Andreas Main: Ingolf Dalferth lehrt in den Vereinigten Staaten, genauer an der Claremont Graduate University in Kalifornien. Er ist eigentlich schon emeritiert, knapp über 70 Jahre alt, aber er kann es nicht lassen. Er brennt für die Sache, für seine Sache: eine evangelische Theologie, die bei Karl Barth und Eberhard Jüngel anknüpft und beide weitertreibt. Bei Dalferth geht es vor allem um Gott – etwa in einem seiner jüngsten Bücher "God first". Er ist geprägt auch von Kalifornien. Rund zehn Jahre US-Erfahrung – darum geht es jetzt in einem Gespräch, das wir kurz vor seiner Abreise in die USA in Zürich aufgezeichnet haben. Guten Morgen, Professor Dalferth.
Ingolf Dalferth: Guten Morgen, Herr Main.
Main: Herr Dalferth, Sie lehren in den USA. Lassen Sie uns teilhaben an Ihren Erfahrungen an einer kalifornischen Uni. Wenn Sie Ihre Studenten dort in Claremont bei Los Angeles vergleichen mit denen, die Sie in Deutschland und der Schweiz erlebt haben, sind deutsche oder Schweizer Studenten weniger fromm als die in den USA?
Dalferth: Das kann man so nicht sagen, sondern die Sache stellt sich ganz anders dar. Und zwar deshalb, weil eindeutige religiöse Zugehörigkeiten bei den Studierenden, die ich habe in diesem Programm, schwer festzustellen sind. Es gibt Personen, die kommen aus christlichem Hintergrund. Es gibt Personen, die kommen aus buddhistischem oder aus jüdischem Hintergrund. Aber in keinem Fall ist es eigentlich so, dass nur einer dieser Hintergründe prägend ist.
Die Differenzen zwischen religiösen Traditionen laufen durch die Lebensgeschichten der Studierenden hindurch. Und das ist ein ironischer Sachverhalt, weil die letzten Jahrzehnte bei Religionsfragen die Identitätsproblematik so ins Zentrum gestellt haben, dass man das Religionsthema und das Identitätsproblem beinahe nicht mehr auseinanderdifferenzieren kann.
Aber die Studierenden, die ich habe, sind durch multiple Identitäten sozusagen bestimmt. Und das macht einen Teil des Reizes und der Herausforderung aus.
"Unglaubliche Pluralität von Religion"
Main: Also, Religionsidentitäten zerfließen. Das ist Ihr Eindruck in den Vereinigten Staaten?
Dalferth: Sie werden in einer ganz anderen Weise als bei uns zu Optionen. Man verändert sich mit Gründungen von Familien, mit Veränderungen im Berufsfeld. Ich habe Studierende, die innerhalb von den sechs, sieben Jahren, in denen ich sie kenne, schon zweimal ihre religiöse Zugehörigkeit geändert haben, die also von Evangelikalen zu Anglikanern wurden und jetzt Orthodoxe sind - oder die aus einer buddhistischen Tradition kommen und jetzt Christen geworden sind. Und das Umgekehrte – die Christen waren und die Buddhisten sind oder beides geblieben sind. Das ist in einer viel undramatischeren Weise der Fall, als es bei uns zu sein pflegt.
"Mobile Weltgesellschaft"
Main: Begrüßen Sie das oder erscheint Ihnen das bedenklich?
Dalferth: Zunächst einmal ist es einer der Gründe, warum ich nach Kalifornien gegangen bin, weil ich denke, da kann man etwas erleben und beobachten, was bei uns aus verschiedenen historischen Gründen so noch nicht der Fall ist, was vielleicht auch nicht so in dieser Extremität stattfinden wird. Aber in einer mobilen Weltgesellschaft ist das ein gutes Stück der Zukunft, auf die wir zuleben.
"Nicht mehr überschaubare Vielfalt"
Main: Das Ergebnis mag ja auch sein, dass Kirchen und andere Religionsgemeinschaften in den USA blühen - anders als im stärker säkularisierten Westeuropa. Also, dieses Phänomen wird ja kaum jemand bestreiten. Aber das wird dann gerne damit abgetan, die USA seien halt ein religiöser Supermarkt. Ist das für Sie lediglich ein Kampfbegriff?
