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Religiöses Rechtssystem
Bald Mufti-Ehe in der Türkei?

Im Sommer stößt der türkische Präsident Erdogan oft Religionsdebatten an, die das Land spalten. In diesem Jahr ist es ein umstrittener Gesetzesvorschlag zur Ehe: Künftig sollen Muftis rechtlich gültige Trauungen vollziehen dürfen. Bisher ist das Standesbeamten vorbehalten.

Von Luise Sammann |
    Erdogan spricht auf einer Bühne, seine Hände sind verschränkt.
    Frauenorganisationen haben an den Staatspräsidenten und AKP-Vorsitzenden Recep Tayyip Erdogan einen offenen Brief geschrieben, in dem sie fordern, dass der Gesetzesvorschlag zur Mufti-Ehe zurückgezogen wird (dpa/Carsten Rehder)
    30 Jahre ist es her, dass Sezen Aksu, die vielleicht bekannteste Sängerin der Türkei, mit ihrem Lied zur Kinderbraut Ünzile Millionen zu Tränen rührte. "Mit acht Jahren schon entjungfert. Sowohl Kind, als auch Frau … Mit zwölf zum ersten Mal Mutter. Die einzige Frage ist: Wie viele Schafe ist Ünzile wert?"
    Dutzende Male wurde das Lied seitdem für Kampagnen gegen Kinderehen genutzt. Und tatsächlich: Viel hat sich getan seit den 1980er-Jahren. Und doch kommen weiterhin jedes Jahr Zehntausende minderjährige Mädchen unter die Haube. Wie viele es genau sind, weiß keiner. Denn fast immer werden die Ehen inoffiziell vollzogen, also ohne einen Standesbeamten und damit ohne staatliche Kontrolle. Die Soziologin Pinar Yildirim vergangene Woche im türkischen Fernsehen:
    "In meinem Dorf im Südosten der Türkei vollziehen 90 Prozent der Leute erst ihre offizielle Ehe, wenn ihre Kinder sechs oder sieben, also schulpflichtig sind. Vorher heiraten sie ausschließlich religiös."
    "Wir müssen das Gesetz der Realität anpassen"
    Geht es nach dem Willen der regierenden AK-Partei, soll damit bald Schluss sein. Pinar Yildirim, die Soziologin unterstützt das. Sie gehört zu den Verfechterinnen einer neuen Gesetzesvorlage, mit der die AKP Muftis, also Religionsgelehrten, die Autorität verleihen will, rechtsgültig Ehen zu schließen. Bisher unvorstellbar in der offiziell säkularen Republik Türkei.
    "Wenn die Leute nun mal eher zu einer religiösen als zu einer staatlichen Instanz gehen, um zu heiraten, dann müssen wir eben das Gesetz der Realität anpassen, um als Staat die Kontrolle zurück zu erhalten. Es dient doch dem Schutz der Familien und Kinder, wenn Menschen in Zukunft religiös heiraten können, aber der Staat gleichzeitig prüft, dass das Gesetz eingehalten und zum Beispiel keine Kinderehen geschlossen werden. Was ist daran falsch?"
    Weite Teile der religiös geprägten türkischen Gesellschaft stimmen Pinar zu. AKP-nahe Journalisten wie der Theologe Hayrettin Karaman preisen in Tageszeitungen die Freiheit, die Paare zukünftig haben, wenn sie sich entscheiden können, ob sie lieber bei ihrem Dorfmufti oder vor dem Standesamt heiraten wollen. Seit in der Türkei 1926 das Zivilrecht eingeführt wurde, hatten sie diese Wahlfreiheit nicht. Wer ausschließlich religiös heiratete, konnte dafür mit Gefängnis bestraft werden.
    Schwächung von Frauenrechten?
