Volker Ladenthin ist Professor für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn. Er unterscheidet Religion von Konfessionen. Wenn Konfessionen den Zweifel zurückdrängen wollen, sind sie nicht mehr Religion, sondern Ideologie. Denn: Ohne Zweifel keine Religion. Konfessionen können aus vielen Gründen "unreligiös" werden. "Wenn Konfessionen glauben, uns Regeln geben zu können, wie wir politischen Alltag gestalten, dann werden sie übergriffig", so Ladenthin im Deutschlandfunk.
Andreas Main: Volker Ladenthin ist Professor für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn. Er hat ein kleines Buch geschrieben, mit dem Titel "Zweifeln, nicht verzweifeln! Warum wir Religion brauchen." Es ist keinesfalls ein Bekenntnisbuch - aber auch keine wissenschaftliche Studie. Eher ein Essay. Ladenthin schreibt dieses Buch als Bürger, als Erziehungswissenschaftler, als Vater. Nicht als Theologe oder Religionswissenschaftler. Womöglich eine Perspektive, die neu ist und überrascht. Das wollen wir jetzt überprüfen im Gespräch mit dem Autor, der uns in Bonn zugeschaltet ist. Guten Morgen, Herr Ladenthin.
Volker Ladenthin: Guten Morgen, Herr Main.
Main: Ich nehme den Untertitel Ihres Buches auf, packe den Stier bei den Hörnern und frage Sie ganz direkt, weil wir dann beim Kern dessen sind, worüber Sie nachdenken: Warum, Herr Ladenthin, warum brauchen wir Religion?
Ladenthin: Wir brauchen Religion als Bewusstsein über Religion, weil wir immer schon in Religion sind. Wir handeln schon immer unter Voraussetzungen, die nicht die Voraussetzungen unserer Vernunft sind, sondern die den Glauben an unsere Vernunft ausmachen. Insofern brauchen wir Religion, weil wir immer schon in ihr sind.
Main: Sie sprechen nie von einer bestimmten Religion oder einer bestimmten Konfession. Sie sprechen allgemein von Religion. Warum?
"Religion ist was anderes als die Wahl eines Sportvereins"
Ladenthin: Religion ist nicht etwas wie eine Wahl bei einem Sportverein Bayern München oder Schalke 04, sondern sie ist dem Menschen mit seiner natürlichen Konstitution schon gegeben. Die verschiedenen Konfessionen haben sich historisch herausgebildet. Aber die Fähigkeit zur Religion oder die Notwendigkeit zur Religion ist ein Teil der anthropologischen Grundausstattung des Menschen.
Main: Ich zitiere Sie mal: "Religion ist der Antrieb, sich nicht mit dem abzufinden, was wir vorfinden." Welche Konsequenzen hätte das?
Ladenthin: Wir zweifeln immer an der Religion. Es gibt ja eine lange Tradition, dass man Gott bezweifelt. Ich drehe die Logik um. Ich glaube, wir müssen die Endlichkeit bezweifeln. Wir leben ja alle nicht nur in unserer Endlichkeit, wir leben auch in ihr – aber nicht nur. Und daher ist die Aufgabe der Religion, uns immer wieder daran zu erinnern, dass unsere Endlichkeit nicht alles ist, über das wir verfügen. Wir verfügen nicht nur über den Lebensraum, den wir tatsächlich ausfüllen, sondern dieser Lebensraum ist bestimmt von dem, was wir zum Beispiel gar nicht mehr erleben werden.
Main: Religion also als der Zweifel an irdischer Endgültigkeit?
Ladenthin: Ganz genau – an dem Glauben, wir könnten alles mit unserem Verstand regeln -und dann wird es auch gut.
Main: Wir grenzen Sie Konfessionen davon ab? Sie deuteten es eben schon an – sie sind sozusagen die historische Ausformung in unserer Welt.
Ladenthin: Man kann nicht allgemein glauben. Man kann nicht an irgendetwas glauben, sondern wenn man glaubt, dann muss man einen konkreten Gegenstand des Glaubens haben. Einen Text, an den man glaubt, eine Person, an die man glaubt. Und diese Konkretion, diese Verwirklichung dieser anthropologischen Bestimmtheit, die nenne ich Konfession. Das erinnert an das lateinische Confessio, das Bekenntnis. Ich bekenne, an etwas zu glauben. Denn die Eigenheit des Glaubens ist, dass man sie nicht begründen kann, sondern dass man ihn hat oder eben nicht. Und daher muss man unterscheiden: zwischen der Religion, die man begründen kann, und dem Glauben, den man – aus welchen Umständen auch immer – für sich hat, also die Konfession.
