Die Idee zum Schwerpunkt und zur Vortragsreihe am Mainzer Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, kurz IEG, hatte Doktor Eveline Bouwers. Seit einem Jahr untersucht die 33-Jährige als Leiterin der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe Glaubenskämpfe im postrevolutionären Europa bis 1914. Die Niederländerin stört, dass sie im Zusammenhang mit Al-Kaida-Anschlägen und IS-Terror immer wieder von "religiöser Gewalt" liest. Die Historikerin findet das irreführend.
"Weil es vermuten lässt, dass diese Form von Gewalt lediglich religiös ist. Was wir aber häufig sehen, ist, dass es politisch ideologisch, national, ethnisch motiviert ist und nicht nur religiös."
Doch derzeit vielleicht verstärkt religiös, erwägt Bouwers Landsmann Paul Cliteur auch mit Blick auf den Feldzug des Islamischen Staates. Allerdings gewinnt der Professor für Rechtswissenschaften an der Universität Leiden den Eindruck, dass westliche Staatslenker wie Barack Obama und David Cameron die religiösen Aspekte dschihadistischer Gewalt leugnen.
"Ich finde es befremdlich, wenn unsere politischen Führungsfiguren sagen, das habe mit Religion nichts zu tun. Es sei 'highjacked religion' - gekaperte Religion. Also nicht mehr über Religion, sondern über gekaperte Religion diskutieren? Soziale Zusammenhänge, Armut, schlechte Erziehung? Fragen sie mich nicht, was genau der richtige Ursachen-Mix ist – aber mein Eindruck ist: Irgendwo spielt Religion eine Rolle."
Der Rechtswissenschaftler plädiert dafür, im Koran und im Alten Testament verwurzelte Glaubenselemente stärker in die Analyse terroristischer Phänomene, zum Beispiel der Selbstmordattentate, einzubeziehen. Wie die Ansichten, im Paradies warte der Lohn, Andersgläubige seien "Ungläubige" und zählten daher nicht, oder religiöse Pflichten seien wichtiger als Moral und Familie.
Fundamentalismus ohne kritischen Verstand
Fundamentalistische Ansätze, über die Professor Irene Dingel, Direktorin der Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte am IEG, sagt:
"Fundamentalismus entsteht aber immer dann, wenn jemand nicht in der Lage ist, das, was er in Heiligen Schriften gelesen hat, zu kontextualisieren und mit einem kritischen Verstand heranzugehen. Da wird also schlicht und einfach etwas instrumentalisiert."
Ist Fundamentalismus also eine Wissens- und Bildungsfrage? Auch, meint die Politikwissenschaftlerin Claudia Baumgart-Ochse. Jedenfalls werteten Teile der Forschung den sogenannten religiösen Analphabetismus als wesentlichen Faktor beim Entstehen von Gewalt.
Warum die Vorstellungen über das Jenseits oder über irdische religiöse Pflichten ausgerechnet im Umfeld der Jahrtausendwende zu einer Explosion von Gewalt im Nahen Osten führen, diskutierte das Vortrags-Publikum im Mainzer Leibniz-Institut für Europäische Geschichte. Und weiter: Wenn es in der Region eine Rückbesinnung aufs Religiöse gibt, warum dominiert dann derzeit eher das aggressiv-totalitäre Potenzial des Islam und nicht das friedensspendende?
Eine Frage, mit der sich Doktor Claudia Baumgart-Ochse beim Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung beschäftigt:
"Alle schöpfen letztlich aus dem, was uns Kultur und Religion bietet, also Versatzstücke, die uns Modelle bieten, dafür wie wir handeln könnten. Aber das sind relativ viele, und dann wählen wir aus. Und es kann schon sein, dass, wenn man in einer bedrohlichen Situation ist – und das ist eigentlich in der Fundamentalismus-Forschung ein ganz wichtiger Punkt – also, wenn man sich selbst bedroht fühlt, dann wird man eher dazu neigen, Versatzstücke aus der Tradition, aus religiösen Texten zu nehmen, die auch von dieser Bedrohung handeln. Und wenn ich mich bedroht fühle, bin ich eher bereit, Gewalt anzuwenden. Dann ist es eine besondere Situation, die besondere Maßnahmen rechtfertigt. Und dann liegen diese Geschichten, die Gewalt legitimieren, nahe."
Religiöse Toleranz hat keinen Platz im IS
Kultureller Dialog und religiöse Toleranz haben keinen Platz in der Doktrin des Islamischen Staates. Warum die Strategie der Islamisten aufgeht, den Gotteskrieg als Bürgerkrieg auch in Regionen außerhalb des Nahen Ostens zu tragen – dazu Claudia Baumgart-Ochse:
"In der Forschung ist im Moment Konsens, dass, wenn eine Gesellschaft stark polarisiert ist, das heißt die ökonomischen Fragen oder Ungleichheiten zusammenfallen mit religiösen Differenzen, dass dann so eine Gesellschaft eher anfällig ist, für Gewalt, für Bürgerkrieg, für Radikalisierung. Dasselbe gilt auch für fragmentierte Gesellschaften. Also, wenn Sie jetzt drei oder vier religiöse oder ethnische Gruppen haben - auch da ist es so: Wenn diese Fragmentierungen auch in eins fallen mit anderen ökonomischen, machtpolitischen Dingen, auch dann ist die Anfälligkeit für Gewalt etwas höher als in Gesellschaften, wo es Reiche bei Christen und Muslimen gibt. Aber wenn Sie so ein Land haben wie Nigeria, wo diese Trennungslinie zwischen Muslimen und Christen auch eine ökonomische wiederspiegelt – dann ist die Anfälligkeit etwas höher."
Den säkularen, weltanschaulich neutralen Staat hält der Leidener Rechtswissenschaftler Paul Cliteur für ein Bollwerk gegen dschihadistische Gewalt. Doktor John Carter Wood, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mainzer Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, hat da seine Zweifel:
"Der säkulare Staat kann so säkular und tolerant sein wie er will, es löst nicht das Problem von den Menschen, die nicht tolerant sind, und die nicht bereit sind, sich auf diesen Konsens einzulassen. Und da stellt sich immer dann die Frage, was sind die Grenzen der Toleranz, also der Staat muss letztendlich irgendwann eingreifen, letztendlich durch polizeiliche Macht oder militärische Macht."
Da geht der wissenschaftliche Diskurs nahtlos über in den aktuellen politischen Streit über Legitimation und Nutzen von Militär-Missionen und Ausreiseverboten für Dschihadisten.
Übrigens: So nachhaltig, wie Paul Cliteur in seiner Ausgangsthese behauptete, leugnen westliche Staatslenker den Einfluss des Religiösen auf die aktuellen Konflikte nicht. Die Herausforderung, religiöse Gewalt und Extremismus zurückzudrängen, sei ein Generationenprojekt und eine Aufgabe für die Völker des Nahen Ostens - so zitiert der Nahost-Korrespondent Martin Gehlen aus der jüngsten Rede von US-Präsident Obama vor der UN-Vollversammlung. Damit, so wertet Gehlen in der "Stuttgarter Zeitung" vom Wochenende, "wurde Obama so deutlich wie vor ihm noch kein US-Präsident"".