Christiane Florin: Die Religion wurde vor 100 Jahren gezähmt durch die Weimarer Reichsverfassung. Das haben wir gerade gehört. Aber das reicht nicht, sagen Religionskritiker. Der Weg zum wirklich säkularen deutschen Staat ist noch weit. Verschiedene Autorinnen und Autoren, darunter so bekannte Namen wie Hamed Abdel-Samad, Michael Schmidt-Salomon und Ingrid Matthäus-Maier haben nun unter dem Titel "Exit" eine Abrechnung mit der Religion veröffentlicht. Die Botschaft des tiefschwarzen Buches mit pinkem Titel: Religion verblendet, ja, verblödet, vergiftet. Herausgeber ist der Journalist Helmut Ortner. Er ist jetzt aus Frankfurt zugeschaltet. Guten Morgen Herr Ortner.
Helmut Ortner: Guten Morgen.
"Trennung von Staat und Kirche noch nicht vollzogen"
Florin: Herr Ortner, gestern fand bei Ihnen in Frankfurt auf dem Bahnhofsvorplatz eine ökumenische Trauerandacht für den getöteten achtjährigen Jungen statt, der auf ein Gleis gestoßen und vom ICE erfasst worden ist. Was haben Sie gegen derart öffentlich praktizierte Religion?
Ortner: Gar nichts. Eine kollektive öffentliche Andacht kann Trost spenden, kann Schmerz lindern. Das kann aber auch eine ebenso nicht-kirchliche Zusammenkunft leisten. Es kommt darauf an, dass für die Trauer die richtigen Worte gefunden werden. Und das ist immer ein Zeichen von Humanität, gesellschaftlicher Solidarität und Empathie, unabhängig, ob es ein Priester spricht, die Worte, oder ein Philosoph oder ein Schriftsteller.
Florin: Und warum heißt Ihr Untertitel "Warum wir weniger Religion brauchen"? Was stört Sie an öffentlicher Religion?
Ortner: Wir haben eben den Beitrag gehört. Natürlich gibt es einen Verfassungstext, aber es hapert an der Umsetzung. Die Verfassungswirklichkeit sieht anders aus. Die Autorinnen/Autoren in dem "Exit"-Band beschreiben das deutlich und eindringlich und fordern die konsequentere Trennung von Staat und Kirche. Das heißt, die strikte Beachtung des Verfassungsgebots der weltanschaulichen Neutralität des Staates, die ist immer noch nicht gegeben. Etwa, wir zahlen immer noch die Bischofsgehälter aus dem allgemeinen Steuertopf und im Arbeitsrecht unterlaufen die Kirchen gewisse Standards. Wir haben auch gesehen, dass bei den katholischen Missbrauchstätern die Strafverfolgung nicht das leistet, was ein Rechtsstaat ansteht. Und bis hin zu schwerstkranken Menschen, denen das Recht verwehrt wird, selbstbestimmt zu sterben. All das macht deutlich, dass die Trennung von Kirche und Staat noch nicht in der Weise vollzogen ist, wie ich mir das wünsche und die Mehrzahl der Autoren in dem Band.
"Es ist Zeit, die Privilegien abzuschaffen"
Florin: Aber die Mehrzahlt der Deutschen gehört – immer noch, muss man sagen – einer Religionsgemeinschaft an. Die Mitgliederentwicklung der Kirchen deutet in die Richtung, dass bald die 50-Prozent-Marke unterschritten sein wird. Wer ist dieses "Wir", das Sie im Titel oder im Untertitel meinen?
Ortner: Also, zunächst mal, dieses Buch ist kein glaubensfeindliches Buch. Es ist ein religionskritisches Buch. Ich bin Verfassungspatriot und es geht mir besonders darum, die Privilegien und die immensen Vorteile, die immer noch vor allem die großen Kirchen, die katholische und die protestantische Kirche hierzulande genießen, dass die überfällig …, dass es Zeit ist, die abzuschaffen. Ich spreche von einer Kirchenrepublik Deutschland.