Die Deformation von Konfessionen
Main: Da das ein unüblicher Gebrauch der Wörter Religion und Konfession ist, versuche ich noch mal zusammenzufassen: Die Religion ist Ihnen dann selbstverständlich wichtiger als die Konfession?
Ladenthin: Ja – die Religion ist mit dem Menschen gegeben. Mit seiner Verfasstheit der Vernunft, über sich selber nachdenken zu können, kommt es allen Menschen zu. Von daher sage ich, alle Menschen sind religiös – in diesem Sinne - muss man allerdings dann anfügen. Und die Konfession ist die Einlösung dieser allgemeinen Bestimmtheit. So wie wir nicht essen können an sich, aber wir können Äpfel essen. Das heißt, der Apfel ist die Konkretion des Allgemeinen, dass wir essen müssen.
Main: Das heißt aber auch, Konfessionen können sich deformieren.
Ladenthin: Ja, selbstverständlich. Konfessionen sind Menschenwerk, sie sind von Menschen gemacht. Zwar im Hinblick auf das nicht von Menschen Gemachte, aber sie sind eben die Deutung zum Beispiel der Schrift. Und man kann sich bei Deutungen irren. Man kann fehlerhaft lesen, das Falsche herauslesen, falsch interpretieren. Die Geschichte der Konfessionen ist identisch mit der Geschichte der Menschen - und das ist immer auch eine Geschichte des Irrtums. Aber dass wir daran glauben, dass es einen Irrtum gibt und dann voraussetzen, dass es eine Wahrheit gibt, das wiederum ist eine religiöse Voraussetzung, die uns antreibt, die Konfession permanent zu verändern.
Main: Deformationen von Religion gibt es demnach nicht?
Ladenthin: Deformation von Religion kann es nicht geben. Nur in der Art und Weise, wie wir in einem Bekenntnis diese Religion dann umsetzen.
Der Stachel der Religion
Main: Ich zitiere Sie noch mal: "Religion unterstellt, dass alles ganz anders sein könnte – nämlich besser. Sie sagt uns nicht, was besser ist, aber sie ermahnt uns, dass wir es besser machen könnten". Das ist die Art, wie Sie den Spieß umdrehen?
Ladenthin: Ganz genau. Die Religion stachelt uns an, unsere Entschlüsse, unsere Bestimmungen, unsere Beschlüsse nicht als endgültig anzusehen, sondern als vorläufig und zu fragen, ob man sie nicht noch mehr verbessern, ob man sie nicht noch besser gestalten kann. Warum machen wir das eigentlich, warum gibt man sich nicht mit dem zufrieden, was man hat? Weil wir nicht anders können. Das ist eben das Religiöse in uns, dass wir immer versuchen, das wirklich Beste zu machen. Und das ist der Stachel der Religion, der in uns sitzt und der uns nie ruhen lässt.
Religion und Politik
Main: Professor Ladenthin, Konfessionen oder Religionsgemeinschaften, die stehen immer in Beziehung zum Staat. Und es hat beides gegeben und es gibt beides. Staaten, die sich in Religionsfragen einmischen und Konfessionen, die Politik quasi als Fortsetzung von Religion mit anderen Mitteln verstehen. Warum ist beides aus Ihrer Sicht kontraproduktiv?
Ladenthin: Die Religion ist ja ein eigenes Thema, so wie es das Thema der Ästhetik gibt, wo es darum geht: Was ist schön? Oder das Thema der Ethik: Was ist gerechtes Handeln? Wir haben unterschiedliche Handlungspraxen, wie das die Philosophen nennen. Und jede dieser einzelnen Praxis hat eine eigene bestimmende Idee. Und die Idee des Religiösen ist das Verhältnis zur eigenen Endlichkeit und nicht die Frage, ob wir Kriege führen oder nicht. Wenn man nun versucht, mit religiösen oder konfessionellen Antworten politische Probleme zu lösen, dann beginnt man einen sogenannten Kategorienfehler. Das ist so, als wenn wir ein Bein gebrochen haben und dann nicht zum nächsten Arzt laufen, sondern zum nächsten Pastor, der das heilen soll. Und das kann nicht immer gut gehen – ich würde sogar sagen, in den meisten Fällen geht das schief. Das heißt nicht, dass der Pastor auch was zu sagen hätte, aber er kann das Bein nicht heilen.
Main: Er kann womöglich die Seele heilen.
