Die Burka ist in Frankreich und Belgien verboten: Seit 2011 dürfen Frauen im öffentlichen Raum keinen Ganzkörperschleier mehr tragen. Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Burka-Verbot in Frankreich bestätigt. In den Augen der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum ist das ein Skandal. Und ein Beispiel dafür, dass die Menschen in Europa, aber zunehmend auch in den USA, immer größere Vorbehalte haben gegenüber bestimmten Religionen, allen voran dem Islam. Das ist die Ausgangsthese ihres Buches.
Burka-Verbot als Beleg für die neue religiöse Intoleranz
Das Burka-Verbot ist für Nussbaum ein Beleg für die neue religiöse Intoleranz: Generell ist es also nicht die Bedeckung per se, sondern die muslimische, die in Europa, in gewissem Maße in den USA, Angst und Misstrauen erregt. Anschaulich, aber nicht immer erschöpfend, seziert und widerlegt Nussbaum die Hauptargumente für das Burka-Verbot. Stichhaltig sind die Bedenken gegen die religiöse Verschleierung in ihren Augen nicht: Die Burka verletze beispielsweise weder die öffentliche Sicherheit noch stehe sie grundsätzlich für die Degradierung von Frauen. Für die Philosophin Nussbaum, die sich seit Jahren für einen offensiveren Umgang mit Emotionen in Politik und Gesellschaft ausspricht, ist hingegen klar: Die hitzigen Debatten um Religionsfreiheit und deren Grenzen sind vor allem Ausdruck einer unserer Emotionen, nämlich der Angst.
"Angst ist eine 'verdunkelnde Voreingenommenheit', ein intensiver Fokus auf die eigene Person, die andere Menschen in die Dunkelheit verbannt. Wie wertvoll und sogar essentiell sie in einer wahrhaft gefährlichen Welt auch ist, ist sie doch selbst eine der großen Gefahren des Lebens."
Das Burka-Verbot oder auch die Schweizer Volksabstimmung gegen den Bau von Minaretten dienen Nussbaum darüber hinaus als Beweise für eine weitere Hauptthese: In Europa werde auf religiöse Minderheiten sehr viel weniger Rücksicht genommen als in den USA.
"Europäer teilen einige der Grundvoraussetzungen (den Gedanken der Menschenwürde und Gleichheit), doch insgesamt haben sie nicht in gleichem Maße gesetzliche Systeme errichtet, die auf Gerechtigkeit gegenüber Minderheiten bei allen Themen achten, wo Mehrheiten die Gesetze machen."
Nussbaum erklärt diesen Unterschied vor allem damit, dass in den USA die Heterogenität der Gesellschaft zur Gründungsidee der amerikanischen Nation gehöre. In Europa hingegen sei die Zugehörigkeit zu einer Nation seit jeher verbunden mit, so wörtlich "geografischer Abstammung, ethnolinguistischer Volkszugehörigkeit sowie Religion. Ihrer Ansicht nach sind die europäischen Strategien zum Schutz religiöser Minderheiten allerdings nicht mehr "angemessen". Trotz vieler kritisch zu beurteilender Tendenzen auch in den USA werde:
"... die amerikanische Lösung dringend gebraucht".
Die "amerikanische Lösung": Damit meint Nussbaum vor allem die klassischen Freiheitsrechte, die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu stärken und zu achten. In Politik und Rechtsprechung, so fährt Nussbaum fort, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene seien vorranging die religiösen Grundsätze und Praktiken jedes Einzelnen zu schützen und nicht die der Mehrheit:
"Es wäre also unangebracht, einem orthodoxen Juden zu sagen, dass es gut wäre, am Samstag zu arbeiten, nur weil ein Großteil amerikanischer Juden genau das tut. Darum geht es nicht: Die eigene Auslegung der Religion ist es, die für das Gewissen zählt."
Grundlegende Emotionstheorie
Nur ein zwingendes staatliches Interesse kann und darf, Nussbaum zufolge, diese Freiheit beschränken – zum Beispiel die Sicherheit und Freiheit anderer Bürger. Verfassungsmäßige Freiheitsrechte zu stärken und auf umfassenden politischen Schutz von Minderheiten zu bestehen, das ist Nussbaums Anliegen. Sie appelliert an jeden einzelnen Bürger: Einer starken Emotion wie der Angst sei am besten mit einer anderen emotionalen Fähigkeit zu begegnen - und zwar der "mitfühlenden Phantasie", wie Nussbaum schreibt. Damit meint sie die Fähigkeit, Empathie zu empfinden, uns also in andere hineinzuversetzen und einzufühlen. So ändere sich die Denkrichtung, sagt Nussbaum:
"Bei der Angst wird die Aufmerksamkeit eines Menschen eingegrenzt und konzentriert sich auf die eigene Sicherheit. Bei der Empathie richtet sich das Denken nach außen."
Empathie und Mitgefühl sind in Nussbaums grundlegender Emotionstheorie zwei verwandte, aber voneinander verschiedene Phänomene, die Politik und Gesellschaft positiv beeinflussen können. Allerdings bleiben ihre Ausführungen hierzu in diesem Buch recht vage. Hier offenbart sich das größte Manko dieses engagierten Werkes - denn es enthält von allem ein bisschen: Moraltheorie, Emotions- und Rechtsphilosophie, einige konkrete Beispiele aus der politischen und juristischen Praxis. Eine umfassende Studie zu religiöser Intoleranz, die über die USA und Europa hinausgeht, liefert Nussbaum nicht. Damit hat ihr Buch eher den Charakter eines Manifests, das allerdings zum Nachdenken und Diskutieren anregt, etwa über Nussbaums umfassende Kritik an der europäischen Politik und ihr Lob für die politische Kultur der USA in Religionsfragen:
"(...) Europa (muss) sich dringend auf eine tiefgehende und intensive Debatte über Gleichheit einlassen (...) sowie darauf, was gleicher Respekt für alle Bürger auf dem Gebiet der Religion bedeutet. In den USA ist wenigstens das unumstritten."
Einen "Ausweg aus der Politik der Angst", wie ihr Buch im Untertitel heißt kann Nussbaum allerdings eher im Abstrakten liefern - mit der sehr begrüßenswerten Forderung an uns alle, unser Handeln und unsere Werte kritisch zu hinterfragen. Und vor allem: mehr mitzufühlen mit unseren Mitbürgern.
Martha C. Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz.
Ein Ausweg aus der Politik der Angst
(Übersetzung: Nikolaus de Palézieux),
Wissenschaftliche Buchgesellschaft WBG , 220 Seiten, 39,95 Euro
ISBN: 978-3-534-26460-5
Ein Ausweg aus der Politik der Angst
(Übersetzung: Nikolaus de Palézieux),
Wissenschaftliche Buchgesellschaft WBG , 220 Seiten, 39,95 Euro
ISBN: 978-3-534-26460-5