Nahe der freien Stadt Fanada, nur ein kurzes Stück entfernt vom Rothornpass, liegt in einem Waldstück die Taverne "Zum Wegkreuz". Nach beschwerlicher Reise kehren dort allerlei Wanderer ein – fahrende Ritter, Landsknechte, Bürgersleute, Bauern – und sogar der Hochadel von Engonien ist sich nicht zu fein, mit dem gemeinen Volk ein Horn süßen Honigweins zu leeren. Unweit der fröhlichen Gesellschaft steht der Priester Flamen Damian mit drei Begleitern auf einer Waldlichtung und intoniert das gemeinsame Gebet zum Sonnenuntergang.
"Herr, wir haben uns hier Dir zu Ehren versammelt, das Feuer Deiner Herrlichkeit hat uns umspült und wir preisen Deinen Namen."
Sie beten zu Alamar - dem Gott der Gerechtigkeit, des Gesetzes und des rechtschaffenen Feuers. Ihre Roben zeigen die Flammensymbole der Gottheit, die zu den wichtigsten im engonischen Pantheon gehört.
"Alamar erhöre uns, Alamar erhöre uns"
"Eine Figur so gut wie möglich darstellen"
Tatsächlich ist die Taverne "Zum Wegkreuz" die Grillhütte der Schützenbruderschaft St. Sebastianus in Bad Münstereifel. Und an Alamar, den Gott der flammenden Gerechtigkeit, glaubt hier in Wahrheit auch keiner. Denn all das ist Teil eines Live-Rollenspiels.
"Man denkt sich unter bestimmten Vorgaben, die man sich vorher aussucht, eine Figur aus, die man verkörpern möchte und versucht diese dann so gut wie möglich darzustellen", erklärt Vanessa Assenmacher, Vorsitzende des Rollenspiel-Vereins Engonien.
"Man denkt sich eine Geschichte dazu aus. Man denkt sich aus, wie derjenige in Situationen reagiert, was der für ein Charakter ist. Wir nennen das Ganze 'auch einen Charakter spielen'. Und dann füllt man das mit Leben."
Die Live-Rollenspieler interagieren dann in ihren Rollen mit den Charakteren der anderen Spieler – mal in Freundschaft, mal in Konflikten und erschaffen so eine interaktive Geschichte.
Die fiktive Welt von Engonien kann man sich ein bisschen wie das Setting aus Tolkiens "Herr der Ringe" vorstellen, also als eine Mischung aus Mittelalter und Fantasy. So sind in der Taverne "Zum Wegkreuz" an diesem Abend auch Magier und Elben eingekehrt. Auffällig ist aber vor allem die hohe Zahl von Klerikern:
"Der Anteil an Priestern, Novizen, Geweihten, wie immer man es nennt, ist relativ hoch. Gerade bei uns auch nochmal besonders – wir haben viele Priester."
"Der Priester ist ein Held"
Der Priester als beliebter Held – das überrascht in Zeiten von Kirchenaustritten und Priestermangel. Jeremias Weber verwandelt sich in seiner Freizeit seit 13 Jahren regelmäßig in den Alamar-Priester Flamen Damian:
"Der Priester ist ein Held, weil er vorne steht und für seinen Gott gegen das Böse kämpft. Er ist der Vorkämpfer seines Gottes – und damit ist er eine strahlende Heldenfigur."
Und das ist in der Welt von Engonien überhaupt nicht metaphorisch gemeint – mit Schwertern und magischen Kräften gerüstet ziehen die Priester gemeinsam mit den Kriegern in den Kampf gegen das Böse.
"Innerhalb der Spielwelt äußern sich die Götter. Es ist nicht möglich zu sagen, es gibt keine Götter. Es ist allerhöchstens möglich zu sagen, ich mag diese Götter nicht und verehre sie nicht. In jedem Falle können deren Vertreter genauso Zauber wirken wie irgendein Magier. Das heißt, der Feuerball, der kann auch von einem Priester geworfen werden", sagt Weber.
