"Die Akzeptanz von Religion und Religiosität in der Psychiatrie ist bis vor zehn Jahren dadurch gekennzeichnet gewesen, dass man Religion entweder als pathogen oder gar nicht wahrgenommen hat. Das ändert sich jetzt. Die ressourcenstärkenden Möglichkeiten von Religion und religiöser Gemeinschaft sind nicht zu überschätzen."
Der Psychiater und Psychotherapeut Norbert Mönter zählt in Deutschland zu den Vorreitern einer engeren Zusammenarbeit von Psychologie und Psychiatrie mit Religionsgemeinschaften. Denn bei seelischen Leiden könne der Glaube durchaus eine Hilfe sein.
"Die Sinngebung in der Religion ist ja eine ganz wichtige Dimension. Die Erklärung der Welt, das Trostgebende in einer die Welt begreifbar machenden Konzeption - das ist nicht zu unterschätzen. Ich sehe in dem Trostgebenden sehr viel. Trost ist etwas, was im klassischen psychotherapeutischen Kontext nicht so vertraut ist. Das Beistehende, was Gemeindevorsteher, Priester, Imame per se machen. Sie stehen den Menschen in ihren Lebenssituationen bei. Natürlich ist auch das Ritualmoment eine wichtige Dimension."
Gottesdienste, Gebete oder eben auch der soziale Zusammenhalt einer Glaubensgemeinschaft könnten also in Krisensituationen unterstützen. Norbert Mönter startete daher in der Berliner Şehitlik-Moschee ein Pilotprojekt. Zwei Mal in der Woche bietet der türkischstämmige Psychotherapeut Özgür Cengiz Beratungsstunden an.
"Es gibt Gemeindemitglieder, die zu den Imamen mit Problemen kommen. Das wäre so die erste Anlaufstelle für Menschen mit seelischen Problemen, die religiös sind. Und wenn der Imam dann das Gefühl hat, dass da noch eine psychologische Beratung indiziert ist, dann schickt er die Menschen zu uns."
Imame und psychologische Berater in der Moschee hätten ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis entwickelt, sagt Cengiz. Er will Muslime über psychische Krankheiten aufklären und ihnen Ängste nehmen - etwa davor, dass Psychotherapeuten ihnen ihren Glauben nehmen oder schlecht reden könnten. Innerhalb eines Jahres hat es 200 Beratungen gegeben. Die kreisten vor allem um Depressionen und Familienstreit.
An Geistern scheiden sich die Geister
Die Berater müssen sich mit der Religion der Klienten auskennen. Denn sie können nur reagieren, wenn ein Klient zum Beispiel auf die Dschinn anspielt. Das sind in der islamischen Vorstellung übersinnliche Wesen, die als Geister, Dämonen oder als Schutzgötter verstanden werden.
"Dschinn sind Geister, die aus Feuer geschaffen sind. Engel aus Licht. Menschen aus Erde. Und die Dschinn leben parallel mit uns Menschen zusammen, sind nicht zu sehen, sind Geister, die gut oder schlecht sein können, es gibt männliche und weibliche Geister und sie können Menschen beeinflussen oder besetzen."
Ob es diese Dschinn gibt oder nicht, sei in der Beratung uninteressant. Sie seien nun mal Teil des religiösen Weltbildes vieler Muslime. Aus ihrer Sicht sind sie einfach da. Gelingt es, sie als Bereicherung zu erleben? Oder sind sie eine Belastung? Norbert Mönter:
"Nicht jeder, der an Dschinn denkt und glaubt, hat eine psychische Erkrankung. Da stand eine junge Muslima auf: 'Stimmen hören, das gibt es gar nicht, Ihr betet nicht genug, das sind die Dschinns.' Das war dann sehr wichtig, dass unsere muslimische psychotherapeutische Kollegin aufstehen konnte und sagte: 'Das musst Du jetzt erst mal aus dem Koran her ableiten, und das ist so nicht ableitbar, dass die Stimmen bei einer Erkrankung durch Dschinns provoziert werden.'
Und andererseits war sehr wegweisend das kluge Statement des Gemeindevorstehers, der sagte, Dschinns kann man in vielerlei Hinsicht interpretieren - und man kann ja auch zum Beispiel bei einer schweren Erkrankung die Medikamente als gute Dschinns ansehen."
Religion und menschliche Psyche
Eine solche sprichwörtliche Scheidung der Geister sei aber nur möglich, wenn religiöse Dimensionen der menschlichen Psyche anerkannt würden. Norbert Mönters Modellprojekt wird von der AOK unterstützt und an zwei weiteren arabischsprachigen Moscheen in Berlin angeboten. Das sei sinnvoll, denn Muslime seien psychologisch-psychiatrisch unterversorgt, sagt die niedergelassene muslimische Psychotherapeutin Hadice Ayhan.
"In Deutschland ist es so, dass es in Ermangelung von muslimischen Psychiatern und Psychotherapeuten die Inanspruchnahme sehr gering ist. Denn nicht selten habe ich von meinen Patienten und Klienten gehört, dass sie ganz große Probleme gehabt haben mit bisherigen Psychotherapeuten bis hin zu der Begründung ihres Problems in ihrer religiösen Praxis. Warum nehmen Sie ihr Kopftuch nicht ab? Ein Riesenkunstfehler, dass ein Psychotherapeut sich soweit hinauswagt und meint, sich da einmischen zu dürfen."
Aber natürlich kann es Teil des psychotherapeutischen Prozesses sein, über das Kopftuch zu sprechen. Denn Religion ist oftmals Teil menschlicher Identität. Eine religiös-spirituelle Anamnese sollte daher zum medizinischen Standard werden, fordert der Psychiater Michael Utsch, der bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie die Arbeitsgruppe Religion leitet. Als Therapeut fragt er sich, wenn er Patienten gegenüber sitzt, die religiös sind:
"Ist das heilsam für ihn, oder wird er gestört in seiner Entfaltung? Und wenn ich merke, seine religiöse Überzeugung ist Teil seines psychischen Problems, dann ist natürlich auch therapeutische Intervention angezeigt. Oder ist Religiosität Teil der Lösung? Kann ich positive Glaubenserfahrungen aus der Vergangenheit aktivieren, um eine Angststörung zu beseitigen, um mehr Selbstvertrauen zu bekommen?"
Religion kann also Teil des psychischen Problems sein - aber auch ein erster Schritt in Richtung Heilung.