Ladenthin: Er kann die Seele heilen, das ist seine Aufgabe. Das heißt, diese Trennung zwischen Politik und Religion ist nicht eine Trennung, die gar keine Bezüge mehr hat, sondern ein Wechselseitig-Aufeinander-Verwiesen-Sein. Wenn ich glaube, dass ich nicht mit meinem Tod auch ausgelöscht bin, dann werde ich politisch anders handeln, ohne dass aus dieser Voraussetzung schon abzuleiten wäre, wie ich denn handle. Das wäre ein Kategorienfehler, wenn man glaubt, aus Offenbarungstexten Handlungsanweisungen für den nächsten Tag oder den nächsten Parteibeschluss zu bekommen.
Main: Aber passiert das nicht ständig, dass Religion oder Religionsführer sagen, so und so geht Politik?
Ladenthin: Das sind Übergriffe und dagegen muss man sich wehren – übrigens aus religiösen Gründen, weil das ein Missbrauch der Religion ist, die hier als Antwort für etwas herangezogen wird, was man besser mit Vernunft, mit politischer Vernunft klären kann und sogar klären muss, weil die politische Vernunft hier die zuständigen Regeln abgibt.
Main: Wenn Religion und Politik in diesem Sinne zwar in einem Verhältnis stehen – wie Sie formuliert haben – aber doch unterschiedliche Felder sind, wie sollte konkret das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften gestaltet werden?
Ladenthin: Der Staat muss die Möglichkeitsbedingungen für Religion schaffen. Das ist ja die berühmte Formulierung, dass der Staat, das, was ihn ausmacht, nicht selbst herbeiführen kann. Der Staat kann also gar nicht regeln, woran wir glauben, wie wir glauben, aber er muss die Möglichkeit geben, dass wir glauben können und dass wir auch unterschiedliche Konfessionen leben können, die dann allerdingt verpflichtet sind, auf sittliche Art und Weise im Kontakt miteinander zu sprechen. Das heißt: Hier hat die Religion schon einen Einfluss auf die Politik, aber nicht einen Ableitungseinfluss. Wenn ich religiös so denke, dann kommen ganz bestimmte politische Überlegungen hinzu. Aber es gibt eben keine Ableitung, keinen Gottesstaat und auch keine Staatsreligion.
Unreligiöse Konfessionen
Main: Herr Ladenthin, Sie sprechen von der Religion als der Reflexion unserer Endlichkeit und unterscheiden die Religion von den Konfessionen, die Sie allerdings für nötig und wichtig halten. Es gibt allerdings auch Konfessionen, die Sie als unreligiös bezeichnen. Wann wird eine Konfession unreligiös?
Ladenthin: Eine Konfession wird unreligiös, wenn sie Ansprüche erhebt, die sie Kraft eigener Vernunft nicht lösen kann, wenn sie also meinetwegen – ich nehme ein einfaches Beispiel – Heilungsregeln für Krankheiten ausgibt. Da ist die Medizin die zuständige Wissensform und nicht die Religion. Und natürlich – und das ist das, was uns augenblicklich politisch bewegt – wenn die Religion glaubt, uns Regeln geben zu können, wie wir denn konkret den politischen Alltag gestalten, wie wir den Kontakt der Staaten untereinander gestalten oder aber in einem Land etwas gestalten. Dann wird eine Konfession übergriffig und dann muss man diese Religion kritisieren aus religiöser Sicht, nämlich diese Religion verlässt ihren eigenen Themenbereich. Das ist so, als wenn man als Politiker bestimmt, wie der nächste Roman eines Bestsellerautors auszusehen hat. Das geht den Politiker nichts an. Allerdings kann er dazu Stellung nehmen, nur kann er nicht die Regeln für die Romanproduktion bestimmen. Und in einem ähnlichen Verhältnis stehen auch Religion und Staat. Sie haben beide ihre eigenen Ideen, die aufeinander bezogen sind, aber nicht auseinander ableitbar. Und in der Öffentlichkeit ist immer dieses Auseinander-Ableitbare das Verführerische, weil das so schön einfach ist und weil das so plausibel ist. Aber das ist ein – wie ich schon sagte – Kategorienfehler, weil man verwechselt den Diskurs, in dem man sich gerade befindet.
Main: Welche Religion ganz konkret macht gerade die schlimmsten Kategorienfehler, um Ihr Wort aufzugreifen?
