Archiv

Rekord-Überhangmandate erwartet
"Es könnten mehr als 700 Abgeordnete im Bundestag sein"

Sechs Parteien und eine deutlich höhere Zahl an Abgeordneten: Staatsrechtlerin Sophie Schönberger rechnet nach der Wahl mit einer Konstellation im Bundestag, die im parlamentarischen Alltag zu Problemen führen könnte. "Je größer das Parlament wird, desto weniger kann in einer großen Runde entschieden werden", so Schönberger.

Sophie Schönberger im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Abgeordnete des Bundestages stimmen am 22.05.2015 im Plenarsaal in Berlin namentlich über das Gesetz zur Tarifeinheit ab. |
    "Ganz kleine Veränderungen können auf einmal zu riesigen Sprüngen in der Mandatszahl führen", sagte Staatsrechtlerin Sophie Schönberger im Dlf. (picture alliance / dpa / Rainer Jensen)
    Sandra Schulz: Zwei Tage vor der Bundestagswahl ruft Bundestagspräsident Norbert Lammert heute noch mal eindringlich zum Wählen auf. Er nennt in den Westfälischen Nachrichten Wahlen das Königsrecht der Demokratie, ein Hochfest, und warnt: Wer sich entschieden habe, sich nicht für Politik zu entscheiden, der habe sich entschlossen, die Zukunft anderen zu überlassen. – Das sagt der Mann, der immer wieder das geltende Wahlrecht deutlich kritisiert hat, der für eine Reform geworben hat und der mit seiner Verstimmung darüber, dass das nicht geklappt hat, kaum hinterm Berg gehalten hat. Vor einem aufgeblähten Parlament hat er ja gewarnt. 598 sind die Sollgröße; wegen Überhangs- und Ausgleichsmandaten könnte der nächste Bundestag aber auf bis zu 700 Sitzen anwachsen. – Darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen.
    Am Telefon ist Sophie Schönberger, Staatsrechtlerin der Uni Konstanz und Fachfrau für Wahlrecht. Schönen guten Morgen.
    Sophie Schönberger: Guten Morgen.
    Schulz: Dieses Szenario, dass der nächste Bundestag um die 700 Mandate haben könnte, ist das reine Spekulation, oder halten Sie das für wahrscheinlich?
    Schönberger: Das ist jedenfalls sehr realistisch. Es könnten theoretisch sogar noch mehr als 700 Abgeordnete sein. Wie viel genau es werden, das werden wir wahrscheinlich erst spät in der Nacht am Sonntag wissen.
    "Ganz diffizile Variablen"
    Schulz: Wovon hängt das denn im Einzelnen ab?
    Schönberger: Das ist ein überaus kompliziertes System mit ganz diffizilen Variablen, wo ganz kleine Veränderungen auf einmal zu riesigen Sprüngen in der Mandatszahl führen können. Das sind relativ unverdächtige Parameter wie zum Beispiel die unterschiedliche Wahlbeteiligung in unterschiedlichen Bundesländern, wie die Frage, wie viele Wähler ihre Stimme splitten, das heißt, die Erststimme und die Zweitstimme an unterschiedliche Parteien geben.
    Das sind sehr verschiedene, im Vorhinein überhaupt nicht zu prognostizierende Parameter, die dazu führen, dass diese Aufblähung passieren kann. Aber es ist jedenfalls wahrscheinlich, sogar sehr wahrscheinlich, dass wir bei einer deutlich höheren Zahl an Abgeordneten landen, als das jetzt der Fall ist.
    Möglicherweise sechs Parteien im Parlament
    Schulz: Der Ausgangspunkt, das sind ja die Überhangs- und Ausgleichsmandate. Jetzt wählen wir ja zu dem gleichen Recht wie 2013 auch schon. Warum stellt sich das Problem jetzt erst?
    Schönberger: 2013 hatten wir einen relativ ungewöhnlichen Ausgang der Wahl, weil wir sowohl die AfD als auch die FDP hatten, die ganz knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind, und dazu noch einen Anteil von sonstigen Parteien, der ebenfalls bei etwa fünf Prozent lag. Das heißt, faktisch hatten wir 15 Prozent der abgegebenen Stimmen, die dann auf die Sitzzuteilung überhaupt gar keinen Einfluss hatten.
    Deswegen haben wir auch nur vier Parteien jetzt im Parlament und nähern uns damit ein bisschen wieder der alten bundesrepublikanischen Ausgangssituation, für die das Wahlrecht eigentlich gemacht ist, mit zwei großen Volksparteien und ursprünglich einer weiteren, dann im jetzigen Bundestag zwei weiteren kleineren Parteien. Dafür ist das Wahlrecht gemacht. Das hat bei der letzten Wahl 2013 noch erstaunlich gut geklappt. Nur beim nächsten Bundestag, den wir haben werden, sieht es ganz so aus, als hätten wir auf einmal sechs Parteien im Parlament – mit Volksparteien, die deutlich weniger Stimmen auf sich vereinigen können. Das heißt, alle Parteien rücken näher zusammen, es gibt mehr Parteien, und für diese Konstellation ist das geltende Wahlrecht überhaupt nicht gemacht.
    Schulz: Ab wann wird die Größe verfassungsrechtlich ein Problem?