Dalferth: Ja, es ist nicht nur ein Kampfbegriff, denn die USA hat sich entwickelt von einem relativ vielfältigen Staat und Gesellschaft zu einer nicht mehr überschaubaren Vielfalt. Als die USA sich gegründet haben im 18. Jahrhundert, in Virginia, wo die ersten Überlegungen dazu zu Papier gebracht wurden, da war gewissermaßen eine bestimmte Zahl von protestantischen, wie man damals sagte, Sekten da, für die man einen gemeinsamen Rahmen schaffte wollte.
Es gab keine katholische Gemeinde. Es gab zwei jüdische Gemeinden, ganz im Norden und im Süden. Aber im Grunde genommen war das sozusagen ein kleiner Ausschnitt des Protestantismus, der sich da versammelt hatte und für den man einen rechtlichen Rahmen zu schaffen versuchte – mit den entsprechenden Formulierungen bis hin ins First Amendment hinein...
Main: ... dem ersten Zusatzartikel der US-Verfassung, in dem Religionsfreiheit garantiert ist...
Dalferth: ... genau, mit den zwei Schwerpunkten, die sogenannte Establishment Clause, die sagt: Der Staat, der Kongress darf kein Gesetz erlassen, in dem eine Staatsreligion errichtet wird. Und zweitens der Free Exercise Clause: dass jeder das Recht hat, seine Religion auch zu praktizieren, ohne dass ihm da von staatlicher Seite Behinderungen entgegengestellt werden dürfen.
Heute ist die Situation aber vollständig anders, denn wir haben eine unglaubliche Pluralität von sich als Religion deklarierenden Bewegungen da. Im Grunde kann jeder seine eigene Religion aufmachen und hat auch das vom First Amendment abgedeckte Recht dazu.
Also, ich nenne nur mal ein paar Beispiele, auf was man sich da einstellen muss: Die United Church of Bacon etwa ist eine sich als Religionsgemeinschaft präsentierende und auf das First Amendment berufende Gruppierung, die den Schinken in das Zentrum ihres Kultes gestellt hat.
"Die Kirche des fliegenden Spaghetti-Monsters"
Main: Den Bacon?
Dalferth: Den Schinken, den Bacon, genau. The Church oft the flying Spaghetti Monster. Das sind die Pastafarians. Das ist eine ebenfalls sich als Kirche präsentierende Gruppierung, die die Differenz zwischen einem ironischen Sich-verhalten zum Religionsthema und einem Ernstnehmen auch dadurch verwischt, dass sie sich als Kirche anerkennen lassen will.
Die Universal Life Church ist eine Bewegung, die jedem erlaubt, eine Ordination bei ihr – im Internet kann man das machen – zu vollziehen und dann seine religiösen Meinungen, Überzeugungen oder Einsichten zu propagieren in ihrem Rahmen. Also, sie hat gar kein gemeinsames Programm, sondern will nur eine Form, in der jeder tun kann, was er will usw.
Also, die Grenze zwischen dem, was ursprünglich der Fall war, die protestantischen Gruppierungen, die eine Gemeinsamkeit suchten, und der Situation, die wir heute haben, dass wir eine unglaubliche Vielfalt, nicht nur von traditionellen Religionsformen, die wir alle irgendwie kennen, sondern von permanent sich neu erfindenden Religionsgruppierungen haben, stellt die Gesellschaft vor vollständig andere Herausforderungen als sie in diesen 18. Jahrhundert rahmengebenden Festlegungen im Blick gewesen sind.
Main: Welche Herausforderungen sehen Sie da?
Dalferth: Ich sehe die Herausforderung darin – und das ist der Sinn auch der Ausbildungsbemühungen, die wir da durchführen –, dass wir den Studierenden Mittel, Erkenntnismittel und Denkmittel, an die Hand geben, sich selber eine Position zu formulieren, im Blick auf diese Entwicklungen.
Die kommen aus Zusammenhängen, wo schon mehrere Religionen praktiziert werden. Die Großmutter war Buddhistin, der Vater ist jüdisch, die Mutter Katholikin. Jetzt versuchen sie selber, sozusagen in diesem Geflecht sich zu orientieren. Und wie bei allen Dingen hilft es, wenn man mehr weiß und sich besser auskennt.
