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Religion in der Popmusik
Zwischen Vatican Blues und Himmelstür

Madonna, Bob Dylan, George Harrison, Leonard Cohen, Johnny Cash - wer es nach oben geschafft hat, singt gern über seinen Draht in den Himmel: über Jesus, Buddha, Allah oder namenlose Götter. Doch Religion ist ein heikles Thema im Unterhaltungsgeschäft, sagt Buchautor Renardo Schlegelmilch.

Renardo Schlegelmilch im Gespräch mit Christiane Florin |
    Die Pop-Sängerin Madonna ist bei einem Konzert im Rahmen ihrer "Confessions Tour" in Cardiff im Juli 2006 zu sehen, auf dem sie sich als Gekreuzigte darstellt
    Provozierte nicht nur auf der Bühne, sondern auch den Vatikan: die US-amerikanische Sängerin Madonna (dpa / EMPICS / Yui Mok)
    Christiane Florin: Am Morgen nach der Stillen Nacht, die da Justin Bieber, Elvis Presley, die A cappella-Gruppe Pentatonix und – unverkennbar - Johnny Cash besungen haben. "Sleep in heavenly peace" mögen manche von ihnen übersetzen als: Lass mich mit diesem Kitsch in Frieden. Aber vielleicht hören Sie nach diesen gut 20 Minuten manchen spirituell swingenden Popstar mit anderen Ohren. Bei mir im Studio ist der Journalistenkollege Renardo Schlegelmilch, Autor eines Buches über Religion in der Popmusik namens "If you believe". Guten Morgen, Herr Schlegelmilch.
    Renardo Schlegelmilch: Schönen guten Morgen, Frau Florin.
    Florin: Wieso greifen Popstars zu diesem frommen Volkslied mit der Jungfrau Maria, Christus, dem Retter und so weiter? Ist das bloß saisonale Sentimentalität, oder Thema vieler Weihnachtspredigten, nur Kommerz?
    Schlegelmilch: Der Kommerz, der wirtschaftliche Erfolg, spielt dabei definitiv eine große Rolle. Das Weihnachtsgeschäft ist auch in der Musikindustrie die erfolgreichste Zeit des Jahres. Es hat schon einen Grund, dass gerade jetzt im Dezember viele Künstler ihre neuen Alben veröffentlichen. Meist sind das Best of-Alben, mit bekannten Liedern, damit der Mensch im Plattenladen den Wiedererkennungs-Effekt hat und denkt "Eine CD mit den Hits von Michael Jackson? Das ist doch ein super Geschenk für Mama." Diesen Wiedererkennungseffekt kann man aber auch mit Weihnachts-Alben bekommen. Das haben sich auch Justin Bieber, Johnny Cash oder Elvis gedacht. Heilig Abend unterm Weihnachtsbaum ist der Moment, wo wir alle besinnlich sein wollen, und die passende Musik hören wollen. "Stille Nacht" ist da garantiert der absolute Evergreen. Elvis und Justin Bieber wollten das als Möglichkeit, ein Geschäft zu machen, natürlich nicht ignorieren. Das heißt auf der anderen Seite nicht, dass diese Künstler nichts mit Religion und Spiritualität anfangen können, da muss man aber bei anderen Liedern und Texten schauen, als bei dem Standard-Weihnachtslied neben "Last Christmas".
    "Last Christmas" - ein Song wie ein Laubbläser
    Florin: Sie haben sich für Ihr neues Buch besonders intensiv mit Religion in der Popmusik beschäftigt. Wie sieht da die Religionskonkurrenz aus? Welche ist die Lieblingsreligion der Stars? Christ, the savior oder eher Baby-Buddha?
    Schlegelmilch: Tatsächlich bleiben die meisten Künstler da gerne relativ vage. Es geht um die Schöpfung, es geht um einen Schöpfer, aber dass konkret Jesus oder Mohammed oder Buddha angesprochen werden, ist eher die Ausnahme. Auch das wird mit Geschäftssinn zu tun haben. Die Plattenfirmen möchten ungern die Hälfte ihres Publikums verprellen, das entweder an einen anderen Gott glaubt, oder, und das ist noch wahrscheinlicher, grundsätzliche Berührungsängste mit Religion hat.