    Doch die Empörung im säkular ausgerichteten Teil der Gesellschaft ist groß. Abgeordnete der säkularen Oppositionspartei CHP warnen vor einem Rückschritt und "einer Mentalität, die den IS geschaffen hat". Vor allem türkische Feministinnen fürchten, noch mehr Frauen würden gegen ihren Willen verheiratet. Oder noch schlimmer: Künftig könnte die in einigen islamischen Ländern verbreitete Vielehe akzeptiert werden, sollte die sogenannte Mufti-Ehe erstmal Rechtsgültigkeit haben.
    "Die Muftis sind eine rein religiöse Instanz. Ihre Zuständigkeiten sind gesetzlich geregelt. Demnach sollen sie die Religionsbehörde Diyanet repräsentieren und religiöse Dienste erfüllen. Aber ihre Aufgaben haben nichts mit dem zivilen Recht zu tun", so die Juristin und Frauenaktivistin Canan Arin aus Istanbul.
    Wie viele andere säkulare Türken fragt sie: "Warum sollte man den Muftis überhaupt plötzlich die Arbeit von Standesbeamten übertragen? Die Verteidiger dieses Gesetzes sagen, das Heiraten würde dadurch einfacher. Aber es ist doch momentan auch nicht schwer?!"
    Auch Kritik aus islamischem Lager
    Dass das Gesetz vor allem eins, nämlich überflüssig ist, meinen selbst vereinzelte Kritiker aus dem islamischen Lager. Für Ihsan Eliacik zum Beispiel, Autor und Vordenker einer AKP-kritischen Bewegung, spielt es aus islamischer Sicht überhaupt keine Rolle, ob sich ein Paar vor einer religiösen oder einen staatlichen Autorität das Ja-Wort gibt:
    "Nach dem Koran gibt es nur zwei Bedingungen für die Ehe: Die Frage und das Ja-Wort. Wenn also einer fragt, 'Willst du mich heiraten?', und der andere sagt aus eigenem Willen 'Ja, ich will!', dann sind die religiösen Bedingungen bereits erfüllt. Alles andere - die Bekanntgabe, die Anwesenheit von Trauzeugen, der Brautpreis … - sind nicht religiöse, sondern gesellschaftliche Regeln. Für unseren Propheten spielten sie keine Rolle. Er akzeptierte auch all die Ehen, die vor vorislamischen Götterstatuen geschlossen worden waren."
    Weitere Spaltung der Gesellschaft zu befürchten
    Bleibt die Frage: Wieso unterstützt die angeblich islamisch orientierte AKP-Regierung mit ihrem Gesetzesvorschlag den weitverbreiteten Volksglauben, eine religiöse Autorität wie Mufti oder Imam müsse die Ehe schließen? Genauso könnte sie auch an der von Republikgründer Atatürk eingeführten Zivilehe festhalten - ein Gang zum Amt, der von der überwältigenden Mehrheit der Türken ohnehin durch eine islamische Zeremonie ergänzt wird.
    "Warum? Weil das Ganze Teil eines großen Ganzen ist. Die Regierung versucht, die türkische Republik Stück für Stück in einen Staat zu verwandeln, der auf den Regeln des sunnitischen Islams fußt", so Frauenaktivistin Canan Arin aus Istanbul.
    "So bauen sie ununterbrochen neue Moscheen, als hätten wir keine anderen Defizite in diesem Land. Jedes Jahr erhöhen sie das Budget der Religionsbehörde um weitere Millionen. Immer mehr Regelschulen werden in religiöse Imam-Hatip-Schulen umgewandelt und insgesamt werden die Lehrpläne immer religiöser. Dieses Gesetz jetzt ist ein weiterer Schritt dahin, die säkularen Prinzipien abzuschaffen, auf denen die Türkische Republik gegründet wurde."
    Ob das Gesetz zur sogenannten Mufti-Ehe am Ende wirklich kommt, weiß keiner. Klar ist jedoch schon jetzt: Es vertieft die Spaltung der türkischen Gesellschaft weiter. Genauso wie die Frage, welche Partei jemand wählt, auf welche Schule er sein Kind schickt oder in welchem Viertel er wohnt, in der Türkei immer häufiger über Freund und Feind entscheiden, so tut es ab sofort auch das Thema Mufti-Ehe.