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Viola Ardone: „Ein Zug voller Hoffnung“
Reise in ein besseres Leben

Der siebenjährige Amerigo Speranza wird Ende der 1940er Jahre mit einem „Kinderzug“ von seiner Heimat Neapel nach Norditalien verschickt, weil es ihm dort besser gehen soll. Ein einschneidendes Erlebnis, von dem Viola Ardone Amerigo in kindlichem Ton erzählt.

Von Bettina Baltschev | 28.07.2022
    Viola Ardone: "Ein Zug voller Hoffnung"
    Ein Held namens Hoffnung: Amerigo Speranza aus dem armen Süden Italiens macht seinen Weg im reichen Norden. Aber es bleibt eine Traurigkeit in ihm. Viola Ardones Roman "Ein Zug voller Hoffnung" rührt an ein nationales Trauma. (Portraitfoto: Riccardo Siano / Cover: C. Bertelsmann)
    Der kleine rothaarige Junge, der in kaputten Schuhen durch Neapel läuft, trägt einen großen Namen: Amerigo Speranza. Amerigo wie Amerigo Vespucci, nach dem ein ganzer Kontinent benannt wurde. Speranza, wie man auf Italienisch die Hoffnung nennt. Doch sehr hoffnungsvoll ist das Leben nicht, das der Siebenjährige 1946 in einem Armenviertel führt. Er lebt allein mit seiner Mutter Antonietta, die Analphabetin ist und sich mehr schlecht als recht als Schneiderin durchschlägt. Der Vater, so erzählt sie ihrem Sohn, sei in Amerika und würde eines Tages mit vielen Geschenken heimkehren.
    Bis dahin müssen die italienischen Kommunisten mit einem anderen Glücksversprechen einspringen. Sie überreden Antonietta, ihren Sohn als eines von hunderten Kindern per Zug nach Norden zu verschicken. Dort soll er in einer Gastfamilie aufgepäppelt werden und eine ordentliche Schulbildung erhalten. In Modena kommt Amerigo bei Derna unter, einer Kommunistin, die ihm als Schlaflied „Bella Ciao“ vorsingt und ihn neu einkleidet, denn es ist kalt im Norden Italiens.
    „Ich betrachte mich in den neuen Kleidern im Spiegel und da steht einer, der zwar aussieht wie ich, der ich aber gar nicht bin. Die Dame zieht mir Mantel und Mütze an, sagt: „Warte“, und geht nach nebenan. Als sie zurückkommt, hat sie eine rote Anstecknadel mit dem gelben kleinen Kringel und dem Hammer in der Hand, so wie sie eine hat. Sie setzt sich neben mich und befestigt sie an meinem Mantel. Dasselbe Zeichen habe ich auf den Kommunistenfahnen in dem großen Gebäude in der Via Medina gesehen. Das heißt, jetzt bin ich auch ein Kommunist wie sie. Ob der blonde Mann die Süditalien-Frage wohl mittlerweile gelöst hat?“
    Armer Süden, reicher Norden
    Der blonde Mann, das ist einer der neapolitanischen Kommunisten, die Amerigo in den Zug gesetzt haben. Dass er die Süditalien-Frage, die auf die regionale Ungleichheit zwischen dem reicheren Norden Italiens und dem ärmeren Süden zielt, nicht lösen wird, kann der kleine Amerigo natürlich nicht wissen. Und dass Viola Ardone mit dem Roman „Ein Zug voller Hoffnung“ in ihrer Heimat ein großer Publikumserfolg gelungen ist, zeugt wohl auch davon, dass sie an einer nationalen Wunde rührt, die bis heute nicht heilen will.
    Da scheinen die Leser und Leserinnen auch nicht die formalen Schwächen gestört zu haben. Denn die Geschichte wird recht schematisch und erwartbar erzählt und dringt kaum in psychologische Tiefen vor. Amerigo verbringt in Modena viel Zeit bei Rosa, der Cousine Dernas, die natürlich eine große Familie und ein großes Herz hat. Hier bekommt er nicht nur reichliche Mahlzeiten und eine Geige geschenkt, sondern auch die liebevolle Aufmerksamkeit, die er bei seiner eigenen Mutter so schmerzlich vermisst hat. Doch als er nach ein paar Monaten wieder zu ihr zurückkehren muss, fühlt er sich wie ein Außenseiter.
    „Anfangs fragten alle: wo wart ihr denn, wie sprechen sie da oben, ist es dort kalt? Aber mit der Zeit spotteten sie nur noch, wenn sie uns kommen sahen: guckt mal, da kommen die beiden Nordler. Deshalb tauschen wir unsere Erinnerung nur noch untereinander aus, auf dem Weg zum Bahnhof.“
    Rückkehr als gemachter Mann
    Dort schauen sie sehnsuchtsvoll den Zügen Richtung Norden nach. Als Amerigos Mutter seine geliebte Geige verkauft, springt er schließlich auf einen der Züge auf. Wieder bei seiner Gastfamilie, nimmt er ihren Namen an und lässt sein Leben in Neapel hinter sich. Das erfährt man im letzten Kapitel des Buches, in dem wir Amerigo schließlich fünfzig Jahre später noch einmal begegnen. Mittlerweile ein berühmter Violinist, fährt er in seine Heimat, um auf der Beerdigung seiner Mutter zu spielen. Nun spricht er sie direkt an.
    „Vor deiner Haustür schlägt mir das Herz bis zum Hals und meine Hände sind eisig. Es ist nicht nur die Aufregung, nach all den Jahren wieder hier zu sein, oder der Schmerz, dass ich dich in diesem Raum weiß, auf dem Bett, das früher mal unseres war. Es ist die Angst. Angst vor dem Dreck, der Armut, der Not; Angst davor, ein Scharlatan zu sein, der ein Leben gelebt hat, das nicht seines war.“
    Viola Ardone schlüpft in ihrem Roman „Ein Zug voller Hoffnung“ immer in die Rolle Amerigo Speranzas. In den ersten drei Teilen lässt sie ihn im kindlichen Ton berichten. Das hat Charme, vermittelt aber die eigentliche Tragik der Kinderverschickung kaum. Denn anders als beispielweise Kully in Irmgard Keuns Roman „Kind aller Länder“ oder Kater in Ilse Molzahns „Der schwarze Storch“, fehlt Amerigo der naiv-entlarvende Blick auf seine Umwelt. Dass er hin und wieder „Traurigkeit im Bauch“ fühlt, reicht nicht aus, um echte Empathie zu entwickeln, Außerdem erfährt man fast nichts darüber, was es für die Mutter bedeutet, ihr Kind wegzugeben und auch die spätere Ansprache an die Verstorbene bleibt seltsam blass. So liest sich „Ein Zug voller Hoffnung“ von Viola Ardone wie ein gut gemachter Unterhaltungsroman, der trotz der berührenden und wirklich interessanten historischen Thematik nicht sonderlich beeindruckt. 
    Viola Ardone: „Ein Zug voller Hoffnung“
    Aus dem Italienischen von Esther Hansen
    C. Bertelsmann Verlag, München
    288 Seiten, 22 Euro