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Reisender aus Leidenschaft

So wie der Gang des Tausendfüßlers, so verdankt sich auch Cees Nootebooms Werk dem wundersamen Zusammenspiel sehr vieler Elemente und Körperteile. Es sind die mannigfaltigen Formen - vom Epos und Roman bis hin zum Gedicht und Haiku, das eine Mal eher weit ausladend und mit langem Atem, das andere Mal extrem kompakt, raum-, zeit- und buchstabensparend -, die den Sprachkörper des niederländischen, jetzt 75 Jahre alt gewordenen Schriftstellers bilden.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 18.06.2008
    Cees Nooteboom - ein Name mit vielen e und o, lautlich erinnernd an Notebook. Und sein Leben hat auch etwas von einem Buch - aus Notiertem, in der Bewegung Festgehaltenem - an sich. Nun ist, zu Lebzeiten noch, die umfangreiche, sorgfältig edierte und kommentierte Ausgabe seiner Werke (mit allein vier Bänden "Auf Reisen") abgeschlossen. "Abgeschlossen"? Angesichts seiner Leidenschaft für das Unterwegssein hätte man das geradezu monumentale Unternehmen auch Wege nennen können, wie Martin Heidegger seine eigene Werkausgabe gerne betitelt gesehen hätte.

    "Irgendwann einmal ... habe ich begriffen, dass die Welt mit all ihrem Drama und ihrer närrischen Schönheit und ihrem atemberaubenden Wirbel von Ländern, Menschen und Geschichten selbst eine Reisende ist in einem ständig reisenden Universum, eine Reisende auf dem Weg zu neuen Reisen, oder, wie Ibn Al Arabi sagt: 'Sobald du ein Haus siehst, sagst du, hier will ich bleiben, aber kaum bist du dort angekommen, hast du es schon wieder verlassen, um dich auf den Weg zu machen."

    Also, gehen wir einmal davon aus, dass der Abschluss einer solchen Ausgabe dem Autor nicht das Signal aussendet "Es ist vollbracht", sondern von ihm eher als Botschaft verstanden wird, im Sinne von "Schau, das ist dir schon gelungen, es ist angenommen worden, weiter so." Die wenigen Schriftsteller, denen diese Ehre widerfahren ist, haben diesen Augenblick ja auch eher kreativ überlebt.

    Der nun vorliegende neunte Band der 2003 begonnen "Gesammelten Werke" vereint Prosaarbeiten und zum Teil neue Gedichte aus den Jahren 2005-2007. Kernstücke sind der Roman "Paradies verloren" sowie Reisegeschichten und Essays (immer aus einer Nähe zu den Menschen und den Dingen, aus grenzenloser Neugierde auf den Fremden und das Fremde heraus geschrieben) und schließlich eine Sammlung von impressionistischen, assoziativ erzählenden Skizzen zu Gräbern berühmter Dichter und Denker. Eine Kultur- und Literaturgeschichte vom Ende her aufgerollt.
    Zum Beispiel der Gang über den Friedhof von Montparnasse zum Grab Baudelaires, Becketts, Ionescos und des leider viel zu wenig bekannten Dichters Emmanuel Bove, der auf diese Weise noch einmal geehrt wird, in Wien zu Thomas Bernhards Ruhestätte, natürlich zu Walter Benjamin, zu den Toten auf dem berühmten Père Lachaise oder San Michele, zu Brecht oder Kleist in Berlin, einer Stadt, mit der sich Nooteboom besonders eng verbunden fühlt. Einmal spricht er von seinen "drei festen Weideplätzen" Amsterdam, Spanien und Berlin.

    "Berlin. Ein Herbsttag vor ein paar Jahren. Ob dies schon das Grab selbst ist oder nur ein Gedenkstein an der Stätte des Unheils, weiß ich nicht. Hier haben Kleist und seine Geliebte, Henriette Vogel, Selbstmord begangen. ... Man möchte etwas denken, weiß aber nicht so recht, was. Die Toten und ihr leidenschaftlicher Augenblick bleiben unerreichbar, und vielleicht fließen ja all die ohnmächtigen Gedanken, die einem kommen, in diesem einen Wort ('Ach') zusammen, das der Dichter so oft gebraucht hat, bis es ihm fast allein gehörte."

