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Religiosität
Hirnforscher und Theologen auf der Suche nach Gott

Was passiert im Gehirn, wenn Menschen beten? In welchem Teil des Gehirns findet Religiosität statt? Die Antworten auf diese Fragen sind umstritten - egal ob sie von Hirnforschern kommen oder von Theologen. Sicher ist nur eines: Glaube entsteht im Gehirn.

Von Monika Konigorski |
    Blick auf das christliche Viertel in der Altstadt von Jerusalem
    Wie entsteht Religion und welche Wirkung hat sie? (picture alliance / dpa / Reinhard Kaufhold )
    "Natürlich entsteht Religion im Gehirn, weil die religiöse Praxis von gläubigen Menschen eine Leistung des zentralen Nervensystems ist. Wo sollte sie sonst entstehen – wenn nicht im Gehirn?"
    "Religiöse Vorgänge sind wirklich Vorgänge, die ganz viel vom Menschen – denken Sie bei der Meditation an die Sitzhaltung, die Hände falten Sie beim Gebet oder so etwas, Sie reden laut, Stimme, vom körperlichen bis hin zu ganz kognitiven Metaebenen sind alle da irgendwie mitbeteiligt. Von daher scheint es mir schwierig zu sein, die Religion im Gehirn zu entdecken."
    Die Frage, ob Religion im Gehirn entsteht, wird kontrovers diskutiert. Naturwissenschaftler, Theologen und Religionswissenschaftler streiten darüber, auch Soziobiologen, Kognitionswissenschaftler und Philosophen sind an der Debatte beteiligt. Religion und Gehirn – welchen Zusammenhang gibt es?
    Das hat schon Charles Darwin beschäftigt. Der britische Naturforscher aus dem 19. Jahrhundert hat nicht nur die Evolutionstheorie begründet, sondern war auch studierter Theologe. In seinem Werk "Abstammung des Menschen" denkt er darüber nach, wie religiöse Vorgänge mit dem Gehirn des Menschen zusammenhängen.
    Bruch zwischen Natur- und Geisteswissenschaften
    Dann kam es zum Bruch: Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften spalteten sich auf. Damit fand auch das Nachdenken der Naturwissenschaftler über Religion vorübergehend ein Ende. Der Religionswissenschaftler Michael Blume von der Universität Jena erklärt es so:
    "Die Religion galt als Angelegenheit der Geisteswissenschaften und der Körper einschließlich des Gehirns als Angelegenheit der Naturwissenschaften. Und wir haben quer durch das 20. Jahrhundert eher ein Sich-entweder-gegenseitig-Vorwürfe-machen oder aber Gar-nicht-miteinander-reden zwischen diesen Wissenschaftsdisziplinen."
    Die Wende läutete dann das Ende des 20. Jahrhunderts ein, so Blume.
    "In den 80er-Jahren beginnt das schon, die ersten Bilder, wo quasi Gehirnscans verwendet werden, um auch Religiosität zu thematisieren. Der sogenannte Gottesknopf wird gesucht – das ist zunächst noch sehr populärwissenschaftlich. Aber zumindest beginnt die Debatte damit schon mal. Und ab den 90er-Jahren beginnen die ersten Wissenschaftler, sich damit intensiver auseinanderzusetzen."
    Ein funktioneller Magnetresonanztomograph – kurz fMRT. Das Gerät misst den Sauerstoffgehalt des Bluts, das durch das Gehirn fließt. Die einzelnen Gehirnareale werden dabei in unterschiedlichem Maße mit Sauerstoff versorgt. Hirnforscher gehen davon aus, dass jene Teile des Hirns, die mit besonders viel Sauerstoff versorgt werden, auch besonders aktiv sind.
    Welche Gehirnareale gerade besonders aktiv sind – das hängt davon ab, was wir tun und wie wir uns fühlen. Wenn wir zum Beispiel logisch oder analytisch denken, dann ist der Blutsauerstoffgehalt im Stirnlappen hoch, im vorderen Teil des Gehirns. Wenn wir Angst haben, zeigt sich verstärkte Aktivität in einem anderen Teil des Gehirns, nämlich in der Amygdala, einem Komplex im Großhirn.
