Rio Vermelho, ein Bohème-Viertel in Salvador de Bahía an der nordöstlichen Küste von Brasilien. An gewöhnlichen Tagen spazieren hier Touristen entlang, abends öffnen Bars und Restaurants. Aber heute ist alles anders. Die Strandpromenade ist voll von Menschen in weißen Gewändern, die trommeln und singen. Am Strand und an den umliegenden Felsen halten verschiedene Gruppen Rituale ab und werfen bunte Blumen ins Meer.
Claunice, eine ältere Frau mit afrikanischen Wurzeln, ist mit ihrer Gruppe aus dem 150 Kilometer entfernten Santa Barbara angereist, um der Meeresgöttin Iemanjá ihre Gaben zu überbringen.
"Ich komme seit 31 Jahren hierher um unserer wunderbaren Mutter Geschenke zu bringen. Für die katholische Kirche ist sie die Jungfrau María. Aber als Orixá ist sie die Iemanjá, die Königin des Meeres."
Die Sklaven brachten ihre Götter mit
Claunice praktiziert Candomblé. Diese Religion hat ihre Wurzeln in Afrika und ist hier im Bundesstaat Bahia in Brasilien besonders stark verbreitet. Salvador de Bahia war einst die Hauptstadt Brasiliens und ist weltweit die Stadt mit den meisten afrikanischen Nachfahren außerhalb Afrikas. Denn Salvador war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein Zentrum des Sklavenhandels.
Die Sklaven brachten aber nicht nur ihre Kultur mit, sondern auch ihren Glauben und ihre Götter, die Orixás. Eine davon ist Iemanjá, die Göttin des Meeres, die heute gefeiert wird. Die am meisten praktizierten afrobrasilianischen Religionen sind Candomblé und Umbanda.
Beim Fest der Iemanjá in Rio Vermelho warten die Menschen mit bunten Rosen in den Händen in einer langen Schlange, bis sie der Iemanjá ihre Gaben überbringen können. So auch Rosana, die hier mit ihrer Tochter seit acht Stunden wartet.
"Ich bin zum ersten Mal hier bei der Feier der Iemanjá und ich will meine Gaben zum Haus der Iemanjá bringen für die Fischer."
Umbanda als Familientradition
Die "Casa de Iemanjá" ist ein kleines Haus, das früher von Fischern genutzt wurde, um ihre Ausrüstung unterzustellen und Fisch zu verkaufen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es zum Zentrum der jährlichen Iemanjá-Prozession, die die Fischer organisierten, um ihrer Göttin, der Königin des Meeres, zu danken und sie um guten Fischfang zu bitten. Diese Prozession der Fischer wurde zur "Festa de Iemanjá". Rosana, die erstmals teilnimmt, praktiziert die Religion Umbanda.
"Das hat mit meiner Familiengeschichte zu tun. Meine Mutter ist Katholikin und mein Vater ist Spiritist. Wir haben lange Spiritismus praktiziert. Nach und nach haben wir die Wurzeln unserer Familie und unserer Ahnen wahrgenommen, die Umbanda praktizierten. Wir haben die Religion studiert, unsere Persönlichkeiten, unsere Wurzeln. Und so sind wir zu Umbanda gekommen."
Auch die 36-jährige Adriana und ihr Mann praktizieren Umbanda. Sie sind aus dem mehr als 600 Kilometer entfernten Livramento de Nossa Senhora zur Iemanjá-Feier angereist. Am Strand haben sie Zelte aufgebaut, um sich vor der Sonne zu schützen. Hier singen und tanzen sie gemeinsam.
"Umbanda ist eine brasilianische Religion mit Elementen des Katholizismus und des Candomblé. Eine Freundin hat mich zu Umbanda gebracht. Es war ein schwieriger Moment in meinem Leben und ich wollte es kennenlernen. Es hat mir gefallen und ich habe weitergemacht. So habe ich meinen Mann kennengelernt, wir waren erst nur Freunde. Dann haben unsere spirituellen Führer uns vereint und wir haben nach Umbanda-Tradition geheiratet."
"Wir sind alle erleuchtete Geister"
Seit drei Jahren ist Adriana mit ihrem Mann verheiratet. Sie sagt, dass die Umbanda-Religion für sie besonders wichtig ist, weil sie so ein besserer Mensch sein kann.
"Wir sind alle erleuchtete Geister. Jeder hat seinen spirituellen Führer. Die Leute wachsen persönlich mit Umbanda, um anderen zu helfen. Je mehr wir innerlich wachsen, desto besser können wir unseren Nächsten helfen."
