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Rekonstruktion im Tanz
"Das Wissen um die Vergangenheit ist sehr schwach ausgebildet"

Die moderne Tanzgeschichte ist flüchtig, Stücke zu rekonstruieren aufwändig. Da es keine einheitliche Tanzschrift gibt, müsse man Zeitzeugen befragen sowie Beschreibungen und Fotos suchen, sagte die Kulturmanagerin Nele Hertling im Dlf: "Die Fundstücke müssen dann mühsam zusammengesetzt werden."

Nele Hertling im Gespräch mit Karin Fischer |
    Nele Hertling hält eine Rede in der Akademie der Künste in Berlin bei der Gedenkveranstaltung an Christa Wolf am 13.12.2011
    Nele Hertling in der Akademie der Künste in Berlin 2011 (Imago / Gezett)
    Karin Fischer: Wenn Choreographen sterben, dann ist das immer ein Schock. Das war bei Pina Bausch so, das war bei Merce Cunningham so. Sie haben oft jahrzehntelang ihre Compagnie, eine eigene Truppe, einen einzigartigen Tanzstil geprägt und ausgeprägt, der nun unwiederbringlich verloren zu sein scheint. Denn Aufschreibesysteme im zeitgenössischen Tanz gibt es zwar, und jede Videokamera, meint man, hält die Dreidimensionalität des Bühnengeschehens besser fest als Bewegungsskizzen auf Papier. Aber die Rekonstruktion wichtiger Stücke vor allem aus dem modernen Tanz bleibt ein Problem, dem sich in Deutschland seit 2012 hochoffiziell der "Tanzfonds Erbe" widmet. Für unsere Sommerreihe "Erinnern und Vergessen" habe ich mit Nele Hertling darüber gesprochen. Nele Hertling ist hoch dekorierte Grand Dame der deutschen Tanzszene, sie hat 1988 das Festival "Tanz im August" in Berlin gegründet, das damals noch anders hieß, ist langjährige Kulturmanagerin, ehemalige Intendantin des Hebbel-Theaters in Berlin, und sie ist Direktorin der Sektion Darstellende Künste in der Akademie der Künste. Zuerst habe ich sie gefragt, was der Tanzfonds Erbe genau macht.
    Nele Hertling: Der "Tanzfonds Erbe war die Folge eines großen Projektes der Kulturstiftung des Bundes unter dem Namen "Tanzplan Deutschland". Da ging es einige Jahre darum, die strukturelle und kulturpolitische Förderung des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland zu unterstützen. Und am Ende dieses sehr erfolgreichen Projektes wurde deutlich, dass es ein Defizit in der deutschen Tanzszene gibt, nämlich: Das Wissen um die Vergangenheit ist sehr schwach ausgebildet, auch bei jungen Choreographen, auch bei jungen Tänzern. Viele wissen gar nicht, dass auch nach dem Krieg, in den 60er, 70er, 80er Jahren, wirklich revolutionäre Tanzgeschichte geschrieben wurde, es ist einfach vergessen. Und wie Sie richtig sagen ist es außerordentlich schwierig, eine Ebene zu finden, in der das Gedächtnis wirklich sichtbar oder hörbar wird. Das ist die Idee von "Tanzfonds Erbe", dass Choreographen und Tänzer animiert, provoziert, aufgefordert wurden, sich mit der Tanzgeschichte, sowohl ein bisschen länger zurückliegend, als auch der rezenten Tanzgeschichte, intensiver auseinander zu setzen. Und dafür Formen zu finden, in denen das, was sie herausfinden, für ein Publikum, für eine Öffentlichkeit, aber auch für die Profiszene sichtbar und verständlich wird. Das war die Aufgabe, oder ist es immer noch, vom "Tanzfonds Erbe".
    Oskar Schlemmers Triadisches Ballett als Beispiel
    Fischer: Und jetzt sind überall im Land rekonstruierte Stücke zu sehen, Choreographien, die dem Vergessen auf diese Art entrissen werden, von Menschen, die zu den Pionieren des Tanztheaters in Deutschland gehören, wie zuletzt zu sehen Gerhard Bohner an der Akademie der Künste. Aber auch Reinhild Hofmann gehört dazu, Kurt Joos, das berühmte "Triadische Ballett" des Bauhaus-Künstlers Oskar Schlemmer. Vielleicht entführen Sie uns mal in diese Welt des Rekonstruierens an einem Beispiel?
