Christoph Ransmayrs "Atlas" - ein Meisterwerk, wie man vorausschicken darf - beginnt mit einem programmatischen Satz:
"Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt."
Die Phänomene der "Wirklichkeit" mögen chaotisch und zusammenhanglos sein, Gestalt und Struktur, vielleicht auch so etwas wie Sinn, nehmen sie erst an, wenn man von ihnen erzählt. Genau das tut Christoph Ransmayr in seinem Buch: In siebzig kurzen Geschichten - die längste umfasst 18 Seiten - berichtet der österreichische Autor von seinen Reisen und Begegnungen während der letzten Jahre und Jahrzehnte.
"Ich sah die Heimat eines Gottes auf 26° 28' südlicher Breite und 105° 21' Minuten westlicher Länge: eine menschenleere, von Seevögeln umschwärmte Felseninsel weit, weit draußen im Pazifik. Mehr als dreitausendzweihundert Kilometer waren es von diesen umbrandeten, baum- und strauchlosen Klippen ohne Süßwasser, ohne Gras, ohne Blütenpflanzen und Moos bis zur chilenischen Küste, von wo mein Schiff vor einer Woche mit Kurs auf Rapa Nui, die Osterinsel, ausgelaufen war."
Christoph Ransmayr: "Natürlich berichtet dieser Atlas nicht nur von äußeren, sondern auch von inneren Landschaften. Er ist nicht nur das Dokument einer Reise durch geografische Räume, sondern auch durch Seelenräume und vor allem auch eine Reise durch die Zeit, durch meine Zeit, meine Lebenszeit."
Jede der siebzig ransmayrschen Erzählungen beginnt mit den Worten "Ich sah". Das klingt feierlich und lakonisch zugleich, nach alttestamentarischem Pathos und nüchternem Zeitzeugenbericht in einem.
Ob Ransmayr auf der Chinesischen Mauer dahinwandert und in the middle of nowhere einen walisischen Hobby-Ornithologen trifft, der die Vogelwelt Nordchinas erkundet, ob er das Lenin-Mausoleum in Moskau besucht oder eine andalusische "Corrida", ob er in einem laotischen Langboot den Mekong befährt oder mit einem russischen Atomeisbrecher in Richtung Nordpol aufbricht: Sein Schreibzeug hat der Autor stets mit dabei:
"Ich habe ja keine großen Schreibinstrumente bei mir, sondern immer nur ein brusttaschenfüllendes Notizbuch und immer nur einen Bleistift. Ich schreibe ausschließlich mit Bleistift. Denn nur der Bleistift lässt einen Zeichen setzen, die unter Umständen auch schweren Schneefall oder Überschwemmungen überdauern. Denn gerade die Bleistiftschrift, die sich so leicht löschen und ausradieren lässt, ist die allerbeständigste Schrift, verglichen mit zum Beispiel einem in Tinte hingesetzten Schriftzug."
Seinen Geschichten-Atlas dürfe man gern kreuz und quer lesen, sagt Christoph Ransmayr. Eine systematische Lektüre von vorne nach hinten betrachtet der Autor nicht als verpflichtend.
Christoph Ransmayr: "In welcher Art und Weise ein Leser oder Reisender mit diesem Atlas sich durch eine Welt - es ist ja eine sehr individuelle Welt - bewegt, ist völlig ihm überlassen."
Als Schauplatz der ransmayrschen Erzählungen kommt immer wieder auch das oberösterreichische Traunviertel ins Blickfeld, die Kindheitslandschaft des Autors.
"Ich sah eine weinende Frau in der Sakristei der Pfarrkirche von Roitham, einem oberösterreichischen Voralpendorf in Sichtweite von Gebirgszügen mit Namen wie ,Höllengebirge' und ,Totes Gebirge'. Die Frau war gekommen, um mit dem Pfarrer, der eben seine scharlachroten Messgewänder anlegte, den Tag, die Stunde und die Chorgesänge für das Begräbnis ihres einzigen Sohnes festzulegen. Der Siebzehnjährige war am Vorabend im Schlafzimmer seiner Eltern von einem Gendarmen erschossen worden."
In Roitham bei Gmunden ist Christoph Ransmayr als einer von drei Söhnen des ortsansässigen Dorfschullehrers aufgewachsen. Den Erschossenen, einen Dorfrowdy namens Adi, hat der damals sieben- oder achtjährige Ministrant Ransmayr nicht nur gekannt, sondern seiner notorischen Aufsässigkeit wegen auch bewundert. Adi hatte den Zorn der Roithamer Gendarmerie auf sich gezogen, weil er im Vollrausch seine Notdurft auf den Stufen des örtlichen Kriegerdenkmals verrichtet hatte. Die Folge: Der junge Mann wurde, nachdem er sich auf der Flucht im elterlichen Schlafzimmer verschanzt hatte, von einem Gendarmen regelrecht abgeknallt. Nur eine von mehreren Oberösterreich-Geschichten, die Ransmayr seinem Atlas eingeschrieben hat.
