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Reise durch die Jahrhunderte auf der Suche nach dem Existenziellen

Lana und Andy Wachowski sowie Tom Tykwer haben sich zusammengetan und den 600-Seiten-Abenteuer- und Ideenroman "Der Wolkenatlas" von David Mitchell verfilmt. Entstanden ist kein perfekter Film, aber einer, der einen großen Sog entfaltet.

Von Hartwig Tegeler |
    Was der Mensch ist, was seine Natur? In der gesamten Spannbreite von Gefühlen, Affekten und Handlungsmustern? Von der Liebe über die Furcht und den Glauben bis zur grenzenlosen Habgier und Gewalt? Begeben wir uns, um eine Antwort zu finden auf nichts weniger, als eine Reise durch die Jahrhunderte, durch Vergangenheit, Gegenwart, in die Zukunft, sagen die Filmemacher Lana und Andy Wachowski und Tom Tykwer. Machen wir aus "Cloud Atlas" ein Sextett, eine Komposition aus sechs Erzählungen, die wir verweben. Und wie David Mitchells Romanvorlage sechs Sprachstile liefert, bieten die Wachowskis und Tykwer - Sextett wie gesagt -, sechs Filmgenres. Von der abenteuerlichen Reise eines Juristen Mitte des 19. Jahrhunderts auf einem Sklavenschiff.

    "Wir sind mit der Morgenflut in See gestochen."

    Bis zur tragischen Künstlerbiografie eines Komponisten.

    "Ich glaube, auf uns wartet noch eine andere Welt, Sixsmith. Eine bessere Welt! Und ich werde dort auf dich warten."

    Dieser Robert Frobisher muss seine Homosexualität in den 1930er-Jahren vor der Gesellschaft verstecken, doch er schreibt ein großes Werk, ein Sextett.

    "Ich nenne es das Wolken-Atlas-Sextett."

    Und weil im Film "Cloud Atlas" - "Wolken Atlas" - alle Teile direkt, indirekt, vorwärts, rückwärts oder kontrapunktisch verbunden werden. Moment, zugegeben, kurzer Stop: Was hier wahrscheinlich unübersichtlich, gar unverständlich klingt, wirkt zunächst genauso auch im Film, aber dann zieht er uns trotzdem in sich hinein. Also, weil in "Cloud Atlas" alles verbunden ist, durch die Erzählschichten hindurch, deswegen kann eine Journalistin Mitte der 1970er-Jahre in einem Anti-AKW-Thriller eine alte Platte mit dem Sextett finden und damit auch wiederfinden:

    "Das ist wirklich schön. Aber irgendwo habe ich das schon mal gehört!"

    Die Musik - für den Soundtrack komponiert von Tom Tykwer selbst -, zieht sich leitmotivisch durch den Film und stellt immer wieder die Verbindung her zu den Mosaiksteinen der anderen Erzählstränge, eine im Jahr 2144 beispielsweise, als paradoxerweise ein Klon …

    "Ich weiß, du bist Somni-451."

    … den Menschen ein Manifest der Hoffnung gibt. Oder noch einmal 200 Jahre später, als in der Postapokalypse ein neues archaisches Zeitalter angebrochen ist, wo Gewalt und Kannibalismus herrschen und die Menschen Hoffnung finden in der Botschaft des Klons Somni-451 aus der Vergangenheit.

    "Cloud Atlas" ist nicht chronologisch erzählt, sondern vergleichbar einem narrativem Staffellauf. Eine Geschichte beginnt, springt in die andere, dann wieder zurück, wieder vor, wieder zurück, der Actionthriller wird zum Science-Fiction-Film oder zur Farce à la "Einer flog über das Kuckucksnest" in einem Altenheim.

    Und die Schauspieler wie Halle Berry, Tom Hanks oder Susan Sarandon spielen in den Geschichten verschiedene Figuren mit unterschiedlichen Masken. Am Ende fügt sich alles zusammen zum großen Ganzen, in dem sich über Jahrhunderte hinweg dieselben existenziellen Fragen stellen. Und wir sollen lernen:

    "Unsere Leben gehören nicht uns. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir mit anderen verbunden. In Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft."

    Ach ja, dieser Ton! Der hat es in sich mit dem Pathos, eines, das sich sehr, sehr ernst nimmt und dem leider jede Distanzierung zu sich selbst fehlt. "Cloud Atlas" geht einem da ziemlich auf die Nerven und wirkt schlicht geschwätzig. Das ist Kinokitsch. Aber mal im Ernst: Hatte der Wachowski-Film "The Matrix", diese wunderbare Synthese aus Action und Philosophie, nicht ebenso Momente, die vor Pathos trieften? Was aber - und das Gleiche gilt nun genauso für das Wachowski-Tykwer-Werk "Cloud Atlas" -, was am Ende aber nicht mehr zählt, was wettgemacht wird durch die überwältigende Kinofantasie.

    "Cloud Atlas" ist mit seinen 172 Minuten fast drei Stunden opulente Kinozeit, manchmal hektisch, dann elegisch langsam geschnitten, montiert wie ein Musikstück. Sicher ist dieser Film auch größenwahnsinnig, aber eben auch ein ästhetischer Wurf, der etwas wagt, nämlich zu beschreiben, was "die Welt in ihrem Inneren zusammenhält". Und das als Fantasie über 1000 Jahre Menschheitsgeschichte.

    Das ist kein perfekter Film. Aber das ändert nichts dran, dass "Cloud Atlas" ein großes Epos ist, pathetisch, kitschig, nervig, wild, komplex, dann wieder dröhnend einfach. Und zugegeben, einige Mosaiksteine aus diesen sechs unterschiedlichen Filmgenres sind nicht immer originell, aber Tom Tykwer und die Geschwister Wachowski bieten in einer wunderbaren Weise das, was das Kino immer wieder braucht, um die nur ihm eigene Kraft des ´bigger than life´ entfalten zu können: Und das ist diese Bildgewalt, die uns in einen Sog zieht. Dem sich in "Cloud Atlas" bis zum Abspann zu entziehen: Ich muss es gestehen - keine Chance!