    Gehirnscans für die Suche nach Religiosität
    Welche Teile des Gehirns besonders aktiv sind, das stellt der Magnetresonanztomograph bildlich dar. Er produziert die sogenannten Gehirnscans: farbige Abbildungen des Gehirns. Die Bereiche, die reichlich mit Blutsauerstoff versorgt sind - sprich: eine höhere Aktivität aufweisen – werden gelb und rot dargestellt. Der Magnetresonanztomograph und seine Bilder spielen seit etwa 40 Jahren eine wichtige Rolle in der Hirnforschung. Wo im Gehirn sitzt der Mut? Wo sitzt die Angst? All dies wurde mit Gehirnscans lokalisiert. Zumindest wurde es versucht. Und auch der Religiosität wurden bestimmte Areale zugeordnet.
    Doch die These, der Glaube finde nur an einer bestimmten Stelle im Gehirn statt, sei heute nicht mehr Konsens, so Religionswissenschaftler Michael Blume:
    "Es ist absolut so, dass man nicht sagen kann, also es gibt ein Gottmodul oder Gottesknopf im Gehirn. Das war eine lange These, wo Hirnforscher gesagt haben, also wenn wir den Knopf finden, also das Areal, und das zum Beispiel aktivieren, dann haben die Menschen religiöse Erfahrungen. Und heutige Forscherinnen und Forscher sehen eben ganz klar, dass völlig unterschiedliche Gehirnbereiche dabei aktiv sind."
    Was heute Konsens sei: Es ist nicht so, dass religiöse Praktiken und Erlebnisse nur einen einzigen und ganz bestimmten Teil des Gehirns aktivieren:
    "Wenn der Hirnforscher zum Beispiel sagt, das dient der Bewältigung von Angst, dann können wir tatsächlich sehen: Ja, da werden Gehirnareale in Kraft gesetzt und üben ihre Funktion aus, die zur Stressbewältigung auch vorher schon da waren, aber die zum Beispiel mit anderen ein neues Konzert schon angehen."
    Um die Zusammenhänge von Gehirn und Religion zu beschreiben, nutzt die Forschung heute drei Kategorien: Religiosität, Spiritualität und magisches Denken.
    Spiritualität als eine Art Entgrenzungserfahrung
    Religiosität bezeichnet den Glauben an höhere Wesen. Unter Spiritualität versteht man dagegen eine Art Entgrenzungserfahrung. Menschen erleben sich als Einheit mit dem Universum oder der Natur. Das kann religiös sein, ist es aber nicht zwangsläufig. Bei der dritten Kategorie, dem magischen Denken stellt der Mensch Zusammenhänge zwischen Ereignissen her, ohne dass der Zusammenhang empirisch nachweisbar ist: etwa beim Glauben an Glücksbringer.
    In den Religionen treten diese drei Kategorien jeweils in Mischformen auf, erklärt der Religionswissenschaftler Michael Blume. Und er geht noch weiter: Ob jemand ein religiöses, ein spirituelles oder ein magisches Erlebnis hat, das lasse sich auf Gehirnscans ablesen:
    "Es ist tatsächlich so, dass wir sehen können, dass ganz unterschiedliche Gehirnareale beteiligt sind. Bei der Religiosität zum Beispiel wird die soziale Kognition betätigt, also die gleichen Areale, die auch betätigt werden, wenn Sie zum Beispiel an einen geliebten Menschen denken. Das heißt: Das Gebet setzt auf der sozialen Kognition auf."
    Bei spirituellen Erlebnissen wird dagegen in einem anderen Bereich des Gehirns eine erhöhte Aktivität gemessen. Einer derjenigen Forscher, die sich mit spirituellen Erlebnissen und ihren neurobiologischen Grundlagen intensiv beschäftigt haben, ist der Salzburger Religionspädagoge Anton A. Bucher. Studien zufolge gewinnt die Spiritualität als moderne Form der Sinnsuche in Europa zunehmend an Bedeutung:
    "Noch so vor 30/40 Jahren assoziierte dieser Begriff noch so ein altertümliches, vielleicht an Nonnen, die in weltabgeschiedenen Klöstern den Rosenkranz beten – wogegen momentan der Begriff Spiritualität sehr populär geworden ist."
