"Die Körber-Stiftung steht in einem Dialog mit den Islamisten und vielleicht haben sie in meinem Buch etwas gefunden, von dem sie dachten, dass es ihre Beziehung zu den islamistischen Partnern beschädigen könnte. Sie hatten ja auch Mursi nach Berlin eingeladen. Sie hatten wohl gedacht, dass die Islamisten mein Buch für die Position der Körber-Stiftung halten könnten. Aber ich habe ihnen immer wieder gesagt: Das, was ein Autor schreibt, ist seine Meinung und seine Sache und nicht die des Verlegers. Aber ich habe auch Verständnis für sie. Das ist eben eine Stiftung und kein Verleger."
Boualem Sansal, der eine schleichende Islamisierung seines Heimatlandes Algerien erlebt – die Islamisten nötigen die Regierungen diverser Provinzen, Kneipen und Bars zu schließen - beobachtet, dass es sich der Westen mit einer Sprachregelung bequem gemacht hat: hier der Islam als Religion wie jede andere auch, dort der Islamismus als extremistischer Auswuchs.
Dabei gehe die Unterteilung in einen guten und einen bösen Islam am Kern des Problems vorbei.
"Der Islam definiert sich als Religion der Totalität. Er ist Religion und Welt. Das heißt auch, er ist die zentrale Macht im Leben der Gläubigen. Der Kalif entscheidet alles: Wie man betet, heiratet, sich kleidet, alles. Die Frage ist, ob man das Phänomen des Islamismus isoliert betrachten kann oder ob man nicht auch den Islam diskutieren müsste. Soll die Religion wirklich auf das ganze Leben übergreifen? Ist dieser Islam mit der Moderne in Einklang zu bringen? Es wäre an den Muslimen, über ihre Religion nachzudenken."
Vor zwei Jahren, in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, hatte Boualem Sansal gesagt: "Der Islam ist ein Furcht einflößendes Gesetz geworden, das nichts als Verbote ausspricht, den Zweifel verbannt und dessen Eiferer mehr und mehr gewalttätig sind." Als er seine Rede hielt, wurden gerade die Islamisten der Ennahda–Partei in Tunesien an die Regierung gewählt. Für Sansal speist sich die geistige oder faktische Militanz der Islamisten aus einem in Rigorismus erstarrten Islam.
"Die Islamisten sind entschlossen. Ihre Überzeugung versorgt sie mit großer Energie. Sie sind bereit, sich selbst umzubringen. Sie sind zu allem bereit. Das ist eine faschistische Bewegung. Sie machen das auch nicht aus religiösen Beweggründen. Vielleicht gab es am Anfang eine religiöse Motivation, aber dann ist das gekippt, in den Faschismus, in den Wahnsinn. Und weil die Gesellschaft nicht weiß, wie sie damit umgehen soll, zieht sie sich zurück."
Die Gesellschaft habe Angst, diagnostiziert der 64-Jährige und erzählt von einem Erlebnis in einem Bus in Paris: Ein Islamist, erkennbar an Gewand, Bart und Gebetskette, besetzt den einzigen freien Platz mit seiner Tasche. Ein alter Mann, der sich setzen will, schreckt zurück, als er erkennt, wen er vor sich hat.
"Er hat Angst gehabt. Sogar davor, ihn nach dem Platz zu fragen. Und diese Dinge passieren in den letzten 20 oder 30 Jahren täglich. Die Islamisten gehen voran und erobern den Raum und wir ziehen uns zurück, immer weiter zurück."
Auch Boualem Sansal hatte Angst, als er anfing zu schreiben und Drohungen der Religiösen erhielt, als der algerische Staat ihm seinen Posten als Direktor des Industrieministeriums aufkündigte, als seine Frau, eine Lehrerin, entlassen wurde und sein Bruder, ein Landwirt, mit überhöhten Steuerforderungen in den Ruin getrieben wurde.
"Wenn man Angst hat, kann man aber nicht vernünftig nachdenken. Man wird böse. Man sagt: diese Hunde. Und dann hat man Lust, sie zu töten. Schafft man es aber, diese Angst zu meistern, sieht man die Situation ganz anders. Der, der mich bedroht, ist nicht zwangsläufig ein Feind. Er ist vielleicht ein Gegner, aber kein Feind. Vielleicht gibt es einen Weg der Verständigung. Vielleicht kann man ihm etwas erklären. Vielleicht hat er es einfach nicht begriffen. Vielleicht wurde sein Gehirn von Propaganda vernebelt."
Vielleicht gibt es einen Weg der Verständigung. Für ausgeschlossen hält Sansal das nicht. Also redet Sansal mit den Islamisten, obwohl er sie für Faschisten hält. Viele seiner Nachbarn gehören dazu. Er bekennt Farbe. Und hält sich dabei nicht für mutiger als eine algerische Frau, die ohne Kopftuch über die Straße geht. Auch sie setze ihr Leben aufs Spiel, sagt er.
"Ich hab sogar mit denen diskutiert, die im Untergrund gekämpft haben. Die waren für mehrere Jahre von der Bildfläche verschwunden, und als sie ins Zivilleben zurückkehrten, haben wir auch über Religion geredet. Sie denken in einem Schema, das man ganz klar als faschistisch bezeichnen muss. Sie wollen die ganze Macht, nicht nur ein bisschen. Und dass sie die kriegen, ist für sie nur eine Frage der Zeit. Und Zeit? Davon haben sie genug."
"Schweigen ist ein großes Verbrechen. Das größte von allen", heißt es in Sansals letztem Roman "Rue Darwin". Und der Vorsatz zu seinem Essay "Allahs Narren" ist von Albert Camus: "Wer die Dinge beim falschen Namen nennt, trägt zum Unglück der Welt bei." Also sagt Sansal, was er denkt: In Algerien hätte man die Islamisten erst belächelt, dann versucht, mit ihnen einen Deal zu machen. Als das nicht funktionierte, sei das Regime übergelaufen, nach dem Motto, trete der Partei bei, die du nicht schlagen kannst. Und die Europäer mit ihren wachsenden muslimischen Gemeinschaften seien ebenfalls gescheitert mit ihrem Integrationskonzept, sagt Boualem Sansal.
"Heißt das nun, wir sind alle dumm und die Islamisten superintelligent oder liegt der Grund vielleicht darin, dass wir alle dem Problem nicht entschieden genug entgegengetreten sind?"