Umjubelt von den Massen rief Atatürk am 29.Oktober 1923 die türkische Republik aus. Dazu Rasim Marz, Historiker für die Geschichte des Osmanischen Reiches.
"Nach dem Sieg der Befreiungsbewegung, an der Spitze Mustafa Kemal, wendet sich das Blatt, indem man eine Position gewonnen hatte, wo man gesagt hat, der letzte Sultan, dadurch, dass er eine Kooperation mit der neuen Regierung verweigert, begehe er Verrat. Daraufhin ließ Mustafa Kemal eine Fatwa erheben, um den letzten Sultan abzusetzen und ihn des Hochverrats anzuklagen."
"Er wollte keine oppositionelle Meinung haben"
Während Sultan Mehmed ins Exil verbannt wurde, begann Mustafa Kemal die türkische Republik zu einem Nationalstaat nach westlichem Vorbild aufzubauen. Er verbot mit einer Kleiderreform zum Beispiel den Fes als Kopfbedeckung für Männer und den Schleier für Frauen, er ersetzte die islamische Zeitrechnung durch den westlichen Kalender, führte die Schulpflicht auch für Mädchen ein und schaffte die osmanische Schrift über Nacht ab. Fortan galt nur das lateinische Alphabet.
Auch in der Religionspolitik schlug Atatürk einen neuen Weg ein. Dabei knüpfte er zum Teil an vorhandene Institutionen aus dem osmanischen Reich an.
"Das Osmanische Reich bestand aus einem Millet-System. Das bedeutet, jede Religionsgemeinschaft, die jüdische Religionsgemeinschaft hat einen Oberrabbiner gehabt, die christliche Religionsgemeinschaft etliche Patiarchen und dann kam eben für die muslimische Religionsgemeinschaft der Scheik-ul-Islam."
Das Millet-System stand vor allem dafür, dass im Osmanischen Reich jede Religion ihr eigenes Zivilrecht und ihre eigenen Zivilgerichte hatte. Das religiöse Oberhaupt der Muslime war der Scheik-ul-Islam, sozusagen der oberste Mufti, der vom Sultan eingesetzt wurde. Er stand zusammen mit der Ulema, der Gemeinschaft der religiösen Rechtsgelehrten, an der Spitze der muslimischen Glaubensgemeinschaft.
Doch als der Vielvölkerstaat Osmanisches Reich unterging, konnte das traditionelle Millet-System, das für mehrere unterschiedliche Völker konstruiert worden war, nicht für den neu geschaffenen türkischen Nationalstaat übernommen werden. Deshalb wurde jetzt die Diyanet, das Amt für Religionsangelegenheiten in der türkischen Republik, geschaffen. Rasim Marz sagt:
"Die Vision war erst einmal natürlich, die alte Institution des Scheik-ul-Islams in eine europäische Behörde umzustrukturieren. Viele Gelehrte der alten Kaste der Ulema wurden pensioniert, wurden quasi hier auch aus dem politischen Leben ausgeschlossen. Und das Interessante hierbei ist jetzt, dass in den Anfängen die Diyanet sehr viele in Europa studierte Juristen hier Eingang gefunden haben und mit aufgebaut haben in diesem religiösen Bereich, der sich eigentlich nur noch auf zwei Elemente beschränkte, weil die religiöse Rechtsprechung ging ja komplett im neu gegründeten Justizministerium auf, im religiösen Bereich war eigentlich nur noch eine Verwaltung der religiösen Gebäude und der religiösen Strukturen vorgesehen."
Der Staat kontrolliert die Religion
Mustafa Kemal Atatürk hat die Diyanet aber auch gegründet, um die Religion durch den Staat zu kontrollieren, denn es gab in der neugegründeten Türkei immer noch leidenschaftliche Anhänger des abgeschafften Sultanats und Kalifats. Die Laizismus-Tendenzen des Mustafa Kemal Atatürk wurden besonders von vielen konservativen Muslimen in den ländlichen Gebieten der Türkei skeptisch gesehen. Sie befürchteten eine Beeinträchtigung in ihrem religiösen Leben. Dazu der Religionspolitologe am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa, Hüseyin Cicek:
"Solange die Gläubigen sich nicht explizit gegen den laizistischen Kurs von Mustafa Kemal Atatürk stellten, gab es eigentlich kein Problem. Sie konnten in den eigenen vier Wänden relativ frei alles glauben, was sie wollten. In der Öffentlichkeit durfte es aber keinen Aufruhr geben."
Doch neben Minderheiten wurden zahlreiche Konservative und Geistliche, die den Reformen trotzten, durchaus verfolgt, zum Teil sogar exekutiert. Auf diese Weise wurde in der jungen türkischen Republik die Religion als ein von der Regierung kontrollierter Bestandteil in den Nationalstaat integriert. Religion und Nation gehörten nun zusammen. Deshalb nimmt die Dyanet bis heute gegenüber allen türkisch-islamischen Bewegungen und Verbänden eine Monopolstellung ein. Der Historiker Rasim Marz nennt ein Beispiel:
"Wir brauchen nicht so sehr in die Vergangenheit schauen. Wenn wir uns die 80er- und 90er-Jahre vor Augen führen, da hat damals die Regierung Helmut Kohl mit der Türkei eine Kooperation geknüpft, um zum Beispiel die aufkommende Milli Görüs Bewegung in Deutschland, die sehr stark war, auf Kurs zu bringen, beispielsweise die Diyanet zu stärken, um die Milli Görüs in Deutschland zu schwächen."
"Diyanet hat ihre konservativen Wurzeln wiederentdeckt"
Hüseyin Cicek sieht die Diyanet bis heute in einer ständigen Abhängigkeit von dem politischen Programm der jeweiligen Regierung.
"Von daher würde ich sagen, es gibt eine Kontinuität von der Anfangszeit bis zur Gegenwart, dass sie immer je nach innenpolitischen und außenpolitischen Herausforderungen sich hinter den türkischen Staat stellt."
Das Diyanet-Modell Atatürks hat den Regierenden stets die Möglichkeit gegeben, die Religion auch als Instrument für ihre Politik einzusetzen. Für den Historiker Rasim Marz trifft dies auch für Staatspräsident Erdogan und seine Regierungspartei AKP zu.
"Das bedeutet, die Diyanet hat ihre konservativen Wurzeln wiederentdeckt, hat sich der jeweiligen Politik dann auch angepasst, hat dann auch wieder versucht, außerhalb der Türkei Strahlkraft zu entwickeln, wie damals das Kalifat."
"Man müsste einen weltoffenen Islam fordern"
Da die Diyanet sich oft an sehr konservativen islamischen Vorstellungen orientiert, vermisst Hüseyin Cicek die Bereitschaft, sich ernsthaft mit der Gegenwart auseinanderzusetzen.
"Was man sozusagen von der Diyanet fordern müsste, wäre natürlich ein weltoffener Islam, ein Islam, der demokratischen Entwicklungen oder Demokratie fördernd ist. Das heißt also im Bereich Menschenrechte, Genderfragen und so weiter hier einen klaren Standpunkt einzunehmen und eben Diversität und Menschenrechte, egal für wen, einzufordern."