    Diese Texte, die erstmals 2006 in einer schönen und reich bebilderten Ausgabe - die Fotografien stammen von Nootebooms Lebensgefährtin Simone Sassen - erschienen, zeigen Nootebooms literarisches Grundprinzip, beim Erlebten, Beobachteten, Wahrgenommenen zu beginnen und von daher der Imagination und Phantasie zu folgen, sowie seine große Fähigkeit, selbst den Toten kraft der Sprache noch einmal Leben einzuhauchen, das heißt, ihnen ein Fortdauern in der Form des Textes, der angedenkenden Sprache, zu ermöglichen.

    Dies trifft auch auf Landschaften und Städte, auf Traditionen und ganze Kulturen zu, die - mögen sie auch noch so stark in ihrem Fortleben bedroht sein - von dem immer noch rastlos Reisenden Nooteboom in ihrer Vitalität beschrieben werden und denen er auf diese Weise eine Zukunft verspricht.

    "... woraus besteht eine Stadt? Aus allem, was in ihr gesagt, geträumt, zerstört, geschehen ist. Aus dem Gebauten, dem Verschwundenen, dem Geträumten, das nie verwirklicht wurde. Aus dem Lebenden und dem Toten. Aus den Holzhäusern, die abgerissen wurden oder verbrannten, den Palästen, die hier hätten stehen können. ... Aus den Häusern, die hier noch heute stehen, in denen Generationen ihre Erinnerungen zurückgelassen haben. Aber sie ist viel mehr als dies. Eine Stadt, das sind alle Worte, die dort je gesprochen wurden, ein unaufhörliches, nie endendes Murmeln, Flüstern, Singen und Schreien, das durch die Jahrhunderte hier ertönte und wieder verwehte."

    Rüdiger Safranski, einer von Nootebooms engsten Freunden, hat ein schönes, kenntnisreiches Brevier mit einer bunten Auswahl aus dem Gesamtwerk zusammengestellt. Besonders anschaulich wird, dass der in Wahrnehmungen und Situationen verliebte Nooteboom aber auch Ideen schätzte, sofern er ihnen ein Gesicht und einen Ort verleihen konnte. Der Titel, ein Zitat von Nooteboom, "Ich hatte tausend Leben und nahm nur eines", trifft die gestalterische Vielfalt im Leben und Schreiben dieses Autors; er lehnt sich an eine Gedichtzeile von Nooteboom an, die aber noch um ein fragendes "wohl" ("Ich hatte wohl ...") erweitert ist. Das ist nicht unwichtig, denn der Titel stellt sich auch ein Stück weit selbst in Frage. Nooteboom hat doch die Vielgestaltigkeit exzessiv gelebt und sich nicht auf einen Aspekt des Lebens und Schreibens beschränkt. Nur weil die meisten Biographien auf Eindeutigkeit und Gradlinigkeit getrimmt werden, erscheint uns jemand wie Cees Nooteboom als schillernd, wenig greifbar, ja, als exotisch, wie ein bunter Vogel, sich selbst und das Geschehen skeptisch betrachtend:

    "Bin ich wirklich dort gewesen? Habe ich wirklich dort gestanden ... Habe ich die Hitze des Sandes gespürt? Habe ich beim Kalifen gespeist?"

    Nooteboom, der die mediale Präsenz weitgehend verweigert, ist dennoch sehr gegenwärtig: als Autor. Unübersehbar sein kreatives Selbstbewusstsein, sein Zutrauen, dichtend der Welt ein Gesicht zu verleihen, das mehr zeigt als nur die fratzenhaften Züge einer von Gewalt und Zerstörung dominierten Nach-Moderne.