Christoph Ransmayr: "Wenn man zum Beispiel die Landschaften meiner Kindheit nimmt, wenn man die in Proportion setzen würde zu dem anderen, was ich beschreibe, müsste diese Landschaft die Größe eines Kontinents haben. Aber ich habe natürlich darauf geachtet, dass diese Geschichten im Buch nicht im Block vorkommen, sondern dass sie so vorkommen, wie sie mir beim Reisen, beim Wandern und Gehen immer wieder vorkommen: An verschiedenen Stellen ist man nämlich plötzlich zu Hause."
Nicht nur im Guten, auch im Schlechten. Christoph Ransmayr ist weit davon entfernt, seine oberösterreichische Heimat zur voralpinen Postkartenidylle zu verklären: Nicht weit von Ransmayrs Heimatort entfernt, in Fischlham bei Lambach, zum Beispiel hat Ransmayrs Landsmann Adolf Hitler in den 1890er Jahren entscheidende Kindheitsjahre verbracht.
Christoph Ransmayr: "Wenn ich beispielsweise vor einer Schädelstätte, einem Mahnmal in Kambodscha stehe, einem sieben, acht Meter hohen Glasturm, der voll ist mit Schädeln und Gebeinen von erschlagenen Pol-Pot-Opfern, dann stehe ich davor und bin einerseits bei dem, was in Kambodscha geschehen ist, ich habe viele Schicksale und Geschichten gesammelt von Menschen, die unter Pol Pots Schreckensregime Ungeheuerliches erlitten haben. Zugleich aber bin ich auch zu Hause, wenn ich dieses Mahnmal sehe, ich bin in der Nachbarschaft des Orts, an dem ich groß geworden bin, ich bin im Konzentrationslager Ebensee am Traunsee, bin im KZ Mauthausen und denke an das KZ-Nebenlager Redl-Zipf. Und dann denke ich: Ich bin eigentlich in Kambodscha groß geworden."
Auffallend an Ransmayrs Erzählungen ist die exponierte Rolle, die der Autor der Tierwelt zuweist. Ob er über die Singvögel Nordchinas schreibt oder über die Begegnung mit einer Buckelwalkuh beim Schnorcheln vor der Nordküste der Dominikanischen Republik, ob er Tausenden und Abertausenden von Silberlachsen beim Sterben am Oberlauf eines kanadischen Flusses zusieht oder dem Gesang der Zikaden in den Sankei-Gärten Yokohamas ein erzählerisches Denkmal setzt: Zu Tieren scheint Ransmayr eine besondere Affinität zu haben.
"Ich bin ja auf dem Dorf aufgewachsen, und da gab es immer eine besondere Nähe zu Tieren. Und zwar nicht nur zu domestizierten, sondern auch zu allen möglichen Wildtieren. Da gab es den Fluss Traun, in dessen Auen ich viel, viel Zeit verbracht habe, und von daher habe ich diesen fundamentalen Unterschied zwischen meiner Existenz und der Existenz von Haus- oder Wildtieren nie so stark empfunden. Als Kind war ich von indianischem Selbstverständnis erfüllt, wenn man so will, und ich habe immer auch versucht, in Tieren so etwas wie 'Personen' zu entdecken."
Die Poesie der ransmayrschen Texte, so will es scheinen, ist bei allem Realismus, der sie auszeichnet, auch der Poesie des Traums verwandt.
"Aber tatsächlich ist ja das Erzählen immer wieder ganz dicht am Träumen, weil ja vieles, von dem, was einer Erzählung im günstigsten Fall ihre Tiefe gibt, in Schichten des Bewusstseins und der Erinnerung hinabreicht, die sich unserer unmittelbaren Kontrolle entzieht."
Christoph Ransmayrs "Atlas eines ängstlichen Mannes" ist ein besonderes Buch: ein farbensattes Epos in siebzig Fragmenten, ein Zauberbuch der Globalisierung, eine literarische Traumreise zu den Rändern und Peripherien unseres Planeten, manchmal auch in dessen Zentren, ein Buch, das seiner sprachlichen Meisterschaft und der Vielschichtigkeit des Erzählten wegen zu den herausragenden Neuerscheinungen dieses Herbsts gerechnet werden darf.
"Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt."
Die Phänomene der "Wirklichkeit" mögen chaotisch und zusammenhanglos sein, Gestalt und Struktur, vielleicht auch so etwas wie Sinn, nehmen sie erst an, wenn man von ihnen erzählt. Genau das tut Christoph Ransmayr in seinem Buch: In siebzig kurzen Geschichten - die längste umfasst 18 Seiten - berichtet der österreichische Autor von seinen Reisen und Begegnungen während der letzten Jahre und Jahrzehnte.
"Ich sah die Heimat eines Gottes auf 26° 28' südlicher Breite und 105° 21' Minuten westlicher Länge: eine menschenleere, von Seevögeln umschwärmte Felseninsel weit, weit draußen im Pazifik. Mehr als dreitausendzweihundert Kilometer waren es von diesen umbrandeten, baum- und strauchlosen Klippen ohne Süßwasser, ohne Gras, ohne Blütenpflanzen und Moos bis zur chilenischen Küste, von wo mein Schiff vor einer Woche mit Kurs auf Rapa Nui, die Osterinsel, ausgelaufen war."
Christoph Ransmayr: "Natürlich berichtet dieser Atlas nicht nur von äußeren, sondern auch von inneren Landschaften. Er ist nicht nur das Dokument einer Reise durch geografische Räume, sondern auch durch Seelenräume und vor allem auch eine Reise durch die Zeit, durch meine Zeit, meine Lebenszeit."
Jede der siebzig ransmayrschen Erzählungen beginnt mit den Worten "Ich sah". Das klingt feierlich und lakonisch zugleich, nach alttestamentarischem Pathos und nüchternem Zeitzeugenbericht in einem.
Ob Ransmayr auf der Chinesischen Mauer dahinwandert und in the middle of nowhere einen walisischen Hobby-Ornithologen trifft, der die Vogelwelt Nordchinas erkundet, ob er das Lenin-Mausoleum in Moskau besucht oder eine andalusische "Corrida", ob er in einem laotischen Langboot den Mekong befährt oder mit einem russischen Atomeisbrecher in Richtung Nordpol aufbricht: Sein Schreibzeug hat der Autor stets mit dabei:
"Ich habe ja keine großen Schreibinstrumente bei mir, sondern immer nur ein brusttaschenfüllendes Notizbuch und immer nur einen Bleistift. Ich schreibe ausschließlich mit Bleistift. Denn nur der Bleistift lässt einen Zeichen setzen, die unter Umständen auch schweren Schneefall oder Überschwemmungen überdauern. Denn gerade die Bleistiftschrift, die sich so leicht löschen und ausradieren lässt, ist die allerbeständigste Schrift, verglichen mit zum Beispiel einem in Tinte hingesetzten Schriftzug."
Seinen Geschichten-Atlas dürfe man gern kreuz und quer lesen, sagt Christoph Ransmayr. Eine systematische Lektüre von vorne nach hinten betrachtet der Autor nicht als verpflichtend.
Christoph Ransmayr: "In welcher Art und Weise ein Leser oder Reisender mit diesem Atlas sich durch eine Welt - es ist ja eine sehr individuelle Welt - bewegt, ist völlig ihm überlassen."
Als Schauplatz der ransmayrschen Erzählungen kommt immer wieder auch das oberösterreichische Traunviertel ins Blickfeld, die Kindheitslandschaft des Autors.
"Ich sah eine weinende Frau in der Sakristei der Pfarrkirche von Roitham, einem oberösterreichischen Voralpendorf in Sichtweite von Gebirgszügen mit Namen wie ,Höllengebirge' und ,Totes Gebirge'. Die Frau war gekommen, um mit dem Pfarrer, der eben seine scharlachroten Messgewänder anlegte, den Tag, die Stunde und die Chorgesänge für das Begräbnis ihres einzigen Sohnes festzulegen. Der Siebzehnjährige war am Vorabend im Schlafzimmer seiner Eltern von einem Gendarmen erschossen worden."
In Roitham bei Gmunden ist Christoph Ransmayr als einer von drei Söhnen des ortsansässigen Dorfschullehrers aufgewachsen. Den Erschossenen, einen Dorfrowdy namens Adi, hat der damals sieben- oder achtjährige Ministrant Ransmayr nicht nur gekannt, sondern seiner notorischen Aufsässigkeit wegen auch bewundert. Adi hatte den Zorn der Roithamer Gendarmerie auf sich gezogen, weil er im Vollrausch seine Notdurft auf den Stufen des örtlichen Kriegerdenkmals verrichtet hatte. Die Folge: Der junge Mann wurde, nachdem er sich auf der Flucht im elterlichen Schlafzimmer verschanzt hatte, von einem Gendarmen regelrecht abgeknallt. Nur eine von mehreren Oberösterreich-Geschichten, die Ransmayr seinem Atlas eingeschrieben hat.