    Spirituelle Praktiken und ihre Auswirkungen auf das Gehirn
    Eine der wichtigsten spirituellen Praktiken ist die Meditation. Was sich während des Meditierens im Gehirn der Menschen abspielt, erforschte in den 1990 Jahren unter anderen der US-amerikanische Hirnforscher und Religionswissenschaftler Andrew Newberg. Er untersuchte die Gehirnareale tibetischer Mönche beim Meditieren. Das Ergebnis: Während sie in der Meditation versunken sind, ist die Aktivität des Gehirns an einer Stelle stark gemindert: und zwar im Parietallappen.
    "Der Parietallappen oder der Seitenlappen ist dafür zuständig, dass wir ein Bewusstsein davon haben, wo wir sind, wo unsere Körpergrenzen sind, auch unser Zeitbewusstsein ist da drin. Und das erklärt dann auch die aus den meisten spirituellen Traditionen berichtete Erfahrung, dass so die Körpergrenzen verfließen, dass das Ich nicht mehr so wichtig ist, beziehungsweise dass man so mit dem Sein oder mit dem Göttlichen regelrecht da verschmilzt, beziehungsweise – so die traditionelle Bezeichnung – dass man so die Unio Mystica mit einem Göttlichen erlebt."
    Auch in den Gehirnen christlicher Ordensfrauen, versunken im Gebet, sind ähnliche Prozesse nachzuweisen, wie bei den meditierenden buddhistischen Tibetern. Für Bucher folgt daraus: Was sich im Hirn eines Meditierenden abspielt, ist immer gleich – unabhängig von der spirituellen Tradition der Meditierenden, unabhängig von ihrer Kultur.
    Die Differenzen liegen allenfalls auf der inhaltlichen Ebene – bei den Gotteserfahrungen: Intensiv meditierende Nonnen machen eher eine Christus-Erfahrung, buddhistische Mönche machen eine Buddha-Erfahrung. Also die Bilder sind unterschiedlich, aber die in dem Gehirn ablaufenden Prozesse sind hübsch die gleichen.
    Religiöses und spirituelles Erleben spiegelt sich also im Gehirn wieder. Doch klärt das auch die Frage nach den Ursprüngen der Religion? Entsteht die Religion im Gehirn?
    "Die kernige Antwort darauf könnte sein: ja, aber. Sie entsteht im Gehirn, aber wer meint, es wäre eine Herabwürdigung des Gedankens der Religiosität, der würde irren."
    Robert Benjamin Illing leitet das Neurobiologische Forschungslabor im Universitätsklinikum Freiburg und lehrt kognitive Neurowissenschaften. Illing ist sich sicher: Religion ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. Das Gehirn hat sich über Jahrtausende hinweg immer wieder neuen Situationen angepasst. Bei einem Vortrag in Münster verweist Illing darauf, welches Ausmaß diese Entwicklung aufweist.
    "Wie sich das Skelett der Hominiden über die Jahrmillionen gewandelt hat, so haben sich auch ihr Schädel und ihr Gehirn gewandelt. Äußeres Zeichen dafür ist, dass das Gehirn innerhalb von fünf Millionen Jahren sein Volumen mehr als verdreifacht hat."
    Skelett und Organe des Menschen haben sich der Umwelt angepasst – und so auch das Gehirn. Eine dieser Anpassungsleistungen des Gehirns: Es hat die Religion entstehen lassen, sagt Illing. Auf diese These baut seine Theorie auf. Er nennt drei Ursachen, auf die sich die Entstehung von Religion zurückführen lässt. Er spricht von drei Säulen.
