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Rekord-Flüchtlingszahlen
Mehr Vertreibung, weniger Konfliktlösung

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen beklagt Rekordzahlen bei den Flüchtlingsströmen. Bis Jahresende rechnet die UNO mit einer Million Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika, die nach Europa gekommen sein werden. Die Welt müsse dringend an politischen Lösungen arbeiten, denn zu bestehenden Krisen kämen neue hinzu, fordert der UNO-Flüchtlingskommissar.

Von Hans-Jürgen Maurus | 19.12.2015
    Ein Mann übergibt ein Kind an einen anderen, während sie an einer Stelle der nördlichen Küste der griechischen Insel Lesbos hochklettern. Am Wasser sieht man ein Schlauchboot, mit dem die Flüchtlinge angekommen sind.
    Diese Flüchtlinge haben die griechische Insel Lesbos mit einem Schlauchboot erreicht. (picture alliance / dpa / Socrates Baltagiannis)
    Ich habe keine guten Nachrichten, so der scheidende UN Flüchtlingskommissar António Guterres gleich zu Beginn seiner Pressekonferenz in Genf, und das war ein Understatement. Denn die Zahlen des UN Flüchtlingshilfswerks UNHCR beweisen es: Es sind schockierende Fakten, die belegen, das die Welt in Aufruhr ist, die alten Konflikte weiter bestehen und neue Krisen hinzugekommen sind.
    Die UNO erwartet bis Jahresende eine Million Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika, die nach Europa gekommen sind. Bis heute sind es 990.671 Männer, Frauen und Kinder. Und der Flüchtlingsstrom hält unvermindert an. Am vergangenen Dienstag landeten allein 4300 Migranten auf den griechischen Inseln, zwei Drittel davon auf Lesbos. Im Dezember waren es bis heute rund 57.000, von denen 80 Prozent Griechenland bereits wieder verlassen haben, in Richtung Norden, auch nach Deutschland.
    Erzwungene Flüchtlingswelle
    Die Flüchtlingswelle wurde durch die erzwungene reduzierte Versorgung syrischer Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Syriens ausgelöst, betonte UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres - erzwungen deshalb, weil schlicht das Geld für die Hilfe fehlt und der Bürgerkrieg in Syrien ist der grösste Verursacher des gewaltigen Flüchtlingsdramas.
    Auch Deutschland wurde in der Bilanz des scheidenden Flüchtlingskommissars erwähnt, denn Deutschland hat 2015 die meisten neuen Asylbewerber aufgenommen. Das am härtesten betroffene Land ist aber derzeit die Türkei mit mehr als 1,8 Millionen Flüchtlingen. Das ganze Ausmaß der globalen Flüchtlingstragödie ist kaum vorstellbar. Die UNO unterscheidet zwischen Flüchtlingen, die ihr Land verlassen und über die Grenzen flüchten und Vertriebenen, die im eigenen Land herumirren.
    Vor zehn Jahren waren 38 Millionen Menschen auf der Flucht, so Antonio Guterres, jetzt sind es 60 Millionen.
    Wir haben mehr Vertreibung und weniger Konfliktlösungen, betonte der Spitzendiplomat, dies zeigt, wie sehr wir noch stärker für mehr Prävention und politische Lösungen arbeiten müssen.
    Zahl freiwilliger Rückkehrer sinkt
    Die Eskalation von Flucht und Vertreibung sei gigantisch, ergänzte der UN Spitzendiplomat, und wir sind kaum mehr in der Lage zu reagieren. In der Tat gehen der UNO die Gelder aus, Etats müssen kannibalisiert werden, um das Allernötigste für ganze Flüchtlingsheere zusammenzukratzen. Es ist klar, dass humanitäre Hilfsorganisationen nicht mehr in der Lage sind, Flüchtlingen auch nur das Minimum an Hilfe zu garantieren.
    Wie dramatisch die Lage ist zeigt auch diese Entwicklung: Die Zahl freiwilliger Rückkehrer in ihre Heimat ist im ersten Halbjahr 2015 um 20 Prozent gesunken, so der UN Flüchtlingskommissar. In absoluten Zahlen bedeutet das: lediglich 84.000 Menschen kehrten heim, das ist die niedrigste Quote seit mehr als drei Jahrzehnten.
    Fremdwort Frieden
    Erzwungene Vertreibung hat massive Folgen in diesen Zeiten, so Guterres, das gilt für die Betroffenen ebenso wie für jene, die ihnen helfen wollen. Noch nie waren Toleranz, Mitleid und Solidarität mit jenen, die alles verloren haben, so erforderlich wie heute. Auch die Lösung für die Flüchtlingskrise sprach der UN-Flüchtlingskommissar an, sollte es gelingen, den Friedensprozess für die Konflikte in Syrien, Libyen und Jemen in Gang zu bringen und eine politische Lösung zu finden, werde dies positive Auswirkungen auf das Ausmass von Flucht und Vertreibung haben. Die absolute Priorität muss es sein, Frieden zu bringen, so die Kernbotschaft des Hochkommissars.
    Doch der Friede ist in vielen Teilen der Welt noch immer ein Fremdwort.