Archiv

Religionsbehörde Diyanet
Das offizielle Gesicht des türkischen Islam

Eigentlich sollte die türkische Religionsbehörde Diyanet, 1924 von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk gegründet, mäßigend wirken. Doch mit dem Aufstieg der AKP und unter dem aktuellen Vorsitzenden Mehmet Görmez herrscht ein deutlich konservativerer und zugleich offensiverer Ton. Inzwischen gilt sie als Instrument von Präsident Recep Erdogan.

Von Luise Sammann |
    Eine Aufnahme der Moschee mit zwei Minaretten.
    Erdogan kam zur Einweihung des islamischen Zentrums Diyanet. Der Bau im osmanischen Stil des 16. Jahrhunderts, den die Türkei komplett übernommen hat, kostete umgerechnet knapp 100 Millionen Dollar. (AFP / Olivier Douliery)
    Dreizehn Uhr in Istanbul. Von der Sultan-Mustafa-Iskele-Moschee im Stadtteil Kadiköy ruft der Muezzin zum Freitagsgebet.
    Einige der Händler im nahegelegenen Fischmarkt lassen ihre Arbeit liegen, der Kiosk an der Ecke schließt vorübergehend den Rolladen, aus Banken und Bürogebäuden kommen Männer in Anzug und Krawatte herbei. So groß ist der Andrang, dass allwöchentlich bunte Plastikteppiche auf dem Bürgersteig rund um die Moschee ausgebreitet werden. Wer drinnen keinen Platz findet, verübt sein Gebet hier – und lauscht vor allem über extra angebrachte Lautsprecher der Predigt des Imams.
    "Diese Predigt ist das entscheidende, sie ist noch wichtiger als das Gebet.", findet der 18-jährige Tarik, der in Socken auf einem rotgrünen Teppich hockt. Als die Stimme des Imams erklingt, verstummt er, lauscht konzentriert auf die Worte aus dem Lautsprecher.
    "Jedes Wort, das der Imam sagt, ist wichtig"
    "Lasst den Verrätern in unseren Reihen keine Chance", ruft der Imam den versammelten Gläubigen zu – offensichtlich in Anspielung auf die zu Terroristen erklärten Gülen-Anhänger in der Türkei. "Diese Nation wird nicht zögern, die Köpfe der Verräter zu zermalmen", fährt er fort.
    Mustafa, der auf einem Teppich in Tariks Nähe hockt, nickt zustimmend.
    "Ich gehe zum Freitagsgebet, seit ich ein kleines Kind bin. Jedes Wort, das der Imam sagt, ist wichtig für mich, vor allem seine Anweisungen, wie man sich im Alltag zu verhalten hat, was richtig ist und was falsch. Ich orientiere mich daran."
    Etwa 85.000 Moscheen gibt es in der Türkei. Den Aufruf, gegen die Verräter im Land vorzugehen, hören an diesem Freitagmitten nicht nur Tarik, Mustafa und die anderen Gläubigen in Kadiköy, sondern Menschen im ganzen Land. Denn ein Großteil der wöchentlichen Freitagspredigt wird zentral von der türkischen Religionsbehörde Diyanet in Ankara verfasst. Die Orientierungshilfe, wie Mustafa sie nennt, erreicht Millionen. Zum Glück, meint Nigar Tugsuz vom regierungsnahen Thinktank Seta in Istanbul.
    Sichtbare und legale Quellen
    "Die Religionsbehörde wurde 1924 von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk gegründet. Sie repräsentiert das offizielle Gesicht des türkischen Islam und wirkt damit abweichenden, vielleicht gefährlichen Gruppen und Sekten entgegen. Für mich ist sie ein Garant – auch für die säkulare Bevölkerung der Türkei."
    Der immense Einfluss der Diyanet, mit ihren 120.000 Mitarbeitern und einem Haushalt, der höher ist als der des türkischen Innen- oder Außenministeriums, sei absolut berechtigt, glauben genau deswegen die Befürworter der Behörde, wie Nigar Tugsuz. Gerade in Tagen wie diesen, in der die Türkei sich mit dem IS und der Gülen-Bewegung gleich von zwei radikalen Islamistengruppen bedroht fühlt.
    "Durch die Diyanet lernt hier jedes Kind den Islam aus sichtbaren und legalen Quellen. In unserem Land gibt es traditionell unzählige religiöse Gruppen und jede bietet andere, auch radikale Interpretationen. Wenn man das nicht einschränkt, dann teilt es die Gesellschaft und wird zur Bedrohung für unseren Staat."