Also, die Information und die Kenntnisse über das, was in der Geschichte des religiösen Denkens der verschiedenen Traditionen als relevant entdeckt worden ist, hilft – das ist die Hoffnung – den Einzelnen, sich selber in diesem Geflecht zu positionieren.
"Bindung vieler Menschen an Karitatives"
Main: Dass sich jeder seine eigene Religion schaffen kann, wie Sie es formuliert haben, dass Wettbewerb möglich ist, erklärt das womöglich in Ansätzen, dass katholisches, evangelisches, jüdisches, muslimisches Leben in den USA so lebendig erscheint?
Dalferth: Das hat auch soziale Gründe. Ich denke, ein Problem der europäischen Situation ist, dass bestimmte Themenbestände, über die sich die gesellschaftliche Präsenz der Kirchen lange definiert hat, zum Beispiel ihre Bemühung um Bildung der Bevölkerung, ihre Bemühung um karitative Unterstützung der Notleidenden usw., dass das alles von sozialstaatlichen Instanzen übernommen worden ist und die Kirche gewissermaßen in diesen Bereichen nur noch sekundär mitwirken kann. Aber das hat sie nicht mehr als ihr primäres gesellschaftliches Aufgabenfeld.
In den USA ist das anders. Durch die strukturelle Abstinenz des Staates im Blick auf soziales Engagement bleibt zwischen dem Einzelnen und dem großen Ganzen, also dem vom Staat repräsentierten Ganzen ein weiter Raum, wo gesellschaftliche Akteure, vor allem eben auch Kirchen und andere Einrichtungen, soziale Aufgaben übernehmen, die in Europa von staatlichen Instanzen übernommen sind. Dadurch gibt es dort ein Betätigungsfeld, das man nicht gering einschätzen darf.
Denn die Aktivitäten der Kirchen im sozialen Bereich führen zur Bindung vieler Menschen an soziale Tätigkeiten, Wohltätigkeit, an unterstützende Tätigkeiten, die bei uns so nicht stattfindet, weil wir ja staatliche Instanzen haben. Im Blick auf Homeless People, im Blick auf Migranten, im Blick auf die, die aus der Arbeit gekommen sind. Die finden keine staatliche Unterstützung, sondern die finden Unterstützung in vielen Fällen durch Kirchengemeinden, durch Religionsgemeinschaften, die entsprechende Programme anbieten.
Main: Wobei das Engagement von Caritas und Diakonie, von Kirchen im Bildungswesen in Deutschland ja nun auch ausgesprochen ausgeprägt ist. Wo ist da der Unterschied?
Dalferth: Der Unterschied ist, dass wir in dieser Tradition drin waren, aber wir haben im Prinzip eine Sozialstaatsorientierung, die vom Staat solche Unterstützungsleistungen erwartet im Blick auf die, die das notwendig haben. Und das ist der große Streit in den USA, dass das viele vom Staat nicht wollen. Das Verhältnis des Einzelnen im Staat ist anders grundiert, als das hier in Europa der Fall ist. Der Staat ist zunächst einmal eine Größe, vor der sich der Einzelne schützen muss. Das ganze Waffenproblem hängt damit zusammen.
Main: Und die Religionsgemeinschaften spielen mit in dieser basisorientierten Arbeit?
Dalferth: Die Religionsgemeinschaften sind gewissermaßen Gruppierungen, die zwischen dem Einzelnen und dem großen Ganzen ihren Operationsort haben.
"Ausgeprägter religiöser Wettbewerb in der US-Gesellschaft"
Main: Wir haben jetzt schon Vergleiche mit deutschen Verhältnissen begonnen. Herr Dalferth, in Deutschland scheint vieles eindeutiger zu sein, was Religion betrifft. Moslem ist Moslem, Katholik ist Katholik und Atheist ist Atheist. Und diese Blöcke mit festen Identitäten stehen sich gegenüber. Wenn sich mehrere religiöse Identitäten in mir oder meiner Familie oder meinem Freundeskreis widerspiegeln, macht das womöglich etwas lockerer und entspannter?