"Wir bespielen Religion sehr klischeehaft"
Diese direkte Erfahrbarkeit der Götter hat auch noch eine andere Funktion – sie gibt Orientierung, erklärt Vanessa Assenmacher:
"Wir bespielen Religion sehr klischeehaft. Mit diesem klaren Hell und Dunkel, Gut und Böse. Und ich glaube, das ist was, was Menschen brauchen: Diese klaren Bilder, ganz klare moralische Vorgaben, an die man sich halten kann, die einem irgendwie Sicherheit geben. Wenn man das im realen Leben schon häufig nicht hat, dann tut es vielleicht gut, das anders für sich selber darzustellen. Wie hätte ich es gern? Wie fühle ich mich eigentlich sicher?"
Die klare Aufteilung in Gut und Böse sorgt also für geordnete Konflikte, die die Spieler mit Diplomatie, Geschick oder dem Schwert lösen können. Schwerwiegende moralische Dilemmata ergeben sich daher eher selten. Zumindest in der Spielwelt – aber manche Spieler sind auch im realen Leben religiös, wie Jeremias Weber:
"Ich bin in einer syrisch-orthodoxen Gemeinde in Köln. Und ich bin insgesamt in der orthodoxen Kirche seit 30 Jahren aktiv, seit 30 Jahren auch Messdiener, habe den obersten Bischof der orthodoxen Kirche in Deutschland unter anderem begleitet und ähnliche Dinge – also, ich bin da relativ aktiv."
"Was ich spiele, ist nicht das, was ich glaube"
Trotzdem hat sich Jeremias Weber im Spiel für die Rolle des Alamar-Priesters entschieden – und wie er sie spielt, ist stark davon beeinflusst, wie er auf Kirche und Religion blickt, sagt er. Sein persönlicher Glaube hat aber vor allem Einfluss darauf, wo Jeremias Weber im Spiel seine Grenzen zieht:
"Für mich ist es ganz, ganz wichtig, dass das, was ich im Spiel mache und das, wo ich in der Realität dran glaube, sich nicht berühren. Das heißt: Das, was ich spiele, ist nicht das, was ich glaube. Das bedeutet insbesondere: Wenn ich mich im Spiel damit auseinandersetze, wie baue ich die Religion auf, wie glaubt mein Charakter, dann sind das Aspekte, die fundamental sich unterscheiden von dem, wie ich in der Realität glaube."
So vermeidet er Gewissenskonflikte – und außerdem die Gefahr, dass Spiel und Realität verschwimmen und gespielte Konflikte real werden. Letztlich ist die Rolle des Priesters im Live-Rollenspiel aber schon durch das Abenteuer-Setting eine völlig andere – so treten Seelsorge und Gebet in den Hintergrund – zugunsten von Wunderwirkung und dem Kampf für das Gute. Für die reale Welt wünscht sich Jeremias Weber einen solche Religion jedoch nicht:
"Ich glaube real nun mal an den Gott, wie er im Christentum beschrieben wird. Dazu zählt, dass ich an den freien Willen glaube. Dieser freie Wille kann aber nur existieren, solange Gott transzendental bleibt, denn in dem Moment, wo er sich unmissverständlich offenbart, wie das, was im Spiel passiert, gibt es keinen freien Willen mehr. Und das bedeutet, in dem Moment, wo Gott tatsächlich eingreift, konkret fassbar wird, in dem Moment ist auch das Ende erreicht. Und damit folge ich ja sehr genau dem, was in der Bibel beschrieben wird. Die Ankunft Gottes auf Erden ist die Apokalypse."
Letztlich hat für Jeremias Weber die klare Ordnung im Live-Rollenspiel noch eine andere, dystopische Kehrseite: die Existenz böser Mächte nämlich, die – aus dramaturgischen Gründen – ebenso mächtig sein müssen wie das Gute in der Welt. Beim Tavernenabend lässt sich diesmal allerdings keine finstere Macht blicken – die Helden können ungestört miteinander anstoßen, singen und feiern.
"Lass uns kämpfen, lass uns siegen oder gemeinsam untergehen." (Gesang)