    Tatsächlich gilt der türkische Islam traditionell als moderat. Islamistische Bewegungen schwappten zwar aus den arabischen Ländern herüber, hatten ihren Ursprung aber bisher nie am Bosporus. Auch unter säkularen Türken war die Religionsbehörde in Ankara deswegen lange Zeit selbstverständlicher und akzeptierter Teil ihres Staates. Kritik kam höchstens von den religiösen Minderheiten im Land – den armenischen Christen, den Griechen, Juden und Aleviten etwa – die die sunnitische Behörde mit ihren Steuern zwar mitfinanzieren müssen, aber in keiner Weise berücksichtigt werden, wenn die Gelder für Korankurse, Imamgehälter oder Moscheebauten wieder ausgegeben werden… Besonders in den letzten Jahren mehrt sich die Kritik nun auch aus anderen Teilen der Gesellschaft. Denn mit dem Aufstieg der AKP aber änderte die Diyanet ihre bis dahin eher zurückhaltende Funktionsweise. Besonders die Ernennung ihres aktuellen Vorsitzenden Mehmet Görmez im Jahr 2014 sorgte für einen deutlich konservativeren und zugleich offensiveren Ton.
    Der Hut ist religiöse Pflicht
    "Im Vergleich zu Gruppen wie dem IS ist die Religionsbehörde natürlich immer noch extrem liberal. Aber im Vergleich zu ihrer 93-jährigen Geschichte hat sie sich deutlich radikalisiert…", konstatiert der religiöse und zugleich AKP-kritische Journalist Levent Gültekin. Er glaubt:
    "Die aktuelle Regierung benutzt die Diyanet als Instrument, um eine Politik umzusetzen, die sich scheinbar an religiösen Werten orientiert. Die Religionsbehörde dient dazu, die Schritte der Regierung religiöse zu legitimieren - offiziell gutzuheißen", was sie tut und sagt.
    Ganz neu ist diese Instrumentalisierung der Diyanet dabei nicht. Schon Atatürk ließ sich gern den Rücken von der Behörde stärken. Der Republikgründer führte in den 1920er Jahren die Hutpflicht ein – und plötzlich lautete die Anweisung der Diyanet: Hut tragen ist religiöse Pflicht! Als Jahrzehnte später das Militär putschte und Tausende in Gefängnissen verschwanden, verkündete die Religionsbehörde eine Dankes-Fatwa, in der es am Ende hieß: "Gott schütze die Armee."
    Dennoch: So politisch wie unter der aktuellen türkischen Regierung war die Diyanet noch nie, glauben Kritiker wie Journalist Gültekin. "Im ganzen Land sind die Religiösen inzwischen zu Sprechern der Regierung umfunktioniert worden: Imame, Muezzine, Religionslehrer… Wer ihnen zuhört, der glaubt, sie wären direkt Teil der Regierung."
    Ein nächtliches Konzert macht Angst
    Nur ein Beispiel unter vielen für die harmonische Zusammenarbeit zwischen AKP und Diyanet war die Freitagspredigt, in der kurz vor dem zurückliegenden Jahreswechsel Silvesterfeiern als "illegitimer Brauch einer fremden Kultur, die sich nicht mit den türkischen Werten vereinbaren lasse" bezeichnet wurde. Eine Einstellung, die auch die Regierungspartei mit ihrem zunehmend antiwestlichen Kurs seit Jahren verbreitet.
    Noch deutlicher wurde die politisch-religiöse Symbiose in der Nacht des gescheiterten Putschversuchs vom 15.Juli. Stundenlang und mitten in der Nacht riefen damals die Muezzine von den Moscheen, sorgten dafür, dass im ganzen Land Menschen auf die Straßen strömten, um sich – so wie Erdogan es gefordert hatte – den Putschisten entgegenzustellen. Diejenigen Türken, die sich auch später noch wochenlang Allahu-Akbar rufend auf den Plätzen des Landes versammelten, sagen bis heute, der Ruf der Moscheen habe sie beruhigt und bestärkt. Viele oppositionelle und vor allem säkulare Türken empfanden genau das Gegenteil: Das ungewöhnliche nächtliche Konzert verängstigte sie – genauso, wie der ständig wachsende Einfluss der Religionsbehörde insgesamt. Deren Budget wurde für das gerade begonnene Jahr noch einmal um Dreihundert Millionen Lira erhöht. In den letzten 10 Jahren hat es sich damit mehr als verdreifacht.