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Reise in ein versunkenes Land

Dirk Hempel schreibt in seinem Nachwort, diese Tagebücher "schildern den Weg des gerade entlassenen Häftlings zum erfolgreichen Schriftsteller" Walter Kempowski. Das stimmt – was die Chronologie betrifft. Allein, von "schildern" kann beim besten Willen keine Rede sein. Wir werden Zeugen eines Prozesses, der uns vor allem Rätsel aufgibt. Und das wahrscheinlich macht die Lektüre seiner Aufzeichnungen so aufregend.

Von Walter van Rossum |
    Am 7. März 1956 öffnen sich die Türen des Zuchthauses Bautzen, um Walter Kempowski zu entlassen. Da ist er noch nicht ganz 27 und hatte schon acht Jahre in finsterer Haft verbracht. Die russische Besatzungsmacht hatte ihn und seinen Bruder Robert 1948 wegen Spionage zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, seine Mutter Margarete sollte mit zehn davonkommen. Das Problem war und blieb: Walter Kempowski hatte sich aus Sicht der sowjetischen Behörden tatsächlich der Spionage schuldig gemacht. Er wollte Frachtpapiere aus der Reederei seines Vaters westlichen Geheimdiensten zuspielen, um zu dokumentieren, dass in Ostdeutschland mehr Güter demontiert wurden, als in den Vereinbarungen mit den Westalliierten vereinbart waren. Gewiss, kein weltbewegender Geheimnisverrat – eher ein Akt jugendlicher Wichtigmacherei, vielleicht auch der Versuch, sich ein Entree in den Westen zu erkaufen – doch die Zeichen standen auf Härte und so fiel die Strafe drakonisch aus.

    Man muss sich das vorstellen: 1929 geboren, war Walter zehn, als der Zweite Weltkrieg begann, und 16 bei Kriegsende. Drei Jahre improvisierte er ein Nachkriegsleben zwischen Ost und West und tritt mit 19 Jahren eine 25-jährige Haftstrafe an. Immerhin wurde er nach acht Jahren vorzeitig entlassen, sein Bruder auch, die Mutter hatte man bereits früher amnestiert. Mit 27 Jahren wird er also in ein Leben geschickt, in dem er bislang als Gast hospitiert hatte. Aus der Rekonstruktion seiner ersten Jahre wird später der Schriftsteller Kempowski entstehen.

    "Gestern Morgen öffnete sich das Tor, und ein ehemaliger Strafgefangener, zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, amnestiert, wird dem Leben gegeben. Einem unbegreiflichen Leben. Er alleine geht, und tausend bleiben. Hungern, werden schikaniert, entwürdigt, entmenscht. Einer bekommt Kleidung, wie sie zivilisierte Menschen tragen. Darf rauchen, so viel er will, wird in einen Zug gesetzt – nach Hamburg. (...) Am 8. März vor acht Jahren wurde ich unter dem Verdacht der Spionage in das NKWD-Gefängnis Rostock, John-Brinkmannstr., eingeliefert. Von acht Mann hoch um halb sechs aus dem Bett geholt. 18 Jahre alt."

    Wie nimmt man ein Leben auf, das man kaum je geführt hat? Wie lebt man unter Umständen, von denen man keine Ahnung haben durfte? Von solchen Schwierigkeiten berichten die Tagebücher, die Kempowski unmittelbar nach seiner Entlassung zu schreiben begann. In unregelmäßigen Abständen und in obskurer Mission: Mal halten die Aufzeichnungen seine Eindrücke fest, mal dienen sie als bloße Gedächtnisstütze - wann er wo gewesen sei -, dann und wann dienen sie bloßer Buchhaltung im wörtlichen Sinn: Verzeichnis von Einnahmen und Ausgaben nämlich.

    Der junge Mann sortiert sich erstaunlich schnell. Er reist nach Hamburg zu seiner Mutter und zu anderen Verwandten, die ihm nicht immer gut gesonnen sind. Sie machen ihn verantwortlich für die Haft des Bruders und vor allem der Mutter. In kurzer Zeit holt er sein Abitur nach und ist bald Student der Pädagogik in Göttingen. Wenige Monate nach seiner Entlassung lernt er Hildegard kennen – seine spätere Frau, ebenfalls eine angehende Grundschullehrerin. Alles im Lot!