    Es gibt aber natürlich auch Ausnahmen, und da wird es spannend. Johnny Cash, gerade angesprochen, hat viele christliche Hymnen für den Gottesdienst aufgenommen, viele Alben, die sich explizit an ein christliches Publikum wenden. Häufig Zitiert er auch die Bibel in seinen Liedern. Robbie Williams macht das auch, hat aber zeitweise auch mit dem Buddhismus sympathisiert, und bringt diese Bilder in seine Musik ein. Ein anderes Beispiel ist Cat Stevens. Dessen größter Hit "Morning has broken" ist eigentlich ein schottisches Kirchenlied. Er hat in den 70ern eine Nahtoderfahrung erlebt hat und ist danach zum Islam konvertiert ist, und sich seitdem Yusuf Islam nennt. Jahrzehnte lang hat er nur islamisch-religiöse Lieder veröffentlicht, "Allah is enough for me" hieß eins davon, bis er 2006 wieder zur Popmusik zurück ist.
    Florin: Was im Herbst die Laubbläser sind, ist kurz vor Weihnachten "Last Christmas" von Wham: eine allgegenwärtige akustische Belästigung. Welches ist für Sie das Pop-Weihnachtslied schlechthin?
    Schlegelmilch: "Last Christmas" hat eigentlich gar nichts mit Weihnachten zu tun. Ursprünglich sollte das Lied zu Ostern raus kommen und "Last Easter" heißen, da sich die Produktion aber verzögert hat, haben George Michael und Wham halt ein Weihnachtslied mit Glöckchen und Schnee im Video draus gemacht. So ist es zum Weihnachtshit geworden. Zumindest ist das das Gerücht, was man sich in Musik-Kreisen erzählt.
    Wham! (George Michael und Andrew Ridgely) im Jahr 1986.
    Der Song "Last Christmas" von Wham ist bis heute ein beliebter Charthit zur Weihnachtszeit (imago / Cinema Publishers)
    Florin: Hätte sich aber auch schlechter verkauft "Letzte Ostern schenkte ich dir mein Herz."
    Schlegelmilch: Wenn es darum geht, welches Lied von der Stimmung und der theologischen Aussage zum Weihnachtsfest am besten passt, dann wäre das wohl "The Power of Love" von "Frankie Goes to Hollywood".
    Florin: Das Fest der Liebe, die Kraft von oben. Im Video von Power of Love gab es allerlei Weihnachtssymbolik, aber ist das ein religiöses Lied?
    Schlegelmilch: Es ist auf alle Fälle auch hier vom Ursprung her kein Lied über Weihnachten. Trotzdem sage ich: Es ist ein Weihnachtslied, wenn man zum Beispiel den Text mit der theologischen Lupe betrachtet. Worum geht es am Weihnachtsfest? Den Christen geht es darum, dass Gott durch die Geburt Christi zum Menschen geworden ist, und seine Liebe, seine himmlische Liebe, den Menschen geschenkt hat. Im Johannesevangelium steht "Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat."
    Kompliziert ausgedrückt, aber das ist genau die Aussage, die "Frankie goes to Hollywood in diesem Lied" treffen. "Die Kraft der Liebe von oben reinigt meine Seele". "The power of Love, a force from above, cleaning my soul". Diese Bilder werden dann noch im Text ausgebaut. Es geht um Engel, um Feuerzungen, aber im Endeffekt kommt es auf diese Aussage zurück: Gott schenkt die Liebe den Menschen.

    Florin: Der Titel ist noch bekannt, die Band fast vergessen. In den 80ern war sie sehr bekannt und zwar für irritierende bis schockierende Themen bekannt. Hat Spirituelles in den 1980ern noch oder wieder schockiert?