Dalferth: Na, es steigert zunächst mal die Ansprüche. Man muss sich nun positionieren. Man kann nicht einfach die Dinge treiben lassen, weil man nun mal dazugehört, gehört man dazu. Wo gehört man dazu, wenn man in einer so multireligiösen Familie aufwächst? Da ist schon implizit ein höherer Entscheidungsanspruch mitgesetzt. Das ist das eine.
Und das andere ist der Wettbewerb in der Gesellschaft: Der religiöse Wettbewerb in der Gesellschaft ist in den USA deutlich ausgeprägter als bei uns. Das hat mit dem zu tun, was ich vorher schon mal angesprochen hatte, mit der Differenz zwischen der staatlichen Neutralität und der gesellschaftlichen Nicht-Neutralität. Die Gesellschaft muss ein Ort sein, wo religiöse Differenzen offen ausdiskutiert und ausgetragen werden können. Und die sozusagen gesellschaftlich angemessene Verhaltensweise ist nicht zu versuchen neutral zu sein, sondern seinen religiösen Standpunkt so profiliert zum Ausdruck zu bringen, dass andere zuhören können, zuhören müssen und sich mit ihm auseinandersetzen müssen.
Main: Also, eher mehr Bekennertum durch Konversion und deswegen auch ein engagierter Wettbewerb in Religionsfragen?
Dalferth: Umgekehrt. Wegen des Wettbewerbs gibt es gewissermaßen mehr Anlass, auch seine eigene Meinung zu revidieren, seine Zugehörigkeiten zu revidieren und zu bedenken. Das ist nicht immer der Fall. Natürlich kann das auch zur Bestärkung der eigenen Zugehörigkeiten führen, aber die öffentlichen Debatten sind, denke ich, deutlicher vielfältig, als das bei uns der Fall ist. Bei uns gibt es große Blöcke. Dort gibt es viele unterschiedliche Ebenen.
"Die Vielfalt steigern, bis sie kollabiert?"
Main: Nun hat ja in stärker transatlantisch geprägten Zeiten oftmals die USA unsere Gesellschaft geprägt. Ich denke da nur an technische Entwicklungen. Jetzt mal mit Blick auf die Religion: Wie würde sich Deutschland verändern, wenn sich die christlich-jüdisch-muslimisch-agnostische Landschaft hierzulande entwickeln würde wie in den USA?
Dalferth: Die Tendenzen sind ja da. Es ist nicht sozusagen, dass das vollständig anders ist. Es ist dort nur weiter fortgeschritten. Es ist auch in Kalifornien weiter fortgeschritten als in anderen Bereichen der USA, die viel einförmiger und manchmal auch eintöniger in religiöser Hinsicht sind. Die Frage ist, ob man sich solchen Entwicklungen entgegenstellen will und möglichst große Zusammenhänge festhalten möchte, weil das natürlich gewisse Vorteile bringt zur Organisation vieler Probleme im religiösen Bereich, oder ob man das befördern will.
Und ich denke, die kalifornischen Lösungen zeigen, dass sie versuchen, durch Förderung der Vielfalt, und zwar der religiösen Vielfalt, der Diversity, einen Zustand herzustellen, wo niemand sich mehr selbstverständlich nur in einem Bereich sozusagen bewegen kann, ohne sich ausdrücklich mit anderen auseinandergesetzt haben zu müssen. Das kann man als einen Fortschritt ansehen. Man kann die anderen nicht mehr ignorieren. Man kann es aber auch als eine Steigerung ansehen, deren Ziel eigentlich fragwürdig ist, nämlich: Wie weit kann man die Vielfalt steigern, ehe sie kollabiert?
"75 Prozent der Erwachsenen in den USA sind Christen"
Main: Ingolf Dalferth, um jetzt noch mal etwas konkreter zu werden, Sie leben dort in den Vereinigten Staaten. Wir Ottonormalverbraucher denken an Evangelikale, wenn wir über den US-Protestantismus reden, wobei es durchaus auch politisch recht linke evangelikale Kreise gibt. Was sollten wir wissen, wenn wir jenseits von Klischees über evangelische Kirchen im Norden Amerikas nachdenken?
Dalferth: Zunächst mal muss man sich die Größenverhältnisse etwas klarmachen. Etwa 75 Prozent der Erwachsenen sind nach den jüngsten Umfragen Christen in den USA. Davon etwa 50 Prozent Protestanten, 25 Prozent Katholiken.
