"Warum geben so viele Italiener ihre Kirchensteuern der Waldenserkirche? Weil wir dieses Geld - das ja nicht, wie in Deutschland, automatisch eingezogen, sondern freiwillig von den Bürgern überwiesen wird - an die Bürger zurückgeben: Alles wird für Sozialprojekte ausgegeben, nicht ein einziger Euro für unsere laufenden Kosten."
Und es seien viele Italiener, sagt Eugenio Bernardini, Mitglied der italienischen Waldenser-Synode, die freiwillig acht Promille ihres Steueraufkommens der kleinen protestantischen Waldenser-Kirche zukommen lassen - ohne Mitglieder dieser Kirche zu sein. Einer Kirche, die in Italien nur etwa 40.000 Mitglieder hat. Und doch überweisen rund 600.000 Italiener ihre Kirchensteuern an die Waldenser. Ein Phänomen, das belegt, wie beliebt und bekannt sie sind. Und obwohl es sich um eine fast schon verschwindend kleine Glaubensgemeinschaft handelt, finden die Meinungen ihrer Repräsentanten immer viel Gehör. Waldenserpastoren werden regelmäßig auch in Talkshows eingeladen. Auch Papst Franziskus wertete die kleine Waldenserkirche Italiens auf: Mitte 2015 besuchte er die Waldenserkirche in Turin, und fand Worte, die seinen Gegnern innerhalb der römischen Kurie gar nicht gefielen:
"Mein Besuch hier bei Ihnen ist nicht einfach nur eine freundliche Geste zwischen zwei Kirchen, sondern geht weit darüber hinaus. Mein Besuch ist ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen wird: die Einheit zwischen uns."
Heute sind die Beziehungen zwischen dem Vatikan und den Waldensern so gut wie noch nie. Die Jahrhunderte lang währende religiöse Verfolgung durch die katholische Kirche ist zwar nicht vergessen, sie ist aber Geschichte geworden.
Italiens Waldenser gehören heute zur gesellschaftlichen Avantgarde. Das wird selbst von erklärten Atheisten gewürdigt.
Die Mutter der Reformation
Zusammen mit den anderen evangelisch-protestantischen Kirchen in Italien feiern auch die Waldenser in diesem Jahr 500 Jahre Reformation. Allerdings mit einem eigenen Blick auf die Geschichte des Protestantismus. Denn viele Historiker bezeichnen der Waldenserkirche als "Mater reformationis". Die Mutter der Reformation sei viel älter als 500 Jahre. Dazu der Doyen der Waldensertheologen Paolo Ricca:
"Na ja, Mater reformationis, kann man so sagen. Sicherlich, aber die Waldenser hatten keine Vorbildfunktion für Luther. Er hatte nie Kontakt mit ihnen - und er verwechselte sie. Er hielt die böhmischen Hussiten für Waldenser!"
Und doch, meint Theologe Ricca, die Waldenser gehörten zu den ersten, die Ende des 12. Jahrhunderts die lateineuropäische Kirche reformieren wollten:
"Nicht wenige unserer Theologen sind der Meinung, dass es Übereinstimmungen gibt zwischen Luther und anderen Reformatoren sowie den frühen Waldensern. In gewisser Weise können wir bei den Waldensern von einer ersten Reformation sprechen."
Verfolgung als Ketzer
Ursprünglich waren die Waldenser eine Gemeinschaft religiöser Laien, gegründet Ende des 12. Jahrhunderts von Petrus Valdes, Kaufmann im französischen Lyon. Sein Weg zum Heil erinnert schon an den des Martin Luther: Die Christen sollten die Bibel studieren. Laienprediger sollten das Evangelium verbreiten. Petrus Valdes lehnte die Heiligenverehrung ebenso ab wie das Fegefeuer, den Ablass und andere Kirchendoktrinen.
Ein Unding für die katholische Kirche nicht nur des Mittelalters. Ihre Inquisitoren verfolgten sie als Ketzer. In Europa hielten sich waldensische Gemeinschaften vor allem in unzugänglichen Gebirgstälern der französisch-italienischen Alpen, bis sie sich Anfang des 16. Jahrhunderts der Reformation anschlossen. 1532 gründeten die Waldenser eine eigene reformierte Kirche. Erst im vereinten italienischen Nationalstaat, also mit dem Ende der politischen Macht der Päpste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurden die Waldenser eine auch vom Staat anerkannte italienische Religionsgemeinschaft. Als solche kommt sie inzwischen auch in den Genuss der italienischen Kirchensteuergesetzgebung. Sitz des waldensischen Zentralorgans, der Synode, ist das norditalienische Torre Pellice. Die jährlichen Synoden dort sind das wichtigste Stimmungsbarometer der Waldenser.
Regenbogenflagge und Austausch mit Katholiken
Die größte Waldenserkirche steht in Rom, an der stark befahrenen Piazza Cavour, nicht weit vom Petersplatz entfernt. An der Fassade der neogotischen Kirche hängt eine Regenbogenflagge, als Zeichen der Offenheit gegenüber Lesben und Schwulen. Ein Zeichen, das einigen nicht gefällt: Vor wenigen Tagen wurde die Fassade mit Farbbeuteln beworfen und mit Hakenkreuzschmierereien verunstaltet. Pastor Antonio Adamo lässt sich von solchen Attacken nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht davon, dass es vielen missfällt, wenn sich vor allem in Rom Waldenser und Katholiken immer näher kommen. Antonio Adamo:
"Seit rund 30 Jahren praktizieren wir einen so genannten Kanzel-Tausch. Einmal im Jahr predigt der Kollege der nahen katholischen Kirche Sacro Cuore del Cristo Re bei uns, und am Sonntag darauf predige ich in der katholischen Kirche."
Waldenserpastor Antonio Adamo hofft auf einen baldigen Besuch des Papstes in seiner Kirche. Von einem Freund im Vatikan habe er kürzlich erfahren, dass der Papst diesen Wunsch bereits geäußert habe.