Natürlich dürfen sich die Nicht-Kirchenmitglieder, wenn man so will, diskriminiert fühlen. Das ist weit ein Drittel. Alleine 2018 sind über 400.000 Menschen aus den Großkirchen ausgetreten. Und es gibt ganz viele gesellschaftliche Bereiche, wo diese Trennung von Kirche und Staat permanent unterlaufen wird und nicht in gewisser Weise die Verfassungswirklichkeit greift, die angesagt wäre. Natürlich ist der Glaube für einen Gläubigen völlig legitim. Im Sinne des Wortes kann er glückselig machen. Er kann Halt und Hoffnung geben, hier bei dieser Andacht in Frankfurt jetzt vorm Bahnhof. Er kann also den Einzelnen Kraftquelle, Orientierung und Trost sein. Kurzum, er kann für Menschheit was Wunderbares sein, aber als Privatsache. Ich bin der Meinung, der Staat selbst muss gottlos sein. Ist geradezu die Voraussetzung, dass er Religionsfreiheit, die Vielfalt von Religion garantieren kann. Zusammenfassend könnte ich sagen, der Staat muss immer den Gläubigen schützen, nie aber eine einzige Religion und vor allen Dingen sie auch nicht bevorteilen.
Florin: Ja, aber die Rechte, die Vorrechte der Kirchen vor allem, die basieren auf Gesetzen, zum Teil auf dem Grundgesetz. Das heißt, man könnte mit einer politischen Mehrheit die Gesetze, auch das Grundgesetz, verändern. Warum kommt diese politische Mehrheit nicht zustande? Warum hat offenbar eine Mehrheit derer, die da stimmberechtigt sind, nicht den Eindruck, da finde eine unverhältnismäßige Bevorzugung (der Kirchen) statt oder eben eine Diskriminierung von Nicht-Gläubigen?
"Politprominenz war beim Missbrauch irritierend ruhig"
Ortner: Es gibt eine große Gemeinsamkeit, wenn man so will, zwischen der Politik und den Kirchen hierzulande. Das zeigt sich nicht nur, dass etwa die Loslösung in gewisser Weise der Staatsleistung, der historischen Staatsleistung, wie sie vorhin auch angesprochen wurde, die Ablösung nicht vorangetrieben wird. Man merkt das auch, wie etwa vor dem Hintergrund der weltweiten Missbrauchsfälle, aber auch der Missbrauchsfälle hierzulande, wie zögernd die Politik sich gemeldet hat, sie war kaum wahrnehmbar. Also, politische Prominenz, die ansonsten alles bewertet und sofort in jedes Mikrofon ein Statement veröffentlicht, war hier irritierend ruhig. Es gibt eine große, fast unabgesprochene Allianz. Politiker wissen, wenn sie die Kirchen … ob es beim Religionsunterricht, bei der Sterbehilfe, beim Schwangerschaftsabbruch, das sind alles Themen, die ihnen nicht gedankt werden. Sie haben immer die große Wählerschaft im Blick und die meisten Menschen, wenn sie auch nur Kirche als Folklore begreifen, Taufe, Hochzeit und dann bei der Beerdigung, reagieren allergisch, wenn Politik sich da einmischt. Und das haben Politiker begriffen.
Florin: Ja, Sie selbst haben zu diesem Thema einen Aufsatz geschrieben zum Thema sexualisierte Gewalt. Und Sie sind ja in diesem Aufsatz noch schärfer als jetzt in Ihrem Statement. Sie schreiben nämlich da vom Versagen des Rechtsstaats, weil kirchliche Missbrauchstäter und Vertuscher kaum juristisch verfolgt wurden. Warum ist da nicht nur der Staat, auch die Justiz so zögerlich?
"Der katholische Mensch blickt nicht gern in den Giftschranke"
Ortner: Man muss sich erst mal vorstellen, ein anderes weltweit agierendes Unternehmen, dessen Angestellte über Jahrzehnte tausende Straftaten begangen haben, und zwar keine Bagatellvergehen, sondern schwere und schwerste Verbrechen, den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Der Vorstand des Unternehmens weiß davon, aber vertuscht, deckt die Täter und verhängt keine sichtbaren Sanktionen – weder gegen die Täter noch gegen deren Helfer. Normalerweise muss die Staatsanwaltschaft hier einschalten, aber das Unternehmen unternimmt nichts.
Hier aber ging es nicht um ein normales Unternehmen, sondern um eine Weltfirma, deren Alleinstellungsmerkmal Barmherzigkeit und Glaubwürdigkeit ist – die Katholische Kirche. Der Rechtsstaat ist hier ganz zögerlich vorgegangen. Uns ist kein Fall bekannt, etwas wie in Irland, in Kanada, in USA, dass ein Bischof vor Gericht stand. Sie sind mitverantwortlich, sind für die Vertuschung verantwortlich. Ich finde das einen rechtsstaatlichen Skandal, der hier sich vollzieht, dass sehr zögerlich bis gar nicht ermittelt wurde. Und auch da kann ich, ohne jetzt in Verschwörungstheorien zu verfallen … es ist die enge Verschränkung, ja fast Komplizenschaft zwischen Politik und Kirche. Und besonders bedauerlich ist, dass der Rechtsstaat …, dass der katholische Mensch nicht gerne in den Giftschrank seiner Kirche blickt, das kann man nachvollziehen. Der Rechtsstaat muss es tun und das hat er nicht getan. Er hat hier meiner Ansicht nach in diesem Bereich seine Arbeit nicht geleistet.