    Hertling: Sie haben es genannt, ein inzwischen populäres Beispiel ist das "Triadische Ballett" von Oskar Schlemmer, dem bekannten, wichtigen Künstler des Bauhauses in den 20er Jahren. Er hat sich sehr damit auseinandergesetzt wie er, jenseits von Fläche, als Maler Kunst beweglich, in den Raum hinein entwickeln könnte und ist dabei auf Tanz und Bewegungsmuster gekommen. Und hat etwas erfunden, was dann unter dem Titel "Triadisches Ballett" zu einer richtigen theatralen Aufführung geworden ist. Er hat versucht, Objekte, Kostüme zu schaffen, die sehr im Sinne des Bauhauses formale Voraussetzungen haben, die aber dann von Tänzern getragen werden. Was für die Tänzer zum Teil sehr schwierig ist, denn das sind Objekte, die sie einengen, sie können sich damit gar nicht so bewegen, wie normaler Weise ein Tänzer es gewohnt ist. Aber in der Kombination aus Objekt und Bewegung entsteht eine ganz eigene Ästhetik. Dieses Stück ist in den 20er Jahren aufgeführt worden, auch auf Tourneen, aber die Kostüme, die zu dem großen Erbe von Oskar Schlemmer gehören, sind zum Teil im Krieg durch eine Tournee nach Amerika verloren gegangen, und die bedeutendsten sind im Museum in Stuttgart kontinuierlich ausgestellt.
    Die Rekonstruktion wird zur aktuellen Tanz-Geschichte
    In den 70er Jahren hat dann der Choreograph Gerhard Bohner im Auftrag der Akademie der Künste begonnen, sich mit dem Projekt auseinander zu setzen und wir haben in der Akademie mit sehr großer Sorgfalt und anhand der Fotos und Zeichnungen von Schlemmer die fehlenden Objekte und Kostüme rekonstruiert. Gerhard Bohner hat zu diesen Kostümen dann eine kleine Choreographie-Geschichte entwickelt, die Kostüme erzählen in der Bewegung mit den Tänzern jeweils eine kleine eigene, leicht verständliche Geschichte und damit ist das Ganze zu einem extrem attraktiven, sinnlichen und sinnvollen Aufführungsprojekt geworden, das über viele Jahre auch weltweit auf Tournee war.
    "10 Figuren zum Triadischen Ballett" von Oskar Schlemmer (1888-1943), hier  2009 ausgestellt im Museum Würth in Künzelsau.
    "10 Figuren zum Triadischen Ballett" von Oskar Schlemmer (1888-1943). (picture alliance / dpa / Norbert Försterling)
    Dann wurden die Recht von den Erben von Schlemmer einbehalten, es hat lange in Kisten in einem Lager in Berlin gelegen, und als vor drei, vier Jahren die Rechte wieder frei waren, hat man versucht, aus den gelagerten Kisten alles wieder raus zu holen und das war ein ganz großer Moment der Begeisterung, denn die in 84 Aufführungen getragenen Objekt-Kostüme waren alle noch in einem hervorragenden Zustand!, so dass es möglich war, mit der Junior-Compagnie des Bayerischen Staatsballetts diese von Bohner geschaffene Rekonstruktion neu zu erfinden. Sie läuft seit einigen Jahren nicht nur durch Deutschland, und es hört gar nicht auf, denn das ist vielleicht das beste Beispiel, wie man Geschichte lebendig machen kann, etwas erfährt, wo man sieht, es kommt aus der Geschichte, aber es ist durch die jungen Tänzer ein ganz aktuelles, modernes Stück Tanzgeschichte geworden.
    Fischer: Der Tanz ist lebendig, der Tanz ist sinnlich, das glt aber nicht für die Aufschreibesysteme früherer Zeiten. Vielleicht erklären Sie mal die größten Probleme, die man hat, wenn man - wir sagen: Erinnern und Vergessen, im Tanz heißt das: Rekonstruktion - wenn man so eine Rekonstruktion auf die Beine stellen möchte und mit Zeichensystemen zu tun hat, die der normale Mensch ja nicht entziffern kann?