    "Ach, das Leben macht Spaß. Ich wühle mich so richtig durch. Wie ein Kraulschwimmer. Leider komme ich aber noch nicht so richtig vorwärts. Es ist mehr ein Schaumschlagen."
    Schreibt er im Januar 1958. Häufig notiert er seine nächtlichen Träume. Als läge da ein magischer Schlüssel zu ihm selbst. In den Notizen der ersten Jahre spüren wir die Lebensunsicherheit des Verfassers, aber auch seine Schreibnot. Was er da zu Papier bringt, dürfte weder der Kontaktaufnahme mit dem eigenen Selbst dienlich gewesen sein, noch einer allgemeinen Lageerfassung: ein sprödes Verzeichnis reichlich allgemeiner Befindlichkeiten, leidenschaftslos und voll falscher Präzisionen. Die Aufregung des Lebens und die Unruhe der Welt sind eingefroren. Vielleicht ging es ja genau darum.

    "Locarno, 18. Mai 1957. – Ein ereignisreicher Tag. Ich fuhr zusammen mit dem finnischen Ehepaar und dem österreichischen Superintendenten (+ Frau) und dem inzwischen liebgewordenen englischen Ehepaar sowie mit der Amerikanerin und dem Dänen nach Lugano. Bitteren Herzens bezahlte ich die 7,10 Mark für die Fahrt. Es hat sich aber doch gelohnt. Die anderen fuhren alle weiter mit dem Schiff, und ich durchstreifte die Stadt. (...) Ich machte einige Aufnahmen. (..) Dann ging ich nach Paradiso raus, es war wirklich wundervoll."
    Man wird die ersten etwa 200 Seiten dieses Buches kaum mitreißend nennen können. Kempowski-Experten werden natürlich jede Menge Informationen über die Genese dieses Schriftstellers finden, der interessiert Laie kaum mehr als die Spuren einer Lebensverlegenheit und er wird gewiss den Selbstbeobachtungen zustimmen, die Kempowski am 6. Mai 1959 seinem Tagebuch anvertraut:

    "Ich blättere noch einmal das alte Tagebuch von 1956 durch. Was habe ich da zum Teil für einen Blödsinn geschrieben. Gewiss, ich war lange Zeit "unglücklich", und ich wollte diesen Zustand dem Tagebuch anvertrauen. Es wurde ein Pubertätsgestammel. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass mir schon während ich schrieb, der falsche Ton auffiel (...). Dieses Jahr hat für mich eine Wandlung gebracht. Mein Denken ist klarer geworden. Es wurde auch allmählich Zeit. Die Haftjahre waren eine ins Grenzenlose verlängerte Pubertätszeit. Bis 1954 war ich ganz bestimmt in der Pubertät. Und heute habe ich vielleicht erst den Rest abgestreift. Damit geht viel Schönes dahin. Aber die Klärung ist notwendig."

    Es stimmt: Der Ton hat sich geändert, auch der Blick auf die Dinge. Kempowski ist unterwegs. Auch wenn er nicht genau weiß, wohin. "Wenn das man gut geht." Ohne es selbst zu verstehen, sammelt er in seinen Tagebüchern den Stoff und die Themen, die er in den nächsten 50 Jahren abarbeiten wird. In verblüffend kurzer Zeit finden sich die ersten Skizzen für seine ersten Bücher: "Im Block" – die Geschichte seiner Haftzeit in Bautzen, dann stoßen wir auf Fragmente seiner "deutschen Chronik", seiner Familiengeschichte – am Schluss wird sie neun Bände zählen. Schließlich stößt man sogar auf erste Skizzen zum "Echolot", seiner monumentalen und einzigartigen Collage über den ZweitenWeltkrieg – bestehend aus nichts als Zeitungsausschnitten, Briefen, Radiomeldungen und Dokumenten unbekannter Zeitgenossen.

