Etwas blechern klimpert die arabische Musik im Hintergrund, während die junge Elody ihr schmales Gesicht in die Kamera ihres Computers hält. Sie spricht kein Wort, verzieht keine Miene, hält nur einen selbstgeschriebenen Zettel nach dem anderen in die Kamera. Früher habe es nur sie und ihre Mutter gegeben, ist da zu lesen, dazu billiges Vergnügen und flüchtigen Sex. Aber jetzt habe sie zum Glauben an Allah gefunden, jetzt habe sie Brüder und Schwestern – "ich habe meinen Weg gefunden" steht auf dem letzten Blatt, und dazu lächelt Elody zum ersten Mal.
Muslimisch: Road to Istanbul
Der Film "Road to Istanbul" zeigt die moderne Kernfamilie oder das, was von ihr übrig ist: Mutter und fast erwachsene Tochter leben in einem minimalistisch eingerichteten Haus irgendwo an einem Fluss in Belgien. So unterkühlt wie die Einrichtung ist auch das Verhältnis von Mutter und Tochter. Mutter Elizabeth ist professionell zugewandt im Beruf – die Zuneigung zu ihrer Tochter zeigt sie, indem sie ihr größtmögliche Freiheiten gibt. Als die Tochter verschwindet, behandelt Elizabeth das als jugendliche Aufmüpfigkeit. Doch dann sieht Elizabeth das Bekehrungsvideo und muss begreifen: Der vermeintlich Spontanurlaub in der Türkei hat als eigentliches Ziel den IS in Syrien, die Tochter will den extrem-islamistischen Terror unterstützen. Die unterkühlt-moderne und scheinbar so erfolgreiche Herkunftsfamilie hat sie eingetauscht gegen Nähe und Geborgenheit bei den neuen Glaubensgeschwistern. Und auch wenn Elizabeth sich auf eine verzweifelte Reise macht, um die Tochter zurückzuholen: Mit dieser Nähe kann sie nicht konkurrieren. Eine verstörende Beobachtung darüber, wie gerade extremistische Religion durch ihr Versprechen von Gemeinschaft betören kann.
Jüdisch: "El Rey del Once"
Den umgekehrten Weg geht Ariel im argentinischen Film "El Rey del Once": Er hat einst seinem Vater den Rücken gekehrt. Der beherrschte das Gemeindeleben im jüdischen Viertel von Buenos Aires. Jetzt kehrt er zurück. Der Vater instruiert ihn via Telefon - Erwartungen, die Ariel nur enttäuschen kann, auch jetzt noch, als erwachsener Mann. Der Vater bleibt weiter distanziert, lange Zeit ist er nur eine Stimme am Telefon mit immer neuen Aufträgen. Aber die ziehen Ariel immer tiefer ins Gemeindeleben hinein. Wenn dein Vater nicht da ist, muss jemand seinen Platz einnehmen, hört Ariel einmal. Dagegen hat er sich lange gewehrt, aber der Widerstand bröckelt. Vielleicht liegt es daran, dass sein Leben fern der Heimat nicht allzu erfüllt verlaufen ist, vielleicht ist er jetzt auch einfach reif dafür, seinen Platz zu finden: in der Familie und in der jüdischen Gemeinde:
Und so entdeckt Ariel nicht nur seinen Glauben wieder und legt zum ersten Mal in der Gemeinschaft der Betenden die Gebetsriemen an. Er wird auch immer souveräner darin, das Tagesgeschäft in der wohltätigen Stiftung seines Vaters zu organisieren – Regisseur Daniel Burman inszeniert dabei mit großer Liebe skurrile Alltagsprobleme: vom homosexuellen Sänger, der seinem Vater zuliebe die einst abgesagte Bar Mitzwa nachholen will, bis hin zum Konflikt mit dem koscheren Metzger, der ausgerechnet zu Purim kein Fleisch liefern will – und das im fleischversessenen Argentinien. Und irgendwann ist tatsächlich auf einmal auch der Vater wieder da, nicht nur am Telefon, sondern zum echten Gespräch unter vier Augen. Religion und Familie – in "El Rey del once" fallen sie in eins, auch hier lockt: das Versprechen von Nähe und Wärme. Nur dass es im argentinischen Film zärtlich ist und auf Verbindendes setzt. Religion wird so wieder zur Verheißung – das hat man lange nicht gesehen in den Filmen der Berlinale.