Florin: Aber es gibt durchaus katholische Menschen, die in den Giftschrank blicken wollen. Es gibt innerhalb aller Religionsgemeinschaften ganz verschiedene Strömungen: Es gibt die Fundamentalistischen und Autoritären, aber es gibt auch die plural, liberal und demokratisch gesinnten Gläubigen. Wenn Sie dann jemandem an den Kopf werfen, der Glaube sei Mumpitz, Einbildung, Wahnsinn – das steht ja in einigen Texten so, ist als polemische Überspitzung gedacht - aber meinen Sie, dann erreichen Sie etwas, zum Beispiel für Missbrauchsbetroffene?
"Schrecklich kindischer Mumpitz"
Ortner: Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun. Missbrauch ist ein Verbrechen. Da muss der Rechtsstaat handeln. Da muss die Staatsanwaltschaft ermitteln. Sie muss Urteile sprechen. Sie muss Gutachten erstellen. Im Zweifel auch für den Angeklagten – wieder freisprechen. Ist der Rechtsstaat gefragt. Ob der einstige Gläubige an seiner Kirche, wie es so heißt, zweifelt oder gar verzweifelt, ist seine ganz persönliche Sache. Er kann austreten. Er kann sich streiten. Ich habe überhaupt keinen missionarischen Eifer, so ein Plädoyer, gerade in diesem Bereich, worüber wir eben gesprochen haben, für ein Plädoyer, der Rechtsstaat möge doch seine Aufgaben ernstnehmen, was er ja ansonsten auch macht.
Ich bin Verfassungspatriot. Es gehört zu den Standards einer demokratischen Gesellschaft, die Ausübung seiner Religion, dass die garantiert wird. Der Mensch kann einen Gott, mehrere Götter haben, wen auch immer. Er kann daran glauben, an die Jungfrau Maria, an irgendwelche Wunder, die ich natürlich alle für einen schrecklichen kindischen Mumpitz halte. Und ich kann auch spotten. Auch der Christ muss Spott aushalten. Er kann sich wehren. Wir sind eine offene Gesellschaft. Aber dennoch, eine offene Gesellschaft garantiert auch immer Religion. Ich bin gottlos glücklich. Mein Nachbar kann beten, den ganzen Tag beten. Ich möchte aber nicht, dass seine Kirche mir an einem Karfreitag Tanzverbot erteilt. Das verträgt sich nicht mit meinem Begriff von offener Gesellschaft und Demokratie. Mein Nachbar als Kathole kann gerne dann am Karfreitag beten und sich entschleunigen. Ich möchte vielleicht tanzen. Ein exemplarisches Beispiel, wo es eine Kollision gibt.
Religionen sind Männersache, Religionskritik auch?
Florin: Ein anderes Thema möchte ich noch kurz ansprechen. An dem Buch haben 16 Männer mitgeschrieben und fünf Frauen. Damit ist also die Frauenquote höher als im katholischen Klerus, klar. Aber Religionen sind patriarchal, aber offenkundig ist doch auch Religionskritik ein Männerding, oder?
Ortner: Also, ich habe jetzt da gar nicht drauf geachtet. Ich halte von so Diskussionen ganz wenig. Es hätten bei mir auch gern 17 Frauen schreiben können und zwei Autoren. Vielleicht hatten die keine Zeit. Ich habe genug angesprochen. Alle Religionen sind Männersache. Constanze Kleis hat in ihrem Text das sehr, sehr gut beschrieben. Religion ist Männerzauber – sage ich mal – Frauen glauben dann dran. Ich hätte gerne in meinem Buch die Quote eingehalten, obwohl ich kein Freund der Quote bin. Aber machen Sie sich da keine Sorgen. Da gibt es bei den Atheisten genauso Vorurteile, kluge und unkluge Meinungen, was die Quote angeht, wie in der Kirche auch.
Helmut Ortner, Hrsg: Exit. Warum wir weniger Religion brauchen – eine Abrechnung. Frankfurt, Nomen Verlag 2019. 360 Seiten, 24 Euro.