Ladenthin: Historisch gesehen hat das Christentum diesen Fehler oft begangen. Im Augenblick würde ich die islamische Religion als Konfession angesehen, die diesen Kategorienfehler macht, weil sie glaubt, aus den aurativen Texten, aus den Offenbarungstexten, aus dem Koran Regeln für rechtliches Zusammenleben ableiten zu können. Und das gibt dieser Text nicht her und ist auch nicht seine Intention. Sondern die Intention dieses Textes ist, ein Verhältnis zum Jenseits zu bestimmen, zu überlegen, wie wir damit umgehen, dass wir endliche Wesen sind. Also hier findet wirklich in der Tat ein Kategorienfehler, ein schlimmer, Menschen fordernder Kategorienfehler statt.
Im Zweifel für den Zweifel
Main: Neben dieser sehr fundamentalen Religionskritik suchen und finden Sie einen gemeinsamen Nenner für alle Konfessionen: "Religion als Zweifel daran, dass das, was man haben kann, schon alles ist, was es gibt." Im Zweifel für den Zweifel also.
Ladenthin: Ja, im Zweifel für den Zweifel .. schön gesagt.
Main: Tocotronic.
Ladenthin: Ja, kann man so sehen. Aus dem Grunde, es braucht ja einen Begriff, der die Verschiedenheit der Konfessionen einigt, der das Gemeinsame aller Konfessionen herausnimmt. Dann allerdings auch ein Kriterium angibt für die Gültigkeit von Konfessionen. Und die Gemeinsamkeit all dieser Konfessionen ist in der Tat der Umgang mit der eigenen Endlichkeit. Dass alle Konfessionen diese Frage haben und dass diese Frage auch geschichtlich nachzuweisen ist von Beginn der schriftlichen Überlieferung an – ist ja ein Hinweis darauf – kein Beweis – aber ein Hinweis darauf, dass dies eine anthropologische Frage ist, derer wir uns nicht historisch entledigen können, sondern die uns auch die nächsten 6.000 Jahre lang beschäftigen wird.
Main: Wenn Sie heute in den Tag reingehen, welche Konsequenzen hat das im Alltag, um mal ganz praktisch zu werden?
Ladenthin: Das hat alltägliche Antworten zur Folge. Das ist die Frage, wie man mit eigenen Kindern umgeht, dass man sie fördert. Man fördert Kinder ja für eine Zeit, in der man nicht mehr da ist. Man könnte ja nun einfach sagen, nach mir die Sintflut. Ich habe ja gar keine Verantwortung für die Zeit, in der ich nicht mehr lebe. Aber wir verhalten uns alle im Alltag genau anders herum. Wir helfen heute Nachmittag unseren Kindern bei den Hausaufgaben, damit sie es einmal besser haben, wenn wir nicht mehr sind – wie das in der Umgangssprache heißt. Und das ist für mich, ein Zeichen von Religiosität. Wir glauben nicht an unsere eigene Endlichkeit. Wir glauben, dass wir eine Verantwortung für einen Zeitraum haben, den wir selbst als leibliche Person gar nicht mehr ausfüllen. Das ist eine ganz schlichte, aber folgenreiche – für die Kinder vor allen Dingen – folgenreiche Konsequenz – aus einem religiösen Verhältnis.
"Religion - aus dieser Nummer kommen wir nicht raus"
Main: Aber vereinnahmen Sie nicht all jene, die sich als religions- oder konfessionslos bezeichnen würden, in dem Sie die alle in einen Topf werfen als religiöse Menschen?
Ladenthin: Ja, das tue ich. Das macht aber jeder Arzt auch, der sagt, wer zu mir kommt, der will gesund werden. Das macht jeder Künstler auch, der sagt, ich male Bilder, die unter einem ästhetischen Anspruch entstehen. Es gibt bestimmte Dinge am Menschen, die sind nicht in unser Belieben gestellt, denen müssen wir uns beugen. Wir müssen essen. Wir können Dinge danach beurteilen, ob sie schön oder hässlich sind. Wir müssen mit anderen Menschen in Kontakt treten und uns gütlich einigen. Da würde ja auch niemand sagen, ich vereinnahme jemanden, wenn ich sage, du bist politisch oder du bist ästhetisch oder du bist ethisch. Das Religiöse ist etwas, was mit dem Menschen vorhanden ist – das ist keine Vereinnahmung. Eine Vereinnahmung wäre es, wenn ich sagen würde, du musst die und die Konfession haben. Das wäre eine Vereinnahmung. Das wäre ein Gespräch, was denn die richtige Konfession ist. Aber das mache ich natürlich nicht, sondern ich sage nur, wir haben alle in uns den Zweifel, dass wir das schon leben, was zu leben wäre. Und diesen Zweifel, den nenne ich religiös.
Main: Wenn also jüngst der Katholikentag einen seiner Programmschwerpunkte überschreibt mit dem Titel "Leben mit und ohne Gott", dann ist das aus Ihrer Sicht Unfug.