    Drei Säulen der Religion
    "Diese 3 Säulen wären zum einen unser Denken in kausalen Zusammenhängen. Die andere Säule ist unser hochbewährtes System der Bildung von Theorien des Fremdpsychischen, das heißt, dass wir uns ständig Gedanken machen müssen, was geht in unseren Mitmenschen vor, um zu wissen, wie wir uns sinnvoll in einem sozialen Zusammenhang bewegen. Also ständig die Generierung von Bildern: Was sind die Absichten in anderen? Und drittens, die möglicherweise ganz furchtbare Entdeckung irgendwann mal in der Menschheitsgeschichte, als die Menschen sich bewusst wurden: Wir können sterben, wir können erkranken, wir sind vergänglich, irgendwann gibt es uns nicht mehr. Diese drei Dinge zusammen schaffen einen Boden, aus dem Jenseitsgedanken entstehen können, die als Ursprung von Religion gesehen werden können."
    Als Ursachen für die Entstehung von Religion gelten für Illing demnach:
    1. Unsere Angewohnheit, gedanklich immerzu nach den Ursachen für ein Ereignis zu fragen. So ist unser Denken beschaffen, sagt Illing. Wir stellen zwischen verschiedenen Ereignissen kausale Zusammenhänge her, auch wenn es sie gar nicht gibt.
    2. Unsere Angewohnheit, zu überlegen, was unser Gegenüber wohl denke, wolle, beabsichtige. Ständig stellten wir Vermutungen darüber an. Auch dieses eine Beschaffenheit unserer Art, zu denken.
    3. unsere Angst vor dem Tod.
    Der Neurobiologe sieht es so: Als sich der Mensch seiner selbst bewusst wurde und ein Verhältnis zur Zeit entwickelte, merkte er, dass er sterblich ist. Diese Entdeckung erzeugte Angst, sagt Illing. Und zwar eine Angst, vor der man nicht weglaufen konnte, wie vor wilden Tieren etwa oder anderen Bedrohungen. Dieser Angst konnten die Menschen mit ihrem üblichen Instrumentarium nicht begegnen. Also musste der Mensch einen anderen Weg finden, ihr zu begegnen.
    "Die Menschen schaffen sich Bilder, die dann in verschiedenen Religionen ausgeformt werden in beliebigem Detail, aber ganz ursprünglich schaffen sie sich Bilder und Hoffnungen darüber, dass das Ende, das der Tod zu sein scheint, nicht endgültig ist. Würden sie das nicht tun – und viele Menschen haben es wahrscheinlich nicht geschafft, diese Vorstellung zu entwickeln -, würde man an Existenzangst und Sinnkrise buchstäblich zugrunde gehen. Das Problem hatten die Tiere und unsere frühen Vorfahren noch nicht, weil sie dieses Bewusstsein darüber noch nicht hatten."
    Für den Neurobiologen steht fest: Religion, der Glaube an höhere Mächte, ist das Ergebnis menschlicher Kreativität. Sie fungiere als eine Art Selbsttröstung. Und sei eine wunderbare Methode des Angstmanagements, möglicherweise ein Überlebensvorteil, der sich über die lange Zeit der menschlichen Entwicklung bewährt habe.
    Gehirn als Ursprung der Religion?
    Kritik an diesem Konzept der Entstehung von Religion kommt etwa von Dirk Evers. Er ist evangelischer Theologe und Mitglied verschiedener Forschungsgesellschaften. Er hat sich intensiv mit dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften beschäftigt. Die Theorie des Neurobiologen Robert-Benjamin Illing über die Entstehung der Religion im Gehirn sei zwar schlüssig, räumt Evers ein, könne aber nicht alles erklären.
    "Es ist zu kurz gegriffen, wenn man sagt: Nur in diesem Angstmanagement zusammen mit der Hyperaktivität von kognitiven Modulen entsteht das, was wir Religion nennen. Es ist ein wichtiges Moment des Kognitiven in religiösen Vorstellungen, aber ich würde das nicht als den Ursprung und die Wurzel von Religiosität verstehen."
    Für Evers liegt die Wurzel von Religiosität im Zusammenleben der Menschen. Im Miteinander und in der Reflexion dieses Miteinanders. Dort entstehe Religion.