    Schlegelmilch: Auf alle Fälle war das ein Thema, dem man sich nicht unbefangen nähern konnte. In gewissem Sinne ist das auch noch heute so. "Frankie goes to Hollywood" haben kurz zuvor mit "Relax" ein Lied über Sex und Orgasmen, ein anderes Lied ist "Two Tribes" ein hochpolitisches Lied rausgebracht über die Spaltung der Politik, auch hochaktuell. Und das sind die drei Themen: Sex, Religion und Politik, Themen mit Aufreger-Faktor, mit denen man als Band gut in die Schlagzeilen kommt. Wenn wir ehrlich sind: eignet sich auch heute noch nicht gut zum Smalltalk.
    Leonard Cohen hat Sinn fürs Scheitern, Van Morrison preist die Schöpfung
    Florin: Manche Popsongs haben Kirchenliedstatus erreicht. "The Power of Love" nicht oder noch nicht. Aber zum Beispiel "You'll never walk alone" von Gerry and the Pacemakers, vielfach gecovert, u. a. von Johnny Cash. Es wird gern in Stadien gesungen, aber auch in Gottesdiensten mit und ohne Fußballfans. Welches ist für Sie das neue Pop-Kirchenlied, das gar nicht als solches komponiert war?
    Schlegelmilch: Da habe ich eine eindeutige Aussage, und das ist für mich "Hallelujah" von Leonard Cohen. Das passt als Lied perfekt in den Gottesdienst. Ich würde das persönlich auch als bestes Kirchenlied der letzten 50 Jahre bezeichnen, auch wenn es eigentlich nicht als solches gedacht war.
    Florin: Was ist daran so perfekt?
    Schlegelmilch: Auf der einen Seite passt es perfekt in den Gottesdienst. Es wiederholt sich im Refrain immer wieder mit dem Wort Halleluja, mit dem Lobpreis. Das hat die Struktur wie jedes Halleluja im Gottesdienst. Auf der anderen Seite ist aber auch die Aussage, eine tief-christliche oder tief-religiöse Aussage. Es geht darum, dass man im Leben dankbar sein soll für die Erfahrungen, die man macht. Positiv wie negativ. "Even though it all went wrong, I’ll stand before the Lord of song, with nothing on my tongue, but hallelujah." Obwohl alles schief gelaufen ist, stehe ich vor meinem Schöpfer und habe nur noch ein Wort im Mund: Hallelujah – Danke Gott. Das ist eine Überzeugung, die für Christen ganz wichtig ist. Ohne das Leiden Christi am Kreuz würde es keine Auferstehung geben, ohne den Karfreitag kein Osterwunder, auch wenn wir jetzt über Weihnachten sprechen.
    Leonard Cohen bei einem Konzert in Paris im Jahr 1970.
    Mit dem Song "Hallelujah" schuf Leonard Cohen einen Hit, der durchaus in den Gottesdienst passt (imago / Philippe Gras)
    Florin: Leonard Cohen ist Jude. Man kann theologisch eine Menge hineininterpretieren, wenn ein Lied, das von König David erzählt, eine zweite Karriere als Hit in christlichen Kirchen macht.
    Schlegelmilch: Ich glaube Cohen selbst hätte das gar nicht hoch gehängt. Obwohl er Jude ist, überzeugter Jude, hat er auch vorher schon Lieder über Jesus geschrieben. In "Suzanne" zum Beispiel taucht der immer wieder auf. Was man sagen kann, ist das Leonard Cohen wohl einer der tiefgläubigsten Künstler des vergangenen Jahrhunderts war. Man merkt das am Text zu Hallelujah, wo wirklich viel drin steckt, mehr als wir gerade beschrieben haben. Er selbst hat auch irgendwann beschlossen: Ich setze mich zur Ruhe und werde den Rest meines Lebens im Kloster verbringen, im buddhistischen Kloster. Als buddhistischer Jude hat er sich zu der Zeit bezeichnet, weil das Judentum für ihn trotzdem eine Rolle gespielt hat.