Ladenthin: Wenn man Gott in diesem philosophischen Sinne versteht, ist das Unfug. Man kann nicht ohne Gott leben, man setzt ihn immer schon voraus. Wenn ich jetzt Gott als Metapher für die Frage nach dem Unendlichen sehe, dann leben wir immer schon mit Gott und kommen aus dieser Nummer, ich sage das mal umgangssprachlich, wir kommen aus dieser Nummer nicht heraus. Sie ist uns mit dem Menschsein gegeben, mit dem Moment, wo wir denken können und fragen können, wozu handeln wir eigentlich. Wenn wir immer weiter fragen werden, werden wir bei einem Absoluten enden. Das nennen die Christen Gott, das würden andere Konfessionen anders nennen. Aber das ist immer der gleiche Gedanke des Absoluten, und zwar des absolut wahren, das absolut guten, des schönen und des sinnvollen Lebens.
Main: Wenn Menschen, also auch Kinder per se religiös sind, haben Sie Ihre Kinder religiös erzogen?
Ladenthin: In diesem Sinne allemal. Am besten müssten Sie meine Kinder aber fragen. Wir streiten uns darüber kräftig. Wir haben auch unterschiedliche Auffassungen. Und das finde ich auch gut, denn es kann ja nicht sein, dass es eine endgültige Antwort gibt. Das wäre ja eine Konfession absolut zu setzen. Aber wir streiten eben über die richtige Konfession. Wir unterhalten uns, wir fragen danach. Wie sich das für Kinder und Jugendliche gehört, ist die Kritik immer größer als die Akzeptanz. Aber das ist auch völlig in Ordnung. Die Konfessionen müssen sich der alltäglichen Bewährung aussetzen, sie müssen überprüft werden, sonst würden sie unreligiös. Das heißt, sie würden sich als endgültig ansehen. Und die Idee der Religion ist ja gerade, alles Endgültige zu bezweifeln. Und das müssen auch die Konfessionen sich gefallen lassen.
"Religiöse Fragen sterben nicht ab"
Main: Schauen wir auf die größere Ebene. Was sagen Sie zum Kenntnisstand, zum Bildungsstand in unserer Gesellschaft zum Thema Religion?
Ladenthin: Auch hier muss man unterscheiden. Der Wissensstand der konfessionellen Fragen – darüber gibt es ja einige Untersuchungen – der scheint nicht so zu sein, dass man ganz zufrieden sein kann oder dass man zufrieden sein kann. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass man sich aus dem Religionsunterricht abmelden kann, dass es in großen Teilen unseres Landes keinen verpflichtenden Religionsunterricht in diesem Sinne gibt. Das hängt mit den abbröckelnden Traditionen zusammen – in den Elternhäusern. Aber das ist eigentlich gar nicht das, was mich beunruhigt. Das wird sich regeln lassen, das sind ja Wissensfragen. Die andere Frage, die ist nicht abzuwählen. Die religiösen Fragen, die sterben nicht ab, sondern die sind in jeder Generation wieder da, weil das Religiöse eben zum Menschen gehört.
Main: Ich erlaube mir noch einmal einen Satz aus Ihrem Buch zu zitieren, damit er hängen bleibt. Vielleicht können Sie ihn, bevor Sie ihn weiterdenken, einfach noch mal wiederholen, weil er so schön ist: "Religion ist Revolte aus der Perspektive der Freiheit."
Ladenthin: Ja, Religion ist – wie Sie zitieren – Revolte aus der Perspektive der Freiheit. Unfreiheit ist immer alles Endgültige, alles, was festgelegt ist, was nicht verändern lässt, von dem wir glauben, das sei schon das Beste, was zu machen ist. Und die Religion revoltiert gegen die Auffassung unser Mensch gemachtes Leben sei das Endgültige. Und es ist eine Revolte – nicht nur ein Widerstand – sondern eine Revolte, weil man das nicht ertragen will, weil man keinen Satz stehen lassen will, weil man jeden Satz noch mal kommentieren will, jedes Gebäude verbessern will, jeden Staat noch besser gestalten will. Das ist die Revolte gegen die Endlichkeit. Und die rührt aus diesem religiösen Gefühl, dass es den Menschen gut gehen sollte auf der Erde.
Main: Die Freiheit, der Zweifel, die Religion – Gedanken waren das von Volker Ladenthin, Professor für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn. Sein neues Buch "Zweifeln, nicht verzweifeln – Warum wir Religion brauchen" ist erschienen im Echter Verlag, rund 180 Seiten kosten 15 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.