    "Was bedeutet Familie? Was bedeutet Gemeinschaft? Was bedeutet der Fremde? Wie orientieren wir uns in unserer Welt als Einzelne, als Gemeinschaft? Da entsteht dann auch ein Wechselspiel von religiösen Vorstellungen. Denken Sie zum Beispiel an die etablierten religiösen Vorstellungen im alten Israel und die Propheten, die immer wieder gemahnt haben und dagegen gesprochen haben."
    Im alten Israel stellten Propheten wie Jesaja oder Jeremia die zeitgenössischen religiösen Vorstellungen und Bräuche öffentlich infrage, um diese zu verändern. Evers erklärt, Religion sei nicht nur Angstmanagement, Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, sondern auch Ausdruck von Lebensfreude.
    "Ich glaube, dass überhaupt menschliche Existenz nicht einfach funktional ist. Also auch den Menschen auf eine Überlebensmaschine zu reduzieren, die dadurch Vorteile hat, dass sie diesen tollen kognitiven Apparat im Kopf hat, das scheint mir auch viel zu kurz gesprungen."
    Und dennoch, räumt der Theologe ein, was der Neurobiologe Illing als Theorie des Fremdpsychischen beschreibt, sei ein wesentliches Moment der Entstehung von Religion.
    "Also diese Zuschreibung von Intentionalität, dieses, man nennt das Theory of Mind, diese Unterstellung des Fremdpsychischen, ist etwas, was wir in der Produktion von Gottesbildern genauso wiederfinden können. Das ist vollkommen richtig."
    Kein Stand der Debatte
    Hirnforschung und Theologie – man könne nicht von einem sogenannten Stand der Debatte sprechen, sagt Dirk Evers, Professor für Systematische und Praktische Theologie an der Universität Halle. Welcher Theologe spricht mit welchem Hirnforscher: Das sei jeweils die Frage. Denn auch innerhalb der Disziplinen ist man sich uneins, sagt Evers. Auch unter den Hirnforschern.
    Es gebe unter ihnen zwei Fraktionen. Eine Fraktion will im Gehirn nachweisen, dass Religion eine Illusion sei.
    "Dass das eigentlich eine illusionäre Hyperaktivität bestimmter kognitiver Module darstellt, hinter die wir mitunter wie bei optischen Täuschungen nicht zurückkommen, aber die Naturwissenschaft zeigt uns: Im Vulkan ist kein Gott. Und die das religionskritisch einsetzen. Dann gibt es andere, die das ganz anders einsetzen, die gerade umgekehrt das Argument daraus machen, die sagen: Da sieht man, religiöse Vorstellungen haben sich bewährt, unser Gehirn ist geradezu darauf angelegt, religiöse Vorstellungen hervorzubringen. Und das zeigt, dass uns Gott geradezu dazu gemacht hat, ihn zu erkennen. Und das sind dann fröhliche religiöse Menschen, zum Teil Christenmenschen, ja. Sie sehen also die Faktenlage ist die gleiche, aber die Interpretation ist sehr, sehr unterschiedlich. Und ich sehe im Moment noch nicht, dass das irgendwie wirklich konvergiert."
    Der Religionswissenschaftler Michael Blume beurteilt den aktuellen Stand der Debatte anders als Evers. Noch bis vor wenigen Jahren hätten sich gläubige und ungläubige Forscher mit unversöhnlichen Positionen gegenüber gestanden und sich die Argumente regelrecht um die Ohren gehauen. Die meisten Forscher hätten inzwischen verstanden: Mit der Hirnforschung wird nicht Gott erforscht, sondern das menschliche Gehirn.
    Deswegen könne mit den Methoden der Forschung nicht bewiesen werden, dass Gott existiert - aber ebenso wenig, dass Gott nicht existiert.
    Gehirn und Religion. Zu den neueren Forschungsansätzen gehört auch die Frage, wie wirkt sich Religion auf das Gehirn des Menschen und sein Verhalten aus? In den letzten Jahren hat die Anzahl der Studien hierzu stark zugenommen. Ein eigenes Fachjournal zu diesem Forschungsfeld ist entstanden - der Titel: "Religion, Brain and Behaviour" – "Religion, Gehirn und Verhalten".