    Walter Kempowski ist 2007 im Alter von 78 Jahren gestorben. Noch zu Lebzeiten hat er vier Bände seiner Tagebücher veröffentlicht und zwar über die Jahre 1989 bis 2001. Die jetzt erschienenen Aufzeichnungen von 1956 bis 1971 hat er selbst nur noch teilweise redigiert. Im Gespräch mit Dirk Hempel, dem langjährigen Mitarbeiter, hatte er 2005 beschlossen, auch die frühen Tagebücher zu veröffentlichen. Dazu kam er aber dann nicht mehr. Hempel, der Herausgeber der vorliegenden Aufzeichnungen, hat bei der Veröffentlichung allerdings nicht nur die Tagebücher und Notizbücher berücksichtigt, sondern auch Briefe an Freunde, Verwandte und einen Verlagslektor. Das sind tatsächlich hochinteressante Ergänzungen. So gesehen handelt es sich um vom Herausgeber collagierte und redigierte Aufzeichnungen unterschiedlicher Art. Daran wäre wenig auszusetzen, hätte Hempel seine Editionsprinzipien etwas genauer dargelegt. Zum Beispiel finden sich an etlichen Stellen Auslassungszeichen. Was wurde hier ausgelassen und warum? In welchem Umfang fanden Kürzungen statt und welcher Art waren diese Kürzungen? Auf der anderen Seite vermisst man Annotationen zu bestimmten Ereignissen und Fakten – die sonst nur der Kempowski-Experte sofort versteht. Schließlich: Wer oder was ist "Simon Arzt"? Da muss man schon etwas älter sein und am besten Raucher – denn es handelt sich um eine Zigarettenmarke, die sich längst in Rauch aufgelöst hat. Und auch sonst wurde viel geraucht damals:

    "Mutter: Sie sei von Senoussi ganz abgekommen, man finde immer wieder zu Players zurück."
    Dirk Hempel schreibt in seinem Nachwort, diese Tagebücher "schildern den Weg des gerade entlassenen Häftlings zum erfolgreichen Schriftsteller". Das stimmt – was die Chronologie betrifft. Allein, von "schildern" kann beim besten Willen keine Rede sein. Wir werden Zeugen eines Prozesses, der uns vor allem Rätsel aufgibt. Diese Aufzeichnungen versorgen uns mit viel Material, aber eine Geschichte erzählen sie nicht. Wie Walter Kempowski der Schriftsteller Walter Kempowski wurde, das müssen wir uns selbst zusammenreimen. Und das wahrscheinlich macht die Lektüre seiner Aufzeichnungen so aufregend.
    Kaum hat Kempowski sich in Göttingen als Student eingerichtet, beginnt er zu schreiben. Nichts Geringeres als die Biografie seiner Mutter, die sich zur Familienchronik ausweitet.

    "Ich habe die Familie zerstört, nun suche ich sie auf Papier wiederaufzubauen. (...) So wäre dann also mein Bemühen um die Biografie ein sublimiertes Schuldgefühl. Daher dieser alles verzehrende Eifer!"

    Schreibt er im Januar 1960 in sein Tagebuch. Eifrig recherchiert er, nimmt Interviews auf Band auf, sammelt Material und bald entsteht der später so berühmte Zettelkasten – sein ausgelagertes Gedächtnis. Obendrein beginnt er, Geschichten zu schreiben und es wimmelt es in seinem Tagebuch von literarischen Ideen, Skizzen und Projekten. Woher rührt eigentlich sein Wunsch, zu schreiben? In seiner Jugend war er nicht grade von Literatur umzingelt. Eigentlich habe er ja schon immer schreiben wollen, behauptet er in einem allerdings nicht ganz ernst gemeinten Rückblick auf seine literarische Karriere 1962 in seinem Tagebuch:

    "Das erste Buch, das ich begann zu schreiben, hieß 'Hans'. Damals war ich zehn Jahre alt. Danach gab ich für den Zinnfigurenverein eine Zeitung 'Gloria' heraus. Diese Zeitung erschien sogar drei- oder vielmal. Sie enthielt Tauschangebote. Bücherbesprechungen, Hinweise auf Prospekte usw. Sie kostete zehn Pfennig. Zur gleichen Zeit schrieb ich ein Buch von etwa sechs Seiten. Es hieß: 'Was mancher nicht weiß' und war eine Sammlung von Kulturkuriosa, die ich in Zeitungen, Zeitschriften und Jahrbüchern aufgeschnappt hatte. (...) Bezeichnend war, dass ich meine Haft begann, dass ich – noch in der Einzelhaft – ein Buch mir ausdachte, das den Titel trug: 'Handbuch der Witzkunde'."
    Jetzt schreibt er an Erheblicherem. Und eines Tages geschieht etwas Verblüffendes. In seiner Haftzeit hatte er sich mit Hans Joachim Mund angefreundet, dem Gefängnispfarrer in Bautzen. Auch nach seiner Entlassung halten die Beiden Kontakt. Irgendwann hatte Kempowski Mund ein noch unfertiges Romanmanuskript zugeschickt – mit der Bitte um Kommentar. Mund war offenbar so angetan, dass er diesen Text ohne Rücksprache seinem Ziehsohn zuschickte – und der hieß: Fritz J. Raddatz, Cheflektor des Rowohlt Verlags. Und eines Tages kreuzten Mund und Raddatz einfach in Breddorf auf, wo Kempowski mit seiner Frau im Schulhaus wohnte. Raddatz war erklärtermaßen von diesem Romanfragment sehr angetan – auch wenn es gründlicher Überarbeitung bedürfe. Was Kempowski genauso sah. Um es vorwegzunehmen: Aus "Margot" – so der Arbeitstitel des Buches – wurde auch nach der x-ten Überarbeitung nichts. Der Text liegt heute ungedruckt im Kempowski-Archiv in Rostock. Doch die Begegnung mit Raddatz wurde für Kempowski zu einer Initialisierung, die schließlich in der Publikation seines ersten Romans 1969 mündete.

