"Am Nachmittag sind mehrere hundert DDR-Bürger von Ungarn aus nach Österreich geflüchtet. Die etwa 200 bis 300 Männer, Frauen und Kinder nutzten eine Veranstaltung der Paneuropa-Bewegung. Als ein sonst geschlossenes Tor an der österreich-ungarischen Grenze für den Übergang der Veranstaltungsteilnehmer geöffnet werden sollte..."
Das Jahr 1989 war voll von ungewöhnlichen Geschichten. Im Frühjahr schon hatte die Opposition in Polen die kommunistischen Machthaber an den Runden Tisch diktiert. Am 19. August flohen beim paneuropäischen Picknick hunderte DDR-Bürger in den Westen. Vier Tage später bildete sich von Tallinn über Riga bis nach Vilnius eine 600 Kilometer lange, singende Menschenkette.
Durch das Baltikum tönte aus den Radios das Lied von den drei Schwestern, die am Meeresufer erwachen, um ihre Ehre zu verteidigen. Die Ereignisse waren nicht mehr aufzuhalten. Am 9. November fiel die Berliner Mauer. Am 25. Dezember wurde der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu zum Tode verurteilt und erschossen.
Und am 29. Dezember wählte die Nationalversammlung in Prag den Schriftsteller und Bürgerrechtler Václav Havel zum Staatspräsidenten der damaligen Tschechoslowakei.
"Auch ich habe gedacht, dass dieser Aufbruch in die Demokratie irreversibel ist. Nun muss man aber auch sagen, dass die damaligen Ereignisse gewaltig waren, die haben uns mitgerissen."
Euphorie ist längst verflogen
Der Journalist Reinhold Vetter war 1989 Korrespondent in Polen – und erlebte diese Zeit des Wandels hautnah mit:
"Die Euphorie ist längst verflogen, Ernüchterung und Enttäuschung haben sich breit gemacht, Politikverdrossenheit ist vielfach an die Stelle des politischen Gestaltungswillens getreten, Nationalismus blüht in Ost und auch in West, neue Grenzzäune werden in Europa errichtet, alte Grenzkontrollen wiederbelebt, die soziale Ungleichheit ist keineswegs verschwunden. Der kapitalistische und liberale Westen ist für viele Menschen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa nicht mehr besonders attraktiv, die Europäische Union noch weniger."
In seinem Buch "Der Preis des Wandels" zieht Reinhold Vetter nun Bilanz. Was wurde aus dieser Transformation, was aus den Hoffnungen der Menschen, wo stehen ihre Länder heute? Antworten findet der Journalist, indem er Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, aber auch Kroatien, Rumänien, Bulgarien sowie die baltischen Staaten in einzelnen Länderstudien in den Blick nimmt - auch den Sonderfall DDR. Er analysiert geschichtliche Bedingungen, die zum Systemwechsel führten, dann diesen selbst und schließlich die einzelnen Rechtssysteme. Er blickt auf Parteienlandschaften, auf die Wirtschaft – und darauf, wie sich jedes Land um seinen Sozialstaat kümmert. Aber auch mit den Zivilgesellschaften befasst sich der Autor, ebenso wie mit Religion und Minderheiten.
Auf den ersten Blick wirkt solch ein Vorhaben illusorisch, zu verschieden sind die historischen Zusammenhänge und Kulturtraditionen, die Sprachen. Vetter findet eine Analyse aber trotzdem möglich und nötig:
"Einerseits haben die Staaten, Völker, Gesellschaften im Osten Europas in den letzten Jahren enormes geleistet, und sie haben ja auch mehr oder weniger viel erreicht. Aber andererseits wurden auch große Opfer gebracht, die sogenannten Transformationsrezessionen in den frühen 90er Jahren haben zum Verlust von vielen Arbeitsplätzen geführt. In diesen Gesellschaften gibt es immer noch viele Enttäuschte und Ausgegrenzte. Also der Preis ist schon sehr hoch."
Vetter zeigt: 45 Jahre Kommunismus lassen sich nicht mal so eben überwinden, sondern prägen das Denken bis heute. In all diesen Ländern gibt es mal mehr, mal weniger Bürger, die autoritäre Systeme bevorzugen. In Polen und Ungarn ist die Dreiteilung der Staatsgewalt gefährdet. Aber auch die postkommunistischen Sozialdemokraten in Rumänien versuchen, die Justiz politisch zu instrumentalisieren. Vieles erinnert an die eigentlich überwundene Zeit. Vetter zeigt, wie die Finanzkrise 2008 – und die Flüchtlingskrise 2015 die Verunsicherung vor internationalen Verflechtungen noch vergrößerten:
"Bei den Auswirkungen solcher ökonomischen Krisen und bei der zu beobachtenden Dominanz von Westwaren in den Geschäften wächst natürlich in Teilen der Gesellschaft der Wunsch nach Abschottung, ebenso wie bei der Flüchtlingskrise, wobei ja einige der östlichen Länder bislang kaum betroffen waren."
Fehlendes Rechtsstaatsbewusstsein
Die Skepsis paart sich in vielen Ländern mit geringem Rechtsstaatsbewusstsein. Vetter kritisiert, dass Politiker – aber auch Journalisten - zu wenig dafür getan hätten, das Bewusstsein für Rechte und Pflichten des Staates – aber auch seiner Bürger - zu stärken:
"Schaut man auf die wichtigsten öffentlichen Institutionen, dann ist in all diesen Staaten das Ansehen des Parlaments, der Parteien, der Regierung sehr niedrig. Und das hat zwei Gründe: zum einen, dass diese Institutionen vielleicht schlecht arbeiten, zum anderen aber im Denken der Menschen nicht die Rolle spielen, die sie eigentlich spielen sollten."
Dennoch bleibt Reinhold Vetter optimistisch, was die Zukunft betrifft:
"Ich will mir das jetzt nicht als Orden an die Brust heften, aber ich habe in diesen Ländern so viel erlebt und viele Leute getroffen, interessante Leute, Dokumente gesammelt und Entwicklungen analysiert, und all das bringt mich dazu, eher optimistisch zu sein, ohne mir irgendetwas in die Tasche zu lügen für die nächsten Jahre."
Reinhold Vetter hat eine gelungene Analyse der Länder des europäischen Ostens seit 1989 vorgelegt. Dass es dem Autor ein Anliegen ist, den Menschen hierzulande die Augen zu öffnen für die Leistungen, die mit der Transformation vollbracht wurden, ist offensichtlich - und wichtig. Denn nur so werden aktuelle Entwicklungen verständlich.
Reinhold Vetter: "Der Preis des Wandels. Geschichte des europäischen Ostens seit 1989",
Herder Verlag, 336 Seiten, 24 Euro.
Herder Verlag, 336 Seiten, 24 Euro.