    Schönberger: Das ist natürlich ein schwieriger Punkt, das an einer bestimmten Zahl festzumachen. Tatsächlich ist es so, dass ab einer bestimmten Größe des Parlaments natürlich die Art und Weise, wie so ein Parlament funktioniert, sich verändert. Schon 600 Abgeordnete sind relativ viel. Deswegen hat man auch in Deutschland ein System, in dem das Plenum, die Versammlung aller 600 oder 630 Abgeordneter entscheidet, das ein bisschen an Bedeutung verliert gegenüber unserer Idealvorstellung, wo in sehr vielen Ausschüssen tatsächlich entschieden wird.
    Je größer das Parlament wird, desto weniger kann natürlich in einer so großen Runde tatsächlich diskutiert und auch entschieden werden und desto mehr werden sich die Entscheidungen weiter in die Bundestagsausschüsse oder sogar noch von den Bundestagsausschüssen weg in informelle Gremien verlagern. Ab irgendeinem Punkt wird man dann sagen müssen, dass das nicht mehr dem verfassungsrechtlichen Leitbild eines funktionierenden Parlaments entspricht. Ob das jetzt bei 700 Abgeordneten oder 710 Abgeordneten der Fall ist, darüber kann man sicherlich im Einzelfall streiten. Aber ich denke, wenn wir uns der Zahl von 700 Abgeordneten nähern, dann sind wir jedenfalls nahe an einer solchen Grenze dran.
    Bürger können Wahlprüfungsbeschwerde erheben
    Schulz: Das heißt aber auch, wenn wir diese Größenordnung von 700 Sitzen tatsächlich bekommen, oder mehr, oder vielleicht auch ein bisschen weniger, 690, dann könnte sich jeder Bürger auch versuchen, juristisch dagegen zu wehren.
    Schönberger: Jeder Bürger hat dann die Möglichkeit, oder jeder wahlberechtigte Bürger hat die Möglichkeit, dann eine Wahlprüfungsbeschwerde zu erheben und die Frage erst dem Bundestag selber und danach dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Genauso ist es ja schon auch gekommen mit dem ursprünglichen Wahlrecht, das das negative Stimmgewicht vorsah und das dann vom Bundesverfassungsgericht auch für verfassungswidrig erklärt wurde.
    Schulz: Das war diese paradoxe Situation, dass die Stimme für eine Partei der Partei unterm Strich sogar schaden konnte. – Wenn es zu so einem Verfahren käme, welche Maßstäbe würde Karlsruhe da anlegen?
    Schönberger: Die Maßstäbe, die das Grundgesetz da bereithält, sind relativ vage. Wir haben die Wahlrechtsgrundsätze in der Verfassung verankert. Das heißt aber nicht, dass das Wahlsystem selber im Verfassungsrecht verankert wäre. Über die Art, wie man wählt, das personalisierte Verhältniswahlsystem, das wir jetzt machen, das steht im Grundgesetz nicht drin. Was im Grundgesetz verankert ist, ist, dass die Wahlen frei sein müssen, geheim, gleich, allgemein und unmittelbar, also sehr elementare demokratische Grundprinzipien. Und dann haben wir natürlich das Demokratieprinzip selbst, das in der Verfassung verankert ist. Bisher hat das Bundesverfassungsgericht vor allen Dingen den Maßstab der Gleichheit der Wahl und der Unmittelbarkeit der Wahl herangezogen und hat in Bezug auf das negative Stimmengewicht, das Sie erläutert haben, gesagt, das ist dann keine gleiche Wahl mehr, wenn meine Stimme sich auf einmal in ihr Gegenteil verkehren könnte.
    Schulz: Das heißt, so richtig feste Maßstäbe gibt es da nicht. Heißt das, dass die Verfassungsrichter dann quasi ihr höchstrichterliches Bauchgefühl befragen?
    Schönberger: Ich würde sagen, es ist deutlich mehr als ein richterliches Bauchgefühl. Es sind natürlich sehr weite Begriffe, die der Konkretisierung bedürfen, die auch in der Rechtsprechung schon konkretisiert wurden. Letztlich geht es da an sehr elementare Grundsätze der Demokratie. Natürlich kann man es ein bisschen flapsig als richterliches Bauchgefühl bezeichnen, aber dass die Stimme sich nicht in ihr Gegenteil verkehren darf, das würden, glaube ich, auch die meisten Politiker und auch die meisten Bürger gegen ihr demokratisches Bauchgefühl doch dann auslegen.
    Geringere Chancen auf Reformen
    Schulz: Vielleicht noch mal ganz kurz gefragt. Wenn wir jetzt auf ein Sechs-Parteien- oder Sechs-Fraktionen-Parlament zusteuern, wie sind die Chancen dann, das mit diesem Aufblähen des Parlaments noch mal einzufangen? Wie groß sind die Chancen auf eine Reform dann?
    Schönberger: Leider sind die Chancen auf eine Reform dann im nächsten Bundestag geringer. Zum einen, weil sechs Fraktionen unter einen Hut gebracht werden müssen, und zum anderen, weil viel mehr Abgeordnete ganz persönlich um ihr Mandat fürchten müssen. Denn das Problem ist: Wenn man jetzt ein Wahlrecht verabschieden möchte, das die Anzahl der Mandate verringert, haben natürlich viele Abgeordnete ganz persönlich, ganz individuell und eigennützig Angst, dass ihr Mandat dann wegfällt.
    Schulz: Sophie Schönberger, Professorin für Staatsrecht an der Uni Konstanz und heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank dafür.
    Schönberger: Ich bedanke mich auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.