"Nächster Halt: Kassel Hauptbahnhof. Bitte stiegen Sie alle aus, der Zug endet dort. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts."
"Der Kurator ist Gott. Er schwebt über allem. Zumindest in Kassel." Das schreibt die "Neue Zürcher Zeitung" über Adam Szymczyk, den Künstlerischen Leiter der documenta 14. Wenn Szymczyk Gott ist, dann passt ins Bild, dass die documenta in Kassel einen Tempel errichtet hat: den "Parthenon der Bücher", entworfen von der argentinischen Künstlerin Marta Minujin. Der Kunst-Tempel in Kassel ist genauso groß wie der antike Parthenon auf der Akropolis in Athen.
Er ist der Tempel für die Stadtgöttin Athene und wurde vor fast 2500 Jahren erbaut - als Dank an die Göttin, weil sie die Griechen vor den Persern beschützt haben soll. Der Parthenon prägt die Akropolis und gilt als eines der berühmtesten Bauwerke weltweit. Im 6. Jahrhundert wurde der Tempel zur Kirche. Die Osmanen machten ihn später zur Moschee.
In Kassel stellt der Parthenon der Bücher die Verbindung her nach Athen, wo die documenta in diesem Jahr ebenfalls gastiert. Er besteht aus einem Metall-Gerüst, das mit Büchern verkleidet ist. Eine durchsichtige Plane hält die Bücher und schützt sie vor Regen. Zehntausende sind es schon, aber noch ist viel Platz.
Die Bücher wurden gespendet. Es sind Werke, die irgendwo auf der Welt schon einmal verboten waren. Lenin ist darunter, Anne Frank und auch die Bibel. Die Künstlerin Marta Minujin will mit dem Parthenon der Bücher ein Zeichen setzen gegen Zensur und Verfolgung von Schriftstellern weltweit. Auf dem Friedrichsplatz in Kassel, wo der Kunst-Parthenon steht, haben die Nationalsozialisten rund 2.000 Bücher verbrannt. Die Künstlerin schreibt also eine Wertegeschichte fort: Der Parthenon war schon griechisch-polytheistisch, christlich und islamisch. Marta Minujin widmet ihn jetzt der Meinungsfreiheit.
Singende Mönche
Religiöser Wandel findet sich auch in den Werken des deutsch-französisch-iranischen Regisseurs Romuald Karmakar. Zwei Video-Installationen von ihm sind an beziehungsweise in der Orangerie zu sehen, einem barocken Schloss in der Parkanlage Karlsaue. In einem Saal singen im Wechsel zwei orthodoxe Mönchschöre - einer auf Griechisch, einer auf Kirchenslawisch.
Sie singen den Marien-Hymnus "Agni Parthene". Die Video-Installation heißt "Byzantion". Sie ist inhaltlich verknüpft mit der zweiten Installation, die von außen auf das Schloss projiziert wird. Titel: "Die Entstehung des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum Fall von Konstantinopel".
Historische Daten sind hier zu lesen, etwa wann Sultan Saladin in Jerusalem war. Es geht um die Kreuzzüge, aber vor allem den Untergang des Byzantinischen Reiches vor fünfeinhalb Jahrhunderten. Als das christliche Konstantinopel zum islamischen Istanbul wurde. Wer will, kann hier eine Anspielung erkennen auf aktuelle Islamdebatten - gar auf den vermeintlichen Untergang des Abendlandes? Ausgerechnet in der idyllisch-barocken Karlsaue.
"Ignoranz ist eine Tugend"
"Ignoranz ist eine Tugend", so flüstert es bei der documenta in vielen Ecken und Nischen. Ein Klangkunstwerk des US-Amerikaners Pope.L. So flüstert es auch in der Neuen Galerie. Zwischen modernen und abstrakten Werken findet sich hier indigene Kunst, etwa Masken. Hin und wieder hängt auch Kirchenkunst dazwischen. Jesus, der Heilige Antonius - ein paar hundert Jahre alt. Oder eine Buddha-Darstellung, fast 2.000 Jahre. Als würde jemand sagen: Früher war religiöse Kunst mal wichtig …
Auch ein bisschen Reformation gibt es in der Neuen Galerie. Ein Luther-Porträt von Lucas Cranach dem Älteren, in dreifacher Ausführung - allerdings verfremdet. Die US-Künstlerin Rebecca Howe Quaytman hat einem Luther etwas Undefinierbares ins Gesicht geklebt. Auf dem zweiten Bild verblasst Luther unter einer weißen Schicht. Das dritte Luther-Portrait hat die Künstlerin monströs entstellt. Sie hat es collagiert mit einer Zeichnung von Paul Klee und einem Buch von Walter Benjamin. Zu lesen ist: "Ursprung des deutschen Trauerspiels".
Kirchen mit eigener Kunst
Nur wenige Minuten entfernt steht die evangelische Karlskirche. Hier wird ein anderes Lutherbild gezeichnet, mit einem Ableger der Wittenberger Ausstellung "Luther und die Avantgarde". Die Kirchen machen zur documenta auch in diesem Jahr ihr eigenes Kunstprogramm. Vor fünf Jahren hatte die katholische Kirche Ärger mit der Künstlerischen Leiterin der documenta, Carolyn Christov-Bakargiev. Die Kirche hatte eine Skulptur auf dem Turm der Elisbethkirche installiert - mitten zwischen den Ausstellungsorten der documenta. Die Skulptur zeigt einen Mann - schwarze Hose, weißes Hemd - der seine Arme zur Kreuzigungspose ausbreitet. Er steht auf einer goldenen Kugel, die sich dreht.
Fünf Jahre später dreht sich der Mann noch immer. Und auf der anderen Straßenseite, an dem Turm der Karlskirche, ist nun ebenfalls Kunst zu sehen. Ein Spruchband, das auf die Flüchtlingsdebatte verweist. Damit fügt sich die Kirche - Zufall oder nicht - gut ein in die documenta 14, wo Themen im Zentrum stehen wie Flucht, Migration, Krieg und globale Ungerechtigkeit.
Bibelvers und Migrationsdebatte
Das Kunstwerk mit dem stärksten christlichen Bezug hat allerdings die documenta selbst in die Stadt gießen lassen. Der Königsplatz, ein paar hundert Meter vom documenta-Rummel entfernt. Zwischen Shoppingcenter und Straßenbahn steht nun ein Obelisk. Über 16 Meter hoch. Am Fuß drei mal drei Meter, oben läuft er spitz zu. Passanten bleiben stehen, lesen die Inschrift teils laut vor: "Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt."
Das steht dort gleich in vier Sprachen: Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch. Was nicht dabeisteht: dass dieser Satz aus der Bibel stammt. Ein Jesus-Wort aus dem Matthäus-Evangelium. Der US-amerikanische Künstler Olu Oguibe hat den Obelisk entworfen. Er nennt ihn "Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument". Oguibe ist Sohn eines christlichen Predigers und selbst aus Nigeria in die USA geflohen. Mit dem Bibel-Zitat wolle er evangelikale Christen in den USA provozieren, sagt Oguibe. Die forderten, die Grenzen für Migranten zu schließen. Dabei habe Jesus das Gegenteil verkündet.
Der Obelisk passt auch in die Migrationsdebatten in Deutschland und Europa. Dann muss man den Bibelvers allerdings auch zynisch verstehen: "Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt" - das gilt eben nicht überall in Europa und auch nicht immer in Deutschland. Für viele "Fremdlinge" bleibt die Herberge verschlossen - oder sie werden schnell wieder vor die Tür gesetzt.