Christoph Ransmayr: "Wenn man zum Beispiel die Landschaften meiner Kindheit nimmt, wenn man die in Proportion setzen würde zu dem anderen, was ich beschreibe, müsste diese Landschaft die Größe eines Kontinents haben. Aber ich habe natürlich darauf geachtet, dass diese Geschichten im Buch nicht im Block vorkommen, sondern dass sie so vorkommen, wie sie mir beim Reisen, beim Wandern und Gehen immer wieder vorkommen: An verschiedenen Stellen ist man nämlich plötzlich zu Hause."
Nicht nur im Guten, auch im Schlechten. Christoph Ransmayr ist weit davon entfernt, seine oberösterreichische Heimat zur voralpinen Postkartenidylle zu verklären: Nicht weit von Ransmayrs Heimatort entfernt, in Fischlham bei Lambach, zum Beispiel hat Ransmayrs Landsmann Adolf Hitler in den 1890er Jahren entscheidende Kindheitsjahre verbracht.
Christoph Ransmayr: "Wenn ich beispielsweise vor einer Schädelstätte, einem Mahnmal in Kambodscha stehe, einem sieben, acht Meter hohen Glasturm, der voll ist mit Schädeln und Gebeinen von erschlagenen Pol-Pot-Opfern, dann stehe ich davor und bin einerseits bei dem, was in Kambodscha geschehen ist, ich habe viele Schicksale und Geschichten gesammelt von Menschen, die unter Pol Pots Schreckensregime Ungeheuerliches erlitten haben. Zugleich aber bin ich auch zu Hause, wenn ich dieses Mahnmal sehe, ich bin in der Nachbarschaft des Orts, an dem ich groß geworden bin, ich bin im Konzentrationslager Ebensee am Traunsee, bin im KZ Mauthausen und denke an das KZ-Nebenlager Redl-Zipf. Und dann denke ich: Ich bin eigentlich in Kambodscha groß geworden."
Auffallend an Ransmayrs Erzählungen ist die exponierte Rolle, die der Autor der Tierwelt zuweist. Ob er über die Singvögel Nordchinas schreibt oder über die Begegnung mit einer Buckelwalkuh beim Schnorcheln vor der Nordküste der Dominikanischen Republik, ob er Tausenden und Abertausenden von Silberlachsen beim Sterben am Oberlauf eines kanadischen Flusses zusieht oder dem Gesang der Zikaden in den Sankei-Gärten Yokohamas ein erzählerisches Denkmal setzt: Zu Tieren scheint Ransmayr eine besondere Affinität zu haben.
"Ich bin ja auf dem Dorf aufgewachsen, und da gab es immer eine besondere Nähe zu Tieren. Und zwar nicht nur zu domestizierten, sondern auch zu allen möglichen Wildtieren. Da gab es den Fluss Traun, in dessen Auen ich viel, viel Zeit verbracht habe, und von daher habe ich diesen fundamentalen Unterschied zwischen meiner Existenz und der Existenz von Haus- oder Wildtieren nie so stark empfunden. Als Kind war ich von indianischem Selbstverständnis erfüllt, wenn man so will, und ich habe immer auch versucht, in Tieren so etwas wie 'Personen' zu entdecken."
Die Poesie der ransmayrschen Texte, so will es scheinen, ist bei allem Realismus, der sie auszeichnet, auch der Poesie des Traums verwandt.
"Aber tatsächlich ist ja das Erzählen immer wieder ganz dicht am Träumen, weil ja vieles, von dem, was einer Erzählung im günstigsten Fall ihre Tiefe gibt, in Schichten des Bewusstseins und der Erinnerung hinabreicht, die sich unserer unmittelbaren Kontrolle entzieht."
Christoph Ransmayrs "Atlas eines ängstlichen Mannes" ist ein besonderes Buch: ein farbensattes Epos in siebzig Fragmenten, ein Zauberbuch der Globalisierung, eine literarische Traumreise zu den Rändern und Peripherien unseres Planeten, manchmal auch in dessen Zentren, ein Buch, das seiner sprachlichen Meisterschaft und der Vielschichtigkeit des Erzählten wegen zu den herausragenden Neuerscheinungen dieses Herbsts gerechnet werden darf.