    Theoretisch wollte er bis zum Lebensende in diesem Kloster in Kalifornien bleiben, dann ist aber seine Managerin mit all seinem Geld durchgebrannt, weshalb er 2007 wieder anfangen musste Musik zu machen. Bis zu seinem Tod 2016 hat er neue Platten gemacht veröffentlicht, und ist konstant auf Tour gewesen. Er hat – und das ist auch wieder faszinierend – hat er auch seinen eigenen Tod musikalisch begleitet. Auf der letzten Platte zitiert er ein altes hebräisches Gebet, dass sich übersetzt mit "Oh Herr, nimm mich zu dir, ich bin bereit."
    Florin: O Herr, nimm mich zu dir, ich bin bereit", war das jetzt gerade nicht. Sondern "Have I told you lately" von Van Morrison. Klingt nach Kuschelrock, ist aber ein Liebeslied an den Schöpfer. Irdische Liebe und göttliche Liebe verschmelzen. Wie geht das ohne Schmalz?
    Schlegelmilch: Würde man gar nicht erwarten. Ich denke das geht nur mit ehrlich gemeinter Überzeugung. Das hört man dem Lied auch an. Es geht um die Liebe, schlicht und einfach. Wer aufhören will, drüber nachzudenken an der Stelle, für den ist das ein ganz einfaches Liebeslied. Er ist dankbar. "Hab ich dir gesagt, dass es für mich niemanden gibt, der über dir steht?" singt er. Er ist dankbar für den Sonnenaufgang, für die Schöpfung und singt: "Die Liebe kommt von Gott, genau wie das Licht der Sonne" geht’s weiter. Am Ende des Tages sollten wir dank sagen und den Herrn anbeten. Deutlicher geht es ja eigentlich nicht mehr. Der Mann weiß, wovon er singt. Ob die Leute beim Zuhören drauf achten, das ist eine andere Frage.
    Florin: Ist Van Morrison fromm?
    Schlegelmilch: Nach dem Text zu gehen: Absolut. Wenn man in Interviews schaut, druckst er ein wenig rum. Auch das wird wieder damit zu tun haben, keine Fans zu verprellen, die nicht unbedingt religiöse Überzeugungen haben. Ich habe mal ein Zitat raus gesucht aus dem Time Magazin von 2009: "Religion ist für mich eigentlich ein Wortspiel, weil es für jeden etwas anderes bedeutet. Wenn man vom Geist, der Seele, vom Spirit spricht dann trifft es das eher. Ganz nach Aristoteles, bei dem Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden." Das klingt dann wieder anders, als der Text von "Have i told you lately".
    Bob, der Prophet
    Florin: Etwas komplizierter. Die christliche Popmusikszene singt in allen Variationen "I love you Jesus", "I love you God". Warum schafft es keiner dieser Titel in die säkularen Pop-Charts?
    Schlegelmilch: Aus dem gleichen Grund, aus dem Sex, Politik und Religion sich nicht als Smalltalk-Themen eignen. Das sind Themen, über die man nicht einfach so sprechen kann, mit denen muss man sich tiefer auseinandersetzen. Gerade mit der Religion. Wenn ein Künstler bei uns über Gott und Glaube singt oder erzählt in der Öffentlichkeit, dann sind die Menschen direkt unangenehm berührt. Xavier Naidoo ist da ein gutes Beispiel, jetzt mal unabhängig von seinen politischen Ansichten und Skandalen. Wer sich musikalisch zu seiner Religion bekennt, der wird nicht mehr so ganz ernst genommen, und kann den großen wirtschaftlichen Erfolg direkt vergessen.
    Es gibt eine christliche Popszene, die ist auch sehr differenziert. Da gibt es alles von Schlager zu christlichem Heavy Metal. Die Zielgruppe ist aber relativ klein, damit schafft man es nicht in die Charts, zumindest nicht bei uns in Deutschland. In anderen Ländern sieht das anders aus, da gehört Religion viel selbstverständlicher zum Leben und auch zur Musik. Da sind wir wieder bei Johnny Cash, oder bei Bob Marley, der von den Menschen auf Jamaika eine Zeit lang nur als "der Prophet" oder "der Lehrer" bezeichnet wurde, weil er mit seiner Reggae-Musik über Gott, über die Liebe, über seine Religion einen wichtigen Teil ihrer Rastafari-Religion ausgemacht, und es geschafft hat, diese Religion über seine Musik in die Welt hinaus zu tragen.
    Der jamaikanische Reggae-Musiker Bob Marley während eines Konzertes. 
    Hat mit seiner Musik den Rastafari Glauben mitgeprägt: Der jamaikanische Reggae-Musiker Bob Marley (picture alliance / dpa / Ipol Kwame Brathwaite)
    Florin: Gotteslob wird also selten zum Hit. Aber das Nicht-Lob hat Chart-Potenzial. "And no Religion, too", die Zeile kennt fast jeder. Eine atheistische, quasi-religiöse Hymne. Wie stand John Lennon zu christlichen Traditionen?
    Schlegelmilch: Als Künstler hat er sich aus dem Fundus der christlichen Tradition bedient. Er nennt das Lied "Image" selber ein Gebet. Ein "positives Gebet", das etwas in der Welt bewegen kann. Er hat vom US-Bürgerrechtler Dick Gregory mal ein Gebetbuch geschenkt bekommen, und hat sich da stark von den Texten inspirieren lassen. Es ist also ein atheistisches Lied mit der Struktur eines christlichen Lobgesanges.
    Florin: Was stört die Religionskritiker unter den Popmusikern eigentlich mehr: die Religion als solche, die organisierte Religion oder die Kirche als Institution?
    Schlegelmilch: Mit Spiritualität als vagem Begriff können die meisten irgendwie was anfangen, da wird sich keiner gegen stellen, weil viele das suchen. Mit der Kirche, mit der organisierten Religion, sieht es ganz anders aus. Gucken wir zum Beispiel auf Faithless, eine britische Techno-Combo aus den Neunzigern, die hat den Hit "God is a DJ" rausgebracht, da erzählen sie davon, dass sie im Club, in der Disco, den wahren Ort der Anbetung schaffen wollen, weil dort wirklich alle gleich sind, im Gegensatz zur Kirche, wo ihrer Meinung nach nur geheuchelt wird. Spannend ist auch, was George Harrison dazu sagt. Ein tiefgläubiger Künstler, ewige Zeiten in Ostasien verbracht mit den Gurus. Er wollte mit "My sweet Lord" eine Gebet für alle Religionen schaffen, so nennt er das, hatte aber große Probleme mit der organisierten Religion, mit der katholischen Kirche und hat kurz vor seinem Tod den "Vatican Blues" rausgebracht.
    Florin: Da geraten Ochs und Esel in der Krippe schon ein bisschen ins Wackeln. Das ist kein Pathos wie bei "My sweet Lord", sondern gut hörbare Ironie.
    Schlegelmilch: Ich finde das faszinierend. Er erzählt auf eine sehr spielerische, leichtfüßige Weise von einem Besuch im Vatikan. Davon, dass er von den Kunstwerken überwältigt ist, aber er will nicht wissen, was hier hinter verschlossenen Türen des Nachts passiert. "It's quite suspicious, to say the least, even mentioned it to my local priest. Ich finde das alles sehr verdächtig, hab auch meinem Pfarrer davon berichtet. Alles sehr verdächtig." Das war noch vor der Zeit von Vatileaks.
    "Die Menschen sind sensibler geworden, was Religionen angeht"
    Florin: Von der "Virgin Mary" war schon in der englischen Version von Stille Nacht die Rede. Wenn wir schon von Kirchenkritik sprechen, darf diese Jungfrau nicht fehlen.