    Man kann nur staunen, wie viel Aufmerksamkeit Raddatz dem völlig unbekannten und offenkundig noch ziemlich unsicheren Autor schenkte und wie er ihm über Jahre die Treue hält.

    "Lieber Herr Raddatz, Es ist schwer zu sagen, wann es mit den Ergänzungen ein Ende haben wird. Ich zähle nun etwa 330 Seiten, und wenn es überhaupt möglich ist, eine Angabe in dieser Weise zu machen, so möchte ich sagen, dass wir vielleicht mit 400-450 Seiten rechnen können. Dann wird sich wahrscheinlich eine Ausschöpfung des Stoffes zeigen. Gerade in den letzten Wochen haben sich mir wieder Wege eröffnet, die mich Dinge aussprechen lassen, an deren Aussprechbarkeit ich nie gedacht hätte."
    Raddatz war sich seiner Sache vielleicht nicht ganz sicher und so beauftragte er eine Reihe von Sachverständigen mit Gutachten. Immerhin schien ihm der Fall so wichtig, dass er die Crème de la Crème der deutschen Literatur – bzw. Literaturkritik in den Zeugenstand rief: Hans Magnus Enzensberger, Joachim Kaiser, Peter Rühmkorf. Diese Gutachten sind in den Aufzeichnungen abgedruckt und in vielerlei Hinsicht sehr aufschlussreich. Sie führen uns zurück in eine Zeit, da die Literatur noch "Leitmedium" war. Anders kann man die Ausführlichkeit und Genauigkeit, mit der die drei Koryphäen sich dem Romanfragment eines völlig unbekannten Autors widmen, nicht erklären. Enzensberger und Rühmkorf waren durchaus angetan und plädierten dafür, den Autor als großes Talent im Auge zu behalten – auch wenn sie den Text in der vorliegenden Fassung nicht zur Veröffentlichung empfahlen.

    "Und in der Tat, auf kleinem Raume vermag der Autor dann durchaus zu überzeugen, zu faszinieren, zu entzücken. Obwohl er nämlich aufs Ganze gesehen den großen Faden immer wieder verliert, zeigt sich im schmalen Rahmen der Marionettenbühne, dass er seine Fäden sehr wohl exakt zu lenken und seine Figuren präzise zu dirigieren vermag. Wie da die Dinge und Personen aufeinander bezogen werden, die Menschen wie Puppen einherwandeln und die Gegenstände ein böses Eigenleben entfalten, das alles zeugt schon von dem großen Können eines Gemmenschneiders und von der Meisterschaft eines Miniaturmalers."
    Schrieb Peter Rühmkorf. Joachim Kaiser hingegen konnte dem Manuskript nur wenig abgewinnen. Jedenfalls hatte Kempowski jetzt drei Gewährsleute von Rang, die in ihm einen kommenden Schriftsteller begrüßten: Raddatz, Enzensberger und Rühmkorf.

