Das periaquäduktale Grau – das ist ein ziemlich alter Teil des menschlichen Gehirns. Es wird auch zentrales Höhlengrau genannt. Dieses Grau ist an ganz grundlegenden Gefühlen beteiligt, wie Schmerz, Angst und Fluchtreflexen. Und offenbar hat es auch mit Religion und Spiritualität zu tun. Das hat ein US-amerikanisches Forscherteam jetzt herausgefunden, um den Neurowissenschaftler Michael Adam Ferguson.
"Wenn Sie mich vor unserer Studie gefragt hätten, wo im menschlichen Gehirn die Spiritualität verortet werden kann, hätte ich niemals auf diese Struktur getippt. Denn sie ist sehr alt, und wir tendieren dazu, Spiritualität als etwas Neueres anzusehen in der Entwicklung des Menschen. Aber unsere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Spiritualität und Religion tief in der menschlichen Natur verwurzelt sind."
"Die biologischen Grundlagen haben wir schon lange"
Michael Ferguson ist Dozent an der medizinischen Fakultät der Harvard University und Neurowissenschaftler an einer Klinik in Boston. Er hat sich spezialisiert auf "Neurospiritualität" - also auf eine Mischung aus Hirnforschung und Spiritualitätsforschung.
Für ihre neue Studie haben Ferguson und sein Team rund 90 Personen befragt, die am Gehirn operiert wurden – vor und nach der Operation. Das Ergebnis: Bei den meisten hat sich die Haltung zu Religion und Spiritualität nicht verändert. Bei manchen aber schon: und zwar bei denjenigen, bei denen das periaquäduktale Grau betroffen war. Bei manchen dieser Patienten verstärkten sich die religiösen Gefühle nach der Operation, bei anderen wurden sie schwächer. Ähnliches stellte das Team dann auch bei Veteranen des Vietnamkriegs fest, die am zentralen Höhlengrau operiert wurden. Daraus schließt Ferguson, dass dieser Hirnteil, der in der Entwicklung des Menschen sehr früh entstanden ist, also besonders alt ist, mit Religiosität zu tun haben muss.
"Die biologischen Grundlagen dafür haben wir Menschen schon lange. Und Religion und Spiritualität haben es offenbar geschafft, den Code zu knacken und ganz tief in unser Nervensystem vorzudringen."
Religiöse Musikalität
Die Hirnforschung versucht schon seit einigen Jahrzehnten, der Religion auf die Spur zu kommen. Meinte man zunächst, dass es im Kopf so etwas wie einen einzelnen "Gottesknopf" geben müsse, ist die Wissenschaft heute davon überzeugt, dass unterschiedliche Hirnareale an religiösen Gefühlen beteiligt sind.
"Spiritualität spielt sich im Gehirn nicht in einem isolierten Teil ab, sondern genutzt werden verschiedene Hirnareale, die ursprünglich zu anderen Zwecken entstanden sind."
Dass alle Menschen diese Hirnareale haben, bedeute aber nicht automatisch, dass auch alle Menschen religiös sein müssten, sagt der Hirnforscher und vergleicht das mit Musikalität:
"Manche Menschen werden durch Musik kaum angesprochen, andere hingegen sind hochmusikalisch. Und so ist das auch bei Spiritualität: Manche Menschen berührt sie einfach nicht."
Das menschliche Gehirn und Religiosität zu erforschen, das ist nach wie vor eine ungewöhnliche wissenschaftliche Kombination – auch, weil sie Naturwissenschaften mit Geisteswissenschaften verbindet. Michael Ferguson erzählt: Er ist durch seine eigenen spirituellen Erfahrungen zu dieser Forschung motiviert worden.
"Ich bin sehr religiös aufgewachsen, hatte spirituelle Erlebnisse - wie viele Menschen in meinem Umfeld auch. Oder zumindest nannten wir es spirituelle Erlebnisse. Aber je mehr ich über Neurowissenschaften lernte, desto mehr wollte ich herausfinden, was bei diesen Erlebnissen wirklich im Gehirn passiert."
Heil und Heilung
Die Hirnforscher der Harvard University haben aber auch noch ein anderes Ziel: Indem sie der Spiritualität im menschlichen Gehirn nachspüren, wollen sie zu besseren Heilungsprozessen beitragen. Denn das religiöse Heil und die medizinische Heilung sind nicht nur sprachlich eng verwandt. Wer in früheren Gesellschaften für Götter und Geister zuständig war, der oder die versorgte oft auch die Kranken.
"Man muss sich bewusst machen: In der Geschichte der Menschheit gingen Heilung und Spiritualität immer Hand in Hand. Erst in der Moderne haben wir sie voneinander getrennt – aber wir sind die Ausnahme. Denn Heilung und Spiritualität passen offenbar von Natur aus gut zusammen. Und diese Verbindung wollen wir wiederentdecken – mithilfe der Wissenschaft."
Ein gutes Beispiel für die Verbindung von Heilung und Spiritualität sei Achtsamkeit, sagt Michael Ferguson. Denn Achtsamkeitsübungen würden inzwischen häufig in Therapien eingesetzt – ob bei Angststörungen, Depressionen oder Suchterkrankungen.
"Aus der Achtsamkeitsforschung wissen wir, dass bestimmte Übungen bestimmte Hirnareale stimulieren. Und das kann gegen Krankheitssymptome eingesetzt werden, die dieselben Areale betreffen."
Spiritualität und Religiosität sind tief im Hirn verwurzelt, und sie haben auch mit Ängsten, Krankheit und Gesundheit zu tun. Von Forschungsergebnissen wie diesen könnten religiöse Menschen sich vielleicht zunächst vor den Kopf gestoßen fühlen. Deshalb wird das nächste Semester für Michael Ferguson besonders spannend: dann stellt der Hirnforscher seine Erkenntnisse zur Neurospiritualität in einer Lehrveranstaltung an der theologischen Fakultät der Harvard University vor. Bisher sei das Interesse groß. Aber mal abwarten, meint Michael Ferguson, ob das nach den Zwischenprüfungen immer noch so sei. Denn es ist eben ein großer Unterschied, ob man theologisch auf Religion schaut oder als Hirnforscher.