Die Protestanten wiederum teilen sich in drei große Blöcke auf, wie normalerweise gesagt wird. Das sind die Evangelical Protestants, also der evangelische Protestantismus im Sinne des evangelikalen Protestantismus. Dann die Mainline Protestant Denominations: Das sind Methodisten, Anglikaner, Calvinisten, die Lutherischen und so weiter. Und der fundamentalistische Protestantismus. Die sind sehr unterschiedlich aktiv und haben auch eine unterschiedliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten durchlaufen. Es ist ein in vielfältiger Weise differenzierter Protestantismus.
Daneben gibt es Phänomene, die bei uns nur ansatzweise da sind. Ich sage nur stichwortartig: die Megachurches, also Kirchen, die einen normalen Gottesdienstbesuch am Sonntag von mindestens 2.000 Personen oder mehr haben. Oder Bewegungen, die mit dem Stichwort des Prosperity Gospel eine große Rolle spielen zurzeit. Vor allem deshalb, weil sie in den mittelamerikanischen und südamerikanischen Zusammenhängen missionarisch sehr aktiv sind.
Also, Prosperity Gospel heißt, dass man davon ausgeht, dass Gott will, dass man glücklich und gut lebt, und dass man auch Erfolg hat im Leben. Und, wenn man Erfolg hat, dann zeigt das, dass Gott einen liebt.
Main: Dann ist man auch reich!
Dalferth: Das zeigt sich in dem Geld, das man hat, und das zeigt sich in Möglichkeiten, die man hat. Also, genau diese Formel, mit der ist in Mittelamerika sehr intensiv geworben worden. Und ich war in einem Ort in Guatemala. Der war ursprünglich katholisch gewesen. In zehn Jahren haben sich dort 16 – bei den etwa 2.000 Menschen, die da leben – 16 evangelikale Kirchen dieser Prosperity-Gospel-Form angesiedelt, die nun sich gegenseitig wettbewerbend zu zeigen versuchen, dass man mit ihnen besser im Leben durchkommt, mehr Geld verdient und eher die Chance hat, in die USA zu kommen, als ohne sie.
"Hilfe für Menschen, die entwurzelt sind"
Main: Genau darauf wollte ich hinaus. Inwieweit gibt es auch einen Einfluss aus Südamerika, wo eben die katholische Kirche nicht mehr so eindeutig dominiert? Also, welchen Einfluss gibt es wiederum von Süden nach Norden auf die USA?
Dalferth: Das gibt es ganz erheblich, weil wir ja natürlich gerade im Südteil von Kalifornien, auch in ganz Kalifornien, in Texas, in anderen Staaten, die an die mexikanische Grenze anstoßen, eine ganz erhebliche Zuwanderung von, also Migrationszuwanderung aus Mittelamerika haben. Es gibt viel mehr Latinos, die dann katholische Hintergründe meistens haben, aber eben zunehmend nun auch pentekostale Hintergründe haben, also pfingstlerisch-charismatische Hintergründe und entsprechenden Gemeinschaften zugehören. Warum? Weil diese wiederum sehr aktiv sind in der Betreuung und der Hilfestellung für Leute und Menschen, die vollständig entwurzelt sind, in einem anderen kulturellen Zusammenhang sich selber zu verlieren drohen und für die diese Kirche Angebote machen, in denen sie so etwas wie ein menschliches Leben dann wieder aufbauen können.
"Pfingstkirchen als ökumenische Herausforderung der Zukunft"
Main: Sie haben in einem anderen Interview gesagt, nicht der Dialog unter den alteuropäischen Konfessionstraditionen, sondern die Pfingstkirchen seien die ökumenische Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Sie sprechen auch die Pfingstkirchen gerade an. Und es vergeht kaum ein Gespräch mit anderen Theologen, in dem man nicht auf diese Pfingstkirchen als die große Herausforderung für die Kirchen stößt. Jetzt mal ganz einfach gefragt: Wieso sind die so spannend?