    Für weltweite Aufmerksamkeit sorgte Anfang des 21. Jahrhunderts der Evolutionsbiologe Richard Dawkins. Er war sich sicher, Religion ist eine Illusion, aber nicht nur das: Noch dazu sei sie schädlich. In seinem Buch "Der Gotteswahn" schreibt Dawkins: Der Glaube an Gott wirke sich negativ auf die Gesellschaft aus.
    Eine Gegenposition dazu veröffentlichten der Anthropologe Lionel Tiger und der Neurologe McGuire. Auch sie gehen davon aus, Religion sei eine Illusion. Anders als Dawkins aber halten sie sie für nützlich. Religion helfe, den "Brainpain", den Gehirnschmerz zu heilen. Ein Schmerz, der daraus entstehe, dass das Gehirn nicht ausgelastet sei.
    Positive oder negative Effekte der Religion?
    Es sind überwiegend positive Effekte der Religion, die in der heutigen Forschung diskutiert werden. Und die nahelegen, dass Spiritualität und Frömmigkeit als gleichsam segensreiche Produkte der Evolution verstanden werden können. Michael Blume:
    "Man sieht inzwischen die Funktionen. Und da kann man zum Beispiel sehen: Bei der Spiritualität haben wir gesundheitliche Vorteile. Menschen, die spirituell Erfahrungen machen, können besser mit Stress umgehen, können besser Ängste bewältigen, haben gewisse gesundheitliche Vorteile. Auf der anderen Seite: Bei der Religiosität, also religiöse Menschen bilden durch den gemeinsamen Glauben an Gottheiten, an höhere Wesen sehr viel stärkere Gemeinschaften, halten enger zusammen. Das kann positiv oder auch negativ sein. Haben aber vor allem im Durchschnitt deutlich mehr Kinder. Und das ist dann natürlich spätestens für die Biologen wieder interessant."
    Religion verbindet, bildet Gruppen und Identitäten. Das kann positiv sein, sagt auch der Soziobiologe und Philosoph Eckhart Voland von der Universität Gießen. Religion sei zwar eine Illusion, für die Gläubigen allerdings von großem Nutzen:
    "Es ist immer wieder gezeigt worden, dass fromme Menschen, gläubige Menschen im Großen und Ganzen mit den Hindernissen des Lebens besser fertig werden als die aufgeklärten Rationalisten. Sie werden mit persönlichen Katastrophensituationen leichter fertig. Der Aufenthalt im Krankenhaus ist ein bisschen kürzer nach der Krebsoperation. Die Arbeitslosigkeit wird anders verarbeitet. Die Scheidung der Ehe, die für viele ein großes Drama ist, ein Trauma ist, gelingt offenbar besser."
    Religion gebe den Menschen Sicherheit, ein Ur-Vertrauen, das bei Nicht-Gläubigen nicht in dem Maße vorhanden zu sein scheine. Doch wie immer: Auch diese Medaille hat eine Kehrseite.
    "Man denke nur an die Fähigkeit von Religion, Gemeinschaften zusammenzubinden. Also, wer ein gemeinsames Interesse hat, politischer Art, ideologischer Art, der wird unterstützt von seinem Glauben. Menschliche Gruppen definieren sich geradezu über ihren Glauben. Wir wissen heute aus den Ereignissen dieser Welt, wie gefährlich das auch ist."
    Wie hängt das zusammen: Glaube und Gehirn? Solche Fragen versucht man heute mithilfe empirischer Forschung und moderner Technik zu klären. Vieles wurde untersucht und berechnet. Gerade durch diese Forschungen aber rückt eine Frage immer stärker ins Bewusstsein, eine Frage, von deren Klärung die Forschung meilenweit entfernt sei, erklärt Religionswissenschaftler Michael Blume. Eine letztlich philosophische Frage: Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geist und Materie.
    "Wir können zum Beispiel sehen: Gesellschaften, denen es gut geht über längere Zeit, da sinkt die Religiosität. Wir können prozentual berechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass in dem Land jemand religiös ist. Wir haben sozusagen von außen schon richