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Religionskritik - wie geht das richtig?
"Aufklärung" des Islams

Immer mehr Muslime kritisieren ihre Religion und ihre Vertreter. Die einen als Ex-Muslime, die anderen als Reform-Muslime. "Wir müssen raus aus der Falle des Polit-Islams", sagen der Schriftsteller Zafer Senocak und der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi. Beide wollen ein modernes und aufgeklärtes Islam-Verständnis - auch mittels Kritik.

Abdel-Hakim Ourghi und Zafer Senocak im Gespräch mit Andreas Main |
    Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi nimmt am 27.05.2015 in Köln am dritten phil.COLOGNE, dem internationalen Festival der Philosophie, teil.
    Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi plädiert für einen Reformislam - so wie auch der Schriftsteller Zafer Senocak in unserer Gesprächsreihe (picture alliance/dpa - Horst Galuschka)
    Abdel-Hakim Ourghi leitet den Fachbereich Islamische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er hat vor wenigen Tagen zusammen mit anderen Reformmuslimen eine sogenannte "Freiburger Deklaration" vorgelegt. Es geht darin um eine Islamreform und eine "Aufklärung, aus der eine muslimische Gemeinschaft erwächst, die sich als integralen Bestandteil der europäischen Gesellschaft sehen will".
    Zafer Senocak lebt und arbeitet in Berlin. Er schreibt Gedichte und Essays, äußert sich aber auch immer wieder zum Islam, wendet sich vor allem gegen eine Politisierung seiner Religion. Zuletzt von ihm erschienen: "In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters".
    In einer fünfteiligen Gesprächsreihe mit agnostischen, christlichen, islamischen und jüdischen Denkern fragen wir: Warum brauchen wir Religionskritik? Wann schadet sie? Wann nützt sie? Oder verlernen wir gerade Religionskritik? Denn die Emotionen in den Religionsdebatten überschlagen sich. In einer Zeit der Schlagwörter schlagen viele mit Wörtern nur so um sich. Zum 'Schlagwort-Sprech' gehört zum Beispiel der Begriff "Generalverdacht". Die einen sagen, der Islam werde unter "Generalverdacht" gestellt. Die Gegenseite sagt, "Islamkritiker" würden unter "Generalverdacht" gestellt. Religionskritik - wie geht die richtig?
    Das Interview in ganzer Länge:
    Andreas Main: Es lassen sich fünf Prototypen des Islamkritikers ausmachen. Ob meine Gesprächspartner in eine dieser Schubladen passen? Das kann ruhig offen bleiben. Sicher ist nur: Selbstkritische Reflexion ist möglich mit dem Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi und dem Schriftsteller Zafer Senocak. Ourghi und Senocak haben klare Positionen. Bevor ich die beiden genauer vorstelle - erst mal ein Gruß in die Runde. Guten Morgen, Herr Senocak in Prag!
    Zafer Senocak: Guten Morgen!
    Main: Und guten Morgen, Herr Ourghi in Freiburg!
    Abdel-Hakim Ourghi: Guten Morgen!
    Main: Sie, Herr Ourghi, leiten das Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie haben sich in den vergangenen Monaten immer hörbarer eingemischt - vor allem auch kritisch gegenüber den Islamverbänden. Herr Ourghi, ich ahne, dass Sie die Frage hassen - dennoch: Sind Sie ein Islamkritiker?
    Ourghi: Nein, also ich werde bezeichnet als Islamkritiker. Damit lebe ich auch. Allerdings: Ich versuche, sage ich mal, meine eigene Religion, ihre historische Entstehung im siebten Jahrhundert und ihre historische Entwicklung nämlich zu verstehen. Deshalb sage ich, dass die Islamkritik - sie ist eher eine differenzierte Ausübung der Vernunft, denn ihre essenzielle Aufgabe ist die reflektierende Befassung mit den Hauptquellen des Islam und zu versuchen, diese Quellen – sage ich mal – erst mal zu verstehen, genauer gesagt hermeneutisch und auch zu versuchen, sie von historischen Verfremdungen zu befreien.
    "Ohne Angst vor Kritik"
    Main: Sie haben vor wenigen Tagen zusammen mit anderen Reform-Muslimen eine sogenannte Freiburger Deklaration vorgelegt, in der Sie Ihre Werte und Ihre Vision einer Islamreform deutlich machen. Dennoch – wie oft bekommen Sie Vorwürfe, zum Beispiel Sie seien ein "Nestbeschmutzer" oder Ähnliches?
    Ourghi: Ja, wie ich vorhin erwähnt habe, mit dieser Kritik lebe ich und ich akzeptiere es. Allerdings begrüße ich immer eine sachliche und differenzierte Kritik meiner Thesen und sogar auch meiner Person. Mir geht es in erster Linie darum, dass wir endlich mal – wir Muslime – ehrlich und mutig Diskurs oder Debatten miteinander führen, und zwar ohne Angst vor der Kritik. Wenn wir alle behaupten, dass der Islam friedlich ist – die Realität spricht was anderes. Es ist unsere Aufgabe, aus dem Islam eine friedliche Religion zu machen.
    "Freiheitliche Grundlagen erhalten und erkämpfen"
    Main: Zafer Senocak, Sie leben und arbeiten in Berlin. Sie schreiben Gedichte und Essays, äußern sich auch immer wieder zum Islam, kritisch vor allem zur Politisierung dieser Religion. Zurzeit sind Sie bei einem Poesie-Festival in Prag und sitzen deswegen bei unserem Korrespondenten in Tschechien. Herr Senocak, warum reagieren Menschen oftmals so abwehrend, wenn ihre eigene Religion kritisiert wird?
    Senocak: Weil Sie das Gefühl haben, dass ein Stück Identität auf dem Spiel steht. Das ist übrigens auch mein Interesse am Islam. Ich würde mich selber gar nicht als Islamkritiker bezeichnen. Ich bin ja auch kein Theologe, sondern ich betrachte die Religion, den Glauben als einen Teil meiner Identität, als eine Erbschaft, die mir durch meine Familie übermittelt worden ist. Und in diesem Sinne betrachte ich sie auch kritisch, weil ich andere Dinge auch kritisch betrachte. Das ist eine Position des Schriftstellers. Und wofür ich eintrete, ist, dass in der islamischen Kultur dies einfach möglich sein muss. Das war auch in früheren Zeiten immer wieder möglich - und immer wieder war es dann auch nicht möglich und gefährlich. Und wir müssen einfach in modernen Zeiten, in Zeiten, in denen wir leben, für das Recht eintreten, Meinungen zu äußern, die vielleicht von bestimmten dogmatischen Positionen abweichen. Und deshalb geht es darum, diese freiheitliche Grundlage zu erhalten und zu erkämpfen, vor allem auch in der islamischen Welt, nicht nur hier in Europa.

    Der Schriftsteller Zafer Senocak
    Der Schriftsteller Zafer Senocak (imago images / Horst Galuschka)
    Main: Aber um diese islamische Welt heute zu verstehen oder bestimmte dogmatische Strömungen, wie Sie sie eben bezeichnet haben - wenn die Prämisse stimmt: Warum reagieren viele Muslime heutzutage besonders empfindlich auf Kritik?
    Senocak: Ja, ich glaube … Ich war neulich in Marokko und ich wurde dort von vielen Studenten stark angegriffen wegen meines letzten Buchs "In deinen Worten", in dem ich mich mit dem Glauben meines Vaters auseinandersetze. Aus meiner Sicht von einer sehr melancholischen, nachfragenden Position, gar nicht von einer polemischen. Aber meine Äußerungen, wie man zum Beispiel den Koran vielleicht auch anders lesen könnte usw., wurden sofort mit einer Nestbeschmutzung oder auch einem Angriff auf den Islam verbunden. Und das waren nicht einmal Theologiestudenten. Das waren Germanistikstudenten. Das heißt, im Grunde genommen ist die Fähigkeit verlorengegangen, Texte mit unterschiedlichen Differenzierungen zu lesen und auch kritisch zu diskutieren. Und das ist ja die Grundlage der Freiheit. Wenn wir das verlieren, dann haben wir überhaupt keine Chance. Ich habe das Gefühl, dass das zunehmend eine psychologische Haltung ist.
    Das heißt, im Grunde genommen haben viele Menschen in der islamischen Welt das Gefühl, sie werden angegriffen, und zwar schon seit 200 Jahren. Der Kolonialismus spielt bestimmt eine Rolle immer noch in den Köpfen. Das wird ja auch von Politikern, auch von populistischen Politikern immer wieder aufgefrischt, wenn es darum geht, auch sich sozusagen demokratischen Wahlen zu stellen. Man darf ja nicht vergessen, dass fast bei allen demokratischen Wahlen immer wieder islamische Kräfte sehr stark herauskommen in der islamischen Geographie, wenn es denn zu diesen Wahlen kommt. Das heißt, es zeigt sich, dass in der Bevölkerung so eine Grundlage vorhanden ist, um in den Kulturkampf einzutreten. Und da bildet natürlich der Islam, die traditionelle Auslegung, die salafistische Auslegung, die wahhabitische Auslegung, die dogmatische Auslegung des Islam eine gute Grundlage, um in diesen Kampf zu ziehen.
