnen Mitglied des Deutschen Bundestages. Und hier wird der Anwalt zum Staatsanwalt. Im Flick-Untersuchungsausschuss klagt er die sogenannten etablierten Parteien an und deckt Machenschaften zwischen Politik und Wirtschaft auf. Doch so viel Profilierung wird bei den Grünen, die damals noch die Rotation ihrer Mandatsträger verfechten, nicht gerne gesehen. Es kommt zu Spannungen zwischen der jungen Partei und einem ihrer Stars. Und Otto Schily ist niemand, der geliebt werden will. Um Zustimmung zu buhlen, ist ihm genau so wesensfremd wie die Pflege seines Wahlkreises und seines Heimatverbandes. Die Ehe zwischen dem selbstbewussten und oft selbstgefälligen Großbürger und der sich noch als Graswurzelbewegung definierenden Partei konnte nicht lange gut gehen. Und Schily läutet die Scheidung selbst ein. Bei den Grünen ohne Aufstiegsperspektive geht er 1989 zur SPD. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten etabliert sich der Genosse ohne Stallgeruch dort als Anhänger von Law and Order. Als Verhandlungsführer der SPD zum sogenannten Großen Lauschangriff stellt er das Recht des Staates vor das des Bürgers, was besonders die ostdeutschen Sozialdemokraten empört, die Parallelen zu ihren Erfahrungen mit der Stasi ziehen. Doch die innerparteilichen Kritiker werden von Schily in altgewohnter Manier abgebürstet.

    Schily zeigte kein Verständnis für solche ostdeutschen Skrupel. Im Gegenteil, er hielt es für unverschämt, dass Höppner, assistiert von Landsmann Pfarrer Friedrich Schorlemmer, die Verhältnisse in der DDR mit den aktuellen Bemühungen besserer Verbrechensbekämpfung in Verbindung brachte. Es klang kurz angebunden, und so sollte es sich wohl auch anhören, als Schily an die unbestreitbaren Lauscherfolge der italienischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Mafia so erinnerte: "Für mich sind die Strafverfolger der Mafia in Italien überzeugender als Herr Höppner und Herr Schorlemmer." Schily belehrte seine Kritiker: Der moderne demokratische Staat sei nicht mehr der böse Leviathan, die wirklichen Gefahren gingen heute von großen kriminellen Organisationen aus. Wer von totaler Kontrolle des freien Bürgers durch den Überwachungsstaat rede, male Gespenster an die Wand, denn: "In der Demokratie droht heute nicht die Gefahr einer Übermacht, sondern eher einer Ohnmacht des Staates." Anders sprachen damals weder Kanther noch die CSU-Innen- und Rechtspolitiker.

    Und anders spricht Schily auch heute nicht, jetzt, wo er Innenminister ist. Er sei eben immer Vertreter eines starken Staates gewesen, so die These von Biograph Reinhold Michels. Auch als Terroristenanwalt und als grüner Ankläger gegen die gängige Praxis der Parteienfinanzierung sei die Basis seines Denkens und Handelns Recht und Gesetz gewesen. Diese Erklärung mag vordergründig befriedigen, den Menschen Otto Schily - das, was ihn antreibt und was seine Lebensphilosophie und seine Widersprüche ausmacht - erklärt es nicht.

    Reinhold Michels: Otto Schily. Eine Biographie. Erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt, München. 250 Seiten mit 20 Abbildungen für DM 39,80.