Die Wallfahrtskirche Nosso Senhor do Bonfim - eine Freitreppe führt hinauf zum Eingang der barocken Franziskanerkirche. An dem eisernen Gitter vor der Kirche flattern tausende bunte Wunschbänder im Wind. Man muss drei Knoten für drei Wünsche machen, so die Tradition. Auf dem Vorplatz segnen oder reinigen Candomblé-Priester die Besucher. In den umliegenden kleinen Läden werden christliche Heiligenfiguren verkauft, aber auch Orixás, die Götter des Candomblé-Glaubens.
"Ich spreche ungern von Synkretismus"
In der Kirche hat die Messe begonnen. Nosso Senhor do Bonfim ist eng verbunden mit dem Candomblé. Jorge Geraldo ist Franziskaner. Auch er hat afrikanische Vorfahren. Er hilft in der Kirche bei der Beichte aus. Er erklärt, wie es zu dieser Vermischung der Religionen gekommen ist, die auch als religiöser Synkretismus bezeichnet wird.
"Während der Sklaverei konnten sich die Sklaven nicht religiös ausdrücken. Deshalb haben sie Mittel der katholischen Kirche genutzt, um ihren Glauben auszudrücken. So entstand ein Synkretismus. Aber die Orixás im Candomblé haben nichts mit den katholischen Heiligen zu tun. Sie haben ihre eigene Identität. Ich spreche ungern von Synkretismus. Sie haben ihre Identität, und wir haben die unsere."
Teile der katholischen Kirche und auch der evangelischen Kirchen in Brasilien verurteilen die afrikanischen Religionen. Der Ordensmann hingegen setzt sich für religiöse Toleranz ein.
"Bahia ist sehr speziell. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind Schwarze. Die Menschen hier leben mit dem Candomblé. Die afrikanischen Wurzeln unserer Vorfahren sind präsent. Manche Teile der Kirche verurteilen das als Teufelswerk. Aber Religion hängt immer mit Gott zusammen. Religion hat damit zu tun, wie Gott zu den Völkern spricht."
Mehr Schutz durch christliche und afrikanische Götter?
Alvaro Ramis ist Theologe und arbeitet an der Fakultät für Philosophie und Humanwissenschaften der Universidad de Chile. Er erklärt den Synkretismus von katholischer und afrikanischer Religion so:
"Die umgesiedelte afrikanische Bevölkerung hatte unterschiedliche religiöse Traditionen. Zunächst haben die sich miteinander vermischt, danach auch mit katholischen Traditionen. Sozusagen aus strategischen Gründen: Die Menschen erhofften sich mehr Schutz, wenn sie sowohl auf afrikanische Gottheiten als auch auf den christlichen Gott und auf katholische Heiligen hoffen konnten. Beide Traditionen haben sich gegenseitig beeinflusst und verändert und sind so zu dem geworden, was sie heute sind."
Alvaro Ramis stimmt nicht mit der Ansicht des Franziskaners überein, dass in Brasilien verschiedene Religionen nebeneinander existieren. Keine Religion existiere in einem reinen Zustand, sondern werde immer durch andere Religionen beeinflusst.
"Es ist etwas Neues entstanden. Im Alltag wechseln die Menschen zwischen afrikanischer und katholischer Praxis. Jemand, der an einem afrikanischen Ritual teilnimmt, wird danach ohne Probleme an einem katholischen Ritual oder einer Messe teilnehmen. Und umgekehrt genauso. Das liegt daran, dass beide Traditionen komplementär sind und sich nicht ausschließen."
"Das wird langfristig zu Konflikten führen"
Was in Brasilien geschieht, sei prototypisch für das, was dem lateinamerikanischen Kontinent aufgrund seiner kulturellen und religiösen Vielfalt bevorsteht, sagt Ramis.
"In den meisten lateinamerikanischen Ländern war der Katholizismus quasi Staatsreligion. Aber mit der Zeit hat sich das geändert. Indigene und afrikanische Religionen leben wieder auf. Der Protestantismus, der Buddhismus und der Islam werden wichtiger. Lateinamerika führt eine Debatte, wie es diesen religiösen Pluralismus leben soll. Im Moment gibt es religiöse Traditionen, die privilegiert sind, und solche, die an den Rand gedrängt werden. Das wird langfristig zu Konflikten führen."
Die Lösung sieht Ramis darin, Staat und Religion sauber zu trennen. Zugleich müssten sich die verschiedenen religiösen Traditionen gegenseitig anerkennen und respektieren. Salvador de Bahia könnte beispielhaft vorangehen.