    Selbstkritik
    Main: Mal positiv gewendet, Herr Ourghi, Sie gehen ja so weit, dass Sie sagen, Kritik am Islam sei ein Geschenk für den Islam. Können Sie Beispiele nennen, wie Kritik zu positiven Veränderungen im Islam geführt hat oder führen könnte?
    Ourghi: Vielleicht erlauben Sie mir bitte kurz zu sagen … also den Begriff "Islamkritik" haben wir im Arabischen nicht. Wir haben eher die sogenannte Selbstkritik. Bewusst wurde der Begriff "Islamkritik" vermieden, und zwar in dem muslimischen Diskurs. Man hat Angst – sage ich mal – die kanonischen Quellen und die Person des Propheten zu kritisieren. Wenn wir die Quellen, den Koran genau unter der Lupe betrachten, dann stellen wir fest, dass Mohammed - zum Beispiel in der Sure 18, Vers 110 - ein Mensch war, der fehlbar war, der auch so oft in dem Koran kritisiert wird, zum Beispiel in der Sure 80, Vers 1-10 oder in der Sure 2, Vers 272. Das heißt, die Kritik des Islam ist theoretisch begründet.
    Wenn wir jetzt über den Islam sprechen … wir müssen über den Islam in einer Pluralform sprechen. Es gibt nicht nur einen Islam. Und diese pluralistische – sage ich mal – Sichtweise im Islam ist auch eine Grundlage, dass man sich selbst kritisiert, sich selbst infragestellt und auch andere innerhalb der muslimischen Gemeinde oder innerhalb der Rezeption, der kanonischen Quellen. Nun – ich möchte darauf hinweisen, wenn es um Islamkritik geht: Es handelt sich hier nicht um eine plakative Ablehnung des Islam und seinen Anhängern. Es geht einfach darum zu verstehen oder – sage ich mal – die Herrschaftsstrukturen, die sich in der Geschichte des Islam etabliert haben, zu befragen und zu versuchen, auch diesen Islam von diesen historischen Verfremdungen zu befreien. Das heißt, die Islamkritik ist eher eine Aufklärung à la Kant-Philosophie und man ist bemüht – sage ich mal – das zu räsonieren, also auch zu verstehen. Übrigens – zwischen dem achten Jahrhundert und dem 13. Jahrhundert hatten wir die sogenannte Ratio-Schule: Die betonten die Freiheit, die Meinungsfreiheit. Sie berufen sich nur auf den Koran und sie haben kategorisch die Tradition des Propheten, die sogenannte Sunna abgelehnt.
    Das heißt, wir Muslime heutzutage haben Angst vor der Kritik, weil man Angst hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Letztendlich: Diese Kritik - bei der Islamkritik geht es um die Entwicklung des Islam und in erster Linie den Islam in seiner jetzigen Situation hier bei uns in Deutschland zu verstehen. Wir dürfen die Lebenswelt, in der wir uns befinden, nicht verharmlosen. Deshalb spreche ich immer von einem europäischen Islam, der sich im Rahmen eines Aufklärungsprogramms bewegt.
    "Der Islam wird von sehr konservativen Verbänden gefangen gehalten"
    Senocak: Im Grunde genommen ist es ja so, dass der Islam von sehr konservativen Verbänden und Gemeinschaften gefangen gehalten wird. Das muss man einfach sagen. Und diese Diskussion zwischen diesen konservativen, sehr in sich verschlossenen Gemeinschaften und Denkstrukturen und der Öffnung in eine kritische, durchaus auch in der islamischen Tradition – das ist völlig richtig – beheimatete Denkweise, die findet eigentlich leider nicht statt. Das ist das Problem. Ob das Deutschland ist, Türkei ist, ob das arabische Länder sind. In Deutschland haben wir ein freiheitliches Gesellschaftssystem. Das ist ein Vorteil.
    Aber wir hatten zum Beispiel, wenn ich daran erinnern darf, seit Ende des 19. Jahrhunderts auch große Anstrengungen im ausgehenden Osmanischen Reich, wir auch in der jungen, türkischen Republik, neue Ansätze zu finden und auch Anschluss zu finden, auch an eine rationalistische, aufklärerische Islamdeutung. Und all das scheint heute so ein bisschen verloren oder im Nebel. Und das muss ja wieder erweckt werden und hervorgeholt werden, und zwar nicht nur in Deutschland. Ich finde diese Eingrenzung auf Deutschland ehrlich gesagt völlig unsinnig, weil die Geographie hier keine Rolle spielt, sondern es geht ja um Denkstrukturen. Und wir leben im Zeitalter des Internet. Wir leben nicht im Zeitalter von nationalstaatlichen Grenzen.
    Ex-Muslime
    Main: Religionskritik – wie geht das richtig? Das ist die Leitfrage in dieser Woche, in dieser Sendung. Vielleicht können Sie beide ja mal ein paar Regeln aufstellen, die es zu beachten gilt.
    Senocak: Die Grundfrage für mich ist, dass es möglich sein muss, dass jemand, der aus der islamischen Kultur kommt und diese Herkunft hat, es möglich sein muss, diese auch zu verlassen. Das heißt, die Muslime, die einmal muslimisch geboren sind und vielleicht nicht mehr an diese Religion glauben, die müssen das auch öffentlich äußern können und sich nicht als Muslime tarnen müssen. Das verstehe ich überhaupt gar nicht. Man kann kritisch auch gegenüber dem islamischen Glauben sein. Und das ist die Grundlage jeder freiheitlichen Ordnung. Und das ist heute in weiten Teilen der islamischen Welt nicht möglich.
    Wenn ich so etwas höre, dass auch in Europa solche Menschen um ihr Leben fürchten müssen, ist das einfach ein Zustand, den wir nicht ertragen können. Das ist für mich wirklich Schritt eins. Und Schritt zwei ist tatsächlich eine kritische Deutung von Quellen, nachdenken drüber und diskutieren auch mit anderen. Es wird immer orthodoxe und auch konservative Deutungen geben. Das gibt es in jeder Religion. Die haben auch ihr Recht zu existieren. Aber das muss nebeneinander existieren können. Notfalls muss es auch zu einem Schisma kommen, zu einer Teilung, wie es im Judentum ja gibt. Das ist ja auch eine interessante Geschichte, dass diese Vergleiche überhaupt nicht stattfinden, obwohl der Islam vieles eigentlich auch in seiner Entwicklung in die Moderne hinein mit dem Judentum gemein hat.
    "Mohammed war fehlbar"
    Main: Vielleicht ist Herr Ourghi ja der Schismatiker.
    Ourghi: Na ja, also ich möchte bitte darauf hinweisen, dass die Muslime sich heutzutage der Tatsache bewusst sein können, dass sie mit dem Korantext nicht mehr dort stehen, wo der Prophet Mohammed im siebten Jahrhundert stand. Ich habe ein paar Punkte entwickelt für die Islamkritik. Und in erster Linie geht es um den medinensischen Koran, und zwar mit seiner Legitimation für Gewalt gegen Nichtmuslime, sogar auch heute gegen Muslime und die Unterdrückung der Frauen. Dieser Koran, der in Medina zwischen 622 bis 632 offenbart ist oder offenbart wurde, besitzt ein historisch-politisches Modell und hat eine Gültigkeit für das siebte Jahrhundert.
    Der zweite Punkt – es geht um ein geographisch dogmatisiertes Prophetenbild, nämlich, dass wir, wenn wir den Propheten und sein politisches Handeln infrage stellen, darf das nicht als Beleidigung aufgefasst werden. Wir möchten dadurch nur betonen, dass der Prophet Mohammed einfach fehlbar war. Darüber hinaus sprechen wir über die sogenannte Tradition des Propheten, die sogenannte Sunna. Das ist ein postumes menschliches Konstrukt, das zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten entstanden ist. Und darin sind viele Verfälschungen und auch ein paar Überlieferungen, die eigentlich zu keiner Zeit passen. Darüber hinaus wollen wir auch die sogenannte herkömmlich-klassische Wissenstradition infrage stellen. Und wir würden nämlich versuchen, sie auf ihre damalige Zeit, ihren Entstehungskontext zu reduzieren.
    Es geht uns in erster Linie darum, den Islam gemäß seiner jetzigen Situation zu verstehen und besonders in dem westlichen Kontext, weil wir hier im Westen leben. Darüber hinaus plädiere ich für die Autonomie der Quellen, nämlich des Korans. Und diese Autonomie setzt die Freiheit der Interpretation voraus.
    Main: Wenn der Islam durch so etwas wie eine Aufklärung – dieses Stichwort ist gefallen – durch eine Reform hindurch gegangen wäre, wie sieht dieser Islam aus? Dies als Schlussfrage an Sie. Was ist der Kern Ihres Islams?
    Senocak: Das wurde ja gerade sehr gut beschrieben. Im Grunde genommen geht es wirklich um eine kritische Sichtung sowohl der Quellen als auch der Geschichtsschreibung. Weil die islamische Geschichtsschreibung, wie Sie sie heute haben, wie sie überliefert wird, wie ich sie auch als Kind gelernt habe, das ist ja eine Legendenbildung. Das ist ja keine Geschichtsschreibung. Und die Figuren, die dort auftauchen, diese Heldenfiguren, die haben wahrscheinlich ganz anders gelebt und ganz andere Kämpfe noch ausgefochten. Und dies herauszuarbeiten ist ja auch zum großen Teil geschehen. Es gibt ja eine Islamforschung über Jahrhunderte hinweg. Also das dürfen wir ja auch nicht verschweigen. Dass das auch vor allem im Westen geschehen ist, zeigt nur, dass die Wissenschaft ja zivilisatorisch kulturübergreifend ist. Das ist ja nicht eine kultureingrenzende Geschichte, wie Wissenschaft betrieben ist, sondern Wissenschaft hat Methoden und diese Methoden müssen auch auf die islamische Religion angewandt werden. Das ist es.
    "Religion ist Privatsache"
    Main: Was ist der Kern Ihres Islams, Herr Ourghi?
    Ourghi: Also mein Kern – sage ich mal – meines Islams und des Islams vieler liberaler Muslime, dass die Religion eine private Sache ist, die die Individualität der Personen betont und in erster Linie, dass man auch den Mut hat einfach, den Islam, seine historischen Manifestationen infrage zu stellen. Es geht nicht darum, die Religion abzulehnen, sondern es geht darum, sie hermeneutisch zu verstehen und zu versuchen, aus dieser Religion, in der sich auch Toleranz und auch Nächstenliebe befindet, dass man das belebt. Allerdings dadurch, dass man auch versucht – sage ich mal – sich mit unangenehmen Fragen zu beschäftigen.
    Main: Ich zitiere aus einem Essay von Herrn Ourghi. "Ohne eine Islamkritik wird der islamische Glaube zu einer gefährlichen Religion, besonders, wenn die religiöse Wahrheit als absolut, unantastbar und unveränderlich dargestellt wird." Das müsste dann für alle Religionen gelten?
    Senocak: Für jede Ideologie – ja – und Religion, ja.
    Main: Was würde sich ändern? Welche Konsequenz hätte das?
    Ourghi: Also, wenn Sie mir kurz erlauben … Dieser absolute Besitz einer exklusiven Wahrheit … davon muss Abschied genommen werden, und zwar in allen drei monotheistischen Religionen. Darüber hinaus, wir Anhänger der drei monotheistischen Religionen, wir müssen auch Atheisten wahrnehmen. Wir müssen miteinander sprechen, diskutieren und einfach voneinander lernen und keine Angst vor dem anderen. Wir Muslime sind hier als Minderheit, und wir müssen auch diese Bereitschaft zeigen, von dem anderen etwas zu lernen. Ich entdecke meine eigene Identität durch die Berührung oder durch die Begegnung mit der Identität des anderen. Und ich glaube, das ist das Klima, die Toleranz, die wir zurzeit brauchen. Und, wenn einer den Islam kritisiert, dann darf man nicht um sein Leben fürchten.
    Main: Abdel-Hakim Ourghi, Islamwissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, und Zafer Senocak, Schriftsteller aus Berlin. Danke Ihnen beiden nach Freiburg bzw. nach Prag. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
    Senocak: Gern geschehen.
    Ourghi: Gerne.
    Main: Und morgen dann im dritten Teil unserer Reihe zur Frage "Religionskritik – wie geht das richtig?" bin ich verabredet mit dem katholischen Theologen Gerhard Kruip und mit dem evangelischen Wissenschaftspublizisten Martin Urban. Beide haben sich auf ihre Weise mit ihrer eigenen Konfession selbstkritisch auseinandergesetzt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.