Dalferth: Die sind deshalb so spannend: Wenn man von Reformationen, Revolutionen und Umbauten des Christentums spricht, dann ist die Phase des 16. Jahrhunderts, die für Europa so wichtig geworden ist, eine, die deutlich vergangenheitsgrundiert ist. Und nun in der Gegenwart, und zwar schon einige Zeit, breitet sich eine neue Bewegung aus, die pfingstlich-charismatischen Kirchen, die rein zahlenmäßig inzwischen sicher die größte Bewegung ist, die das Christentum jemals gekannt hat, die sehr aktiv sich ausbreiten in Afrika, in Lateinamerika, auch in Asien und die zu einer ganz anderen Umgangsweise mit der christlichen Tradition führt. Das zeigt sich an vielen Punkten.
Entscheidend ist, dass Menschen aus diesen Aufbruchsbewegungen, die man als Pentekostale zusammenfasst - denn sie setzen auf die Präsenz des Wirkens des Geistes und nicht auf die Weitergabe einer überkommenen Tradition. Sie sehen nicht im Bibelbezug oder im Schriftbezug ihre primäre Orientierung, sondern im lebendigen Erfahren der Geistwirksamkeit.
Diese beginnen nun auch, in die akademischen Ausbildungsgänge hereinzukommen, und verknüpfen sich gewissermaßen jetzt mit den westlicheren Traditionen der Theologie und der Christentumsforschung. Und das ist ein hochspannender Prozess, weil man nun sieht, was sie als gewissermaßen aneignenswert und nicht-aneignenswert aus dieser vorhergehenden Tradition ansehen.
Ich denke, die Pfingstkirchen sind die ökumenische Herausforderung deshalb, weil die Gespräche zwischen den etablierten Großkonfessionen meist rückwärtsgewandte Gespräche sind. Die Gespräche in den Pfingstkirchen dagegen müssen sozusagen zukunftsorientierte Gespräche sein.
Main: Ängstigen Sie diese Pfingstkirchen? Mal ganz platt gefragt. Oder sehen Sie da eine große Chance?
Dalferth: Nein, mich ängstigt da in diesem Bereich gar nichts. Aber ich denke, da muss man beiderseitig lernen. Es hat keinen Sinn zu sagen, die sind ja noch nicht mal wissenschaftlich fähig, die Texte richtig auszulegen. Weil die sich gar nicht für diese Texte interessieren, die wir meinen auslegen zu müssen.
Ich hatte eine Promotion mitbegleitet eines afroamerikanischen pentekostalen Studenten, der als maßgebliche Orientierung für seine religiösen Aussagen in dieser Arbeit die Visionen seiner Großmutter angeführt hat. Die Bibel hat er sozusagen eigentlich fast noch nie in der Hand gehabt. Ich habe ihn dann genötigt, da auch bestimmte Dinge mal zur Kenntnis zu nehmen. Aber das ist zunächst mal die Situation, auf die man stößt. Und in diesen Zusammenhängen kann man nicht davon ausgehen, dass wir die Grundorientierung haben, die wir nur weitergeben müssen und die müssen sich an uns anpassen.
Nein, das wird unsere Art und Weise, Theologie zu treiben, grundlegend verändern. Da bin ich überzeugt und das wird sich auch in den nächsten Jahrzehnten zeigen.
Main: Abschließend die Frage: Als gut 70-Jähriger im Südwesten der USA zu leben, das machen Sie ja freiwillig. Ich vermute mal, dass Sie das nicht aus Gründen von Existenznot machen. Was treibt Sie letztlich an?
Dalferth: Mich treibt Verschiedenes an, aber im Kern das: Die USA hat sich sehr engagiert, als die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa versucht hat, die Weichen anders zu stellen und andere Entwicklungen einzuleiten. Ich denke, wir haben heute eine Verpflichtung als Europäer, das nicht vergessen zu lassen, was in Europa sich entwickelt hat und was man in einer Welt, die sich zunehmend Richtung Asien orientiert, vor allem Kalifornien, in Erinnerung halten muss. Und da sehe ich meine Aufgabe, das mit zu tun.
Main: Ingolf Dalferth war das, einer der evangelischen deutschsprachigen Theologen mit internationaler Ausstrahlung. Danke, Herr Dalferth, für Ihre Eindrücke aus einer so anderen religiösen Welt, nämlich Los Angeles, USA. Danke Ihnen.
Dalferth: Ich danke Ihnen auch.
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