    Nooteboom ist, das machen dieser Abschlussband und das Brevier noch einmal überdeutlich, ein Kosmopolit, einer, der in vielen Welten und Sprachen lebt, in der Weite bei sich ist wie andere in ihrem Dorf. Die Welt ist sein Zuhause, die Menschen seine Familie. Er ist ein, nein, kein Universalgelehrter, sondern Universal-Poet. Reisend und dichtend leistet er einen Beitrag zur enzyklopädischen Erfassung der Kulturen, Haltungen, Riten. Dabei sind seine "Geistesblitze" (wie Safranski sie nennt) keine Schreibtischtaten, sondern stets gebunden an die existentielle Reisebewegung. Und so muss denn auch der Herausgeber des "Breviers" immer noch so tief von dieser Leidenschaft beeindruckt sein, dass er eine Passage gleich zweimal aufführt:

    "Reisen hat stets ein Element des Brutalen, Neugierigen, Ungehörigen an sich. Man mischt sich in Gesellschaften, deren feine Nuancen, Soziolekte, Sitten, Eigentümlichkeiten man nicht ganz verstehen kann und nie ganz verstehen wird, und in diesem Sinne ist man ein Eindringling."

    Nooteboom, ein "fresssüchtiger" Reisender und Leser, so sieht er sich selbst. Wenn beim Sich-Einverleiben etwas entsteht, das andere, aus der Distanz, genießen können, ist gegen diese Sucht nichts einzuwenden.

    Wenn man sein Werk liest, könnte man auf den Gedanken kommen, dieser Autor hat, als er auf die Welt kam, zuerst einen Satz geschrieben, zumindest eine Notiz gemacht, ehe er zu atmen anfing. So leicht und selbstverständlich beginnen seine Geschichten, so fein sind seine Sinnesorgane auf den Empfang von Welt-Geschichten eingestellt, so aufgehoben scheint er sich in der Sprache zu fühlen: Zum Beispiel:

    "Mein Onkel Antonin Alexander war ein merkwürdiger Mann"

    der erste Satz nicht etwa eines reifen Alterswerks, in dem die Sätze entbeint und allen Dekors entledigt sind, nein, so beginnt der Zwanzigjährige 1953 (als er noch wenig von der Welt gesehen hatte) seinen Debütroman, der im niederländischen Original 1955 und in der ersten deutschen Übersetzung unter dem Titel "Das Paradies ist nebenan" 1958 erschien. Ausgangspunkt ist die Selbstwerdung. Die daran geknüpfte Identifizierung mit dem Vater ist ein Motiv, das Nooteboom später, in dem Roman "Rituale", wieder aufgreifen wird.

    "Manchmal frage ich mich, ob ich verrückt bin."

    Es ist die kürzestmögliche Umschreibung dessen, was der Reisende aus Leidenschaft tut: er verrückt den Mittelpunkt seines Lebens, von Hier nach Dort. Was er dort erlebt, erhält seine Bedeutung erst dadurch, dass er es hier erzählt. Von einem angestammten Zentrum bricht er auf und findet sich wieder in endlos vielen Zentren, die alle zusammen die Welt - seine Welt- bilden.

    Einmal spricht Nooteboom von seinem "leicht übersteigerten Vorstellungsvermögen" oder von einem "gewissen Talent für Mimikry", das ihm erlaube, sich in Spanien wie ein Einheimischer aufzuführen, ein Talent, das der Hysteriker und Hypochonder Bruce Chatwin geradezu meisterhaft beherrschte. Und mit Chatwin zusammen nimmt er sich vielleicht die größte Freiheit in seiner Selbstcharakterisierung:

    "... mitunter ähneln wir beide zwei quakenden Schwuchteln."

    Dem ernsten und dem heiteren Poeten Nooteboom wären weitere Jahrzehnte voller Kreativität zu wünschen.

    Bibliografie

    Cees Nooteboom: Gesammelte Werke. Bd. 9.
    Herausgegeben von Susanne Schaber.
    Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Andreas Ecke und Ard Posthuma. 867 S., EUR 54,90.
    Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main.
    Alle neun Bände auch als Kassette zum Preis von 360,00 EUR erhältlich
    und

    Cees Nooteboom: "Ich hatte tausend Leben und nahm nur eines". Ein Brevier. Herausgegeben von Rüdiger Safranski. 190 S., EUR 15,00. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main.