    Hertling: Das ist in der Tat so, und das ist auch für Choreographen zum Teil schwierig, weil es keine verbindliche, einheitliche Tanz-Schrift gibt. Mary Wigman hat ihre eigene gefunden, es gibt sehr unterschiedliche Formen von Aufzeichnung. Wichtiger ist es eigentlich für die Rekonstruktionen der letzten Jahre gewesen, Zeitzeugen zu befragen, und zum Glück gibt es doch eine ganze Reihe von Beschreibungen, es gibt auch Fotos, Filme gab es zum Teil noch nicht, aber kleine filmische Aufzeichnungen dann doch auch erhalten.
    Bedeutung des zeitgenössischen Tanzes für die Nachwelt
    Eine solche Rekonstruktion, oder manchmal sagen wir: Reenactment einer historischen Aufführung basiert auf ganz vielen Möglichkeiten und Fundstücken, die mühsam zusammen gesetzt werden müssen und dann natürlich eine neue Formsprache dadurch kriegen, dass es heutige Tänzer sind, die sich nochmal ganz anders bewegen. Man sieht, es sind historische Vorlagen, aber sie bekommen eine neue Lebendigkeit.
    Fischer: Es gibt die Möglichkeit, die eigenen Stücke schon zu Lebzeiten anderen Compagnien zu geben, um die eigene Tanzsprache zu erhalten. Die Pina Bausch-Foundation macht mustergültig vor, wie das Erbe archiviert werden kann, weil sie selber so viel gesammelt hat, alles dokumentiert hat, auch schon auf Video. Dieser zeitgenössische Angang, sind wir da heute weiter als noch vor zwanzig Jahren?
    Hertling: Ja, wir sind sicher weiter. Vor allem sind wir deswegen weiter, weil es vor zwanzig Jahren das Interesse an dieser Dokumentation eigentlich gar nicht so gegeben hat. Anders als das Ballett: Das Ballett hat über Jahrhunderte seine eigene Existenz immer dokumentiert. Und dadurch das Ballett an Opernhäusern zu Hause ist, hat es ein Repertoire entwickelt, was bis heute wirklich Ballettgeschichte lebendig macht. Das war beim zeitgenössischen Tanz überhaupt nicht so. Pina Bausch ist eine gewisse Ausnahme durch ihre frühe Berühmtheit. Aber es gab diese Schwierigkeit, überhaupt Stücke auf die Bühne zu bringen. Meistens sind sie nur ein paar Mal gelaufen. Und über die Frage der Dokumentation hat sich überhaupt in dem Moment gar keiner Gedanken gemacht, weil alles andere schon schwierig genug war. Das hat sich zum Glück geändert. Es wird heute natürlich auch durch die fortgeschrittene Technik sehr viel aufgezeichnet. Damit kann man umgehen. Und die Frage, die Sie angeschnitten haben, wie man die eigene Tanzgeschichte dann erhält, ist in der Tat nicht so ganz einfach. Merce Cunningham beispielsweise hat selber noch vor seinem Tod entschieden: Nach seinem Tod – die eingegangen Gastspielverpflichtungen werden noch eingehalten. Und danach wird sich die Compagnie auflösen, weil er gesagt hat: "Tanz ist kein Museum, es muss immer wieder neu leben. Und wenn meine Compagnie mich als den kreativen Schöpfer nicht mehr hat, dann soll sie nicht zu einem Museum meiner eigenen Werke werden". Und damit ist zwar alles dokumentiert, aber lebendig nicht mehr zu sehen. Bei Pina Bausch ist das anders: Sie versuchen, die Stücke auch lebendig weiterzuführen. Die große Frage, wovon lebt dann eine solche Compagnie, gibt es dann neue Choreographen, die mit der Compagnie weiterentwickelt neue Stücke machen? Das ist eine Frage, die heftig diskutiert wird. Aber wir sind im Ganzen natürlich auf einer viel sichereren Basis, was Aufheben und Erinnern anbelangt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.