    Nach Beendigung seines Studiums heiratete Kempowski seine langjährige Freundin Hildegard. Das Paar bewirbt sich auf eine Lehrerstelle in Breddorf – einem Nest ziemlich genau zwischen Hamburg und Bremen auf dem flachen Land, wo sie schließlich fünf Jahre lang lebten und wo ihre beiden Kinder geboren wurden. Kempowski war nie ein Intellektueller, den bloß die Umstände aufs Land verschlagen hätten. Vielmehr konnte es ihm gar nicht provinziell genug zugehen. Er brauchte und pflegte dieses Abseits – als hätte er Angst, im Lärm der Metropolen seine eigene Stimme nicht mehr zu verstehen.
    "Breddorf, Di. 10. November 1962. Wir leben ganz ruhig dahin. Draußen ist alles voll Rauhreif. Nebenan macht Renate, unsere Mädchen, die Stube sauber. Ich hab's in meinem Arbeitszimmer gemütlich. Überhaupt, die vielen Zimmer, das ist wohltuend. Immer kann man woandershin entwischen. – Ich beschäftige mich mit Geschichte, amerikanischer Geschichte. Habe eine Anzahl Bücher gekauft. Im Augenblick bin ich gerade krank, Mandelentzündung, habe also genügend Zeit, mich ihnen zu widmen. Wie überhaupt Zeit bei uns kein Mangelartikel ist, ganz im Gegensatz zu allen anderen Menschen, die über die Schnelllebigkeit der Zeit stöhnen und meinen, sie kommen nicht zur Ruhe. Na, deshalb bin ich ja auch Lehrer geworden."
    Kempowski war übrigens auch nicht der Typ Lehrer, der "eigentlich" zu Höherem, zur Kunst etwa, berufen war und nur der rohen Subsistenz halber sich gezwungen sah, Kinder zu unterrichten. Er war im Gegenteil ein leidenschaftlicher Lehrer, der seinen Beruf ernst nahm und der ihm obendrein Spaß machte. 1965 wird die Familie nach Nartum versetzt, ein paar Kilometer weiter Richtung Bremen. Da wird er bis an sein Lebensende wohnen. Auch wenn er Anfang der 80er-Jahre den Schuldienst quittierte.
    "Margot" – der erste Roman – wurde immer wieder umgeschrieben, ergänzt, gekürzt. Und wurde doch nie gedruckt. Im Gespräch mit dem überaus geduldigen Raddatz entstand schließlich eine andere Idee – nämlich von seiner Haftzeit zu erzählen und zwar in jenem Stil, für den Kempowski später zu Recht so berühmt wurde: der Collage aus persönlichen Erinnerungen und zeitgenössischen Dokumenten. Das ist seine Welt. Und in Wahrheit hat er die ganze Zeit schon daran gearbeitet:

    "Wichtig ist, dass man sich als Schriftsteller Elemente schafft, mit denen man dann, als eine eigene Welt, arbeitet, in der man lebt. (...) Bei mir: ein naiver Mensch, ein Parzival, wenn man so will, geht mit vorurteilsfreiem Staunen durch dies Erlebnis, registriert das Wunderliche, das Bemerkenswerte, das Eigenartige."

    Tagebuch heißt im Französischen "journal intime". Die frühen Tagebücher des Walter Kempowski sind nicht intim – zumindest nicht im unmittelbaren Wortsinn.

    "Nartum, Mi 19. März 1969. – Mutter gestorben, 7 Uhr früh. Hat noch Nahrung gekriegt, Puls ging sehr schwach. Bin froh, dass ich gestern noch da war. Raddatz einverstanden mit "Strom" abschnittsweise. – [Kapitel] "Umgang" verschwunden. Richter hat schlimmen Brief geschickt. Armin Geburtstag."
    Man weiß, wie sehr Kempowski seine Mutter geliebt und wie sehr ihn ihr Tod geschmerzt hat. Doch auch jetzt wird das Tagebuch nicht zum Verhandlungsort des Innenlebens. Ganz im Gegenteil!
    Diese um Briefe erweiterte Tagebuchaufzeichnungen von 1956-1970 zeugen vom Geschäftsgang eines Lebens – des Lebens von Walter Kempowski: ein großer, ein sonderbarer Schriftsteller. Keine Frage, dass die Verehrer seines Werkes hier den unmittelbarsten Zugang zu seiner Person finden. Uneingeweihteren Lesern könnte die Lektüre das Vergnügen einer Reise in ein versunkenes Land schenken: die Bundesrepublik Deutschland vor 1970.

    Walter Kempowski: "Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956 – 1970". Herausgegeben von Dirk Hempel. Knaus. München 2012. 625 Seiten. Euro 29,99