    Schlegelmilch: Madonna ist das perfekte Beispiel. Denken wir an die 80er zurück. Da wollte sie die Jugend begeistern und die Eltern schockieren, mit knappen Outfits, mit Schockthemen wie Abtreibung in "Papa don't preach", aber auch mit dem Thema Religion. "Like a Prayer" ist hier das Beispiel. Im Video gibt es blutende Statuen, Sexszenen in der Kirche, und sie tanzt halb nackt vor brennenden Kreuzen. Das hat den Eltern damals natürlich überhaupt nicht gefallen, umso mehr hat es die Jugend begeistert. Ärger gab's aber auch mit dem Vatikan. Johannes Paul II. hat die Katholiken aufgerufen die Musik von Madonna zu boykottieren. Medientechnisch war das für sie natürlich der große Coup, wenn sogar der Vatikan sich einschaltet, und deshalb hat sie dieses Image der Feindin der Kirche immer weiter verfeinert. Hat vor ein paar Jahren noch auf Tour an einer Stripperstange in Form eines Kreuzes getanzt, mit Abendmahls-Szene drumherum. Das gab dann nicht nur Kritik vom Vatikan, sondern auch von Juden und Muslimen.
    Florin: Ist Kirchenkritik heute noch rebellisch?
    Schlegelmilch: Unser Bezug zum Thema ist einfach anders heute. Solch eine Aktion von Madonna, das war 2003 ist in den heutigen Zeiten eigentlich nicht mehr denkbar. Die Menschen sind sensibler geworden, was Religion, was auch die Religionen anderer angeht. Wenn wir über Kopftücher und Kreuze in Klassenzimmern diskutieren, dann werden wir auch dem Christentum gegenüber sensibler. Auf der anderen Seite, und das klingt fast nach Widerspruch, gibt es heute eine andere Lockerheit, wenn es um die Frage nach Gott geht. Der Rapper Marteria fragt 2014 "Oh mein Gott, dieser Himmel, wie komm ich da bloß rein?" und erörtert vollkommen ernst in einem Drei-Minuten-Hip-Hop-Song , ob es die guten Taten sind, die in den Himmel führen, und wieso wir Menschen immer wieder daran scheitern.
    Florin: Bei Bob Dylan hieß das noch "Knocking on heavens door".
    Schlegelmilch: Ich denke die Beziehung des einzelnen zur Frage nach Gott ist heute einfacher zu stellen, weil viele nicht mehr die Kirche als Mittler haben und einfach sich selbst fragen: Woran kann ich glauben? Wenn es aber um die Institutionen der Religionen geht, da haben wir heute mehr Respekt, oder auch Berührungsängste. Ob es um den Islam geht, das Judentum oder das Christentum.
    Florin: Welches ist für Sie die neue religiöse Hymne?
    Schlegelmilch: Auch das ist ein Lied von einem überzeugten Atheisten. "I still believe" heißt es.
    Florin: Ein Mann, eine Gitarre. Klingt schon eher wie Dylan.
    Schlegelmilch: Frank Turner ist Singer-Songwriter aus Großbritannien, singt aber hier davon, dass auch er als Atheist im Leben Sachen braucht, an denen er sich festhält. Und da findet er die Musik als Antwort. Wenn wir den großen Themenkomplex Religion und Musik betrachten, fasst das das ganze am besten zusammen. Er singt übersetzt: "Ich glaube daran, dass jeder von uns ein Lied für die guten und schlechten Momente finden kann. Wir retten damit keine Leben, aber wir retten Seelen, und haben auch noch Spaß dabei." So heißt es im Lied, und so kann man die Beziehung der Pop- und Rockmusiker zum Glauben am besten zusammenfassen.
    Florin: Wir könnten so noch bis Ostern weiter Platten auflegen von Popstars, die sich mit Engeln, Jungfrauen und Jesus einlassen. Ihnen Herr Schlegelmilch, vielen Dank für die religiösmusikalische Analyse.
    Schlegelmilch: Sehr gerne.
    Florin: Ihnen zu Hause danke für Zuhören, frohe Weihnachten, und zum Ausklang ein frommer Wunsch, zu dem sich dann auch John Lennon durchringen kann: "Happy X-Mas".
    Renardo Schlegelmilch: If you believe... Religion in Rock- und Popmusik. Echter Verlag 2017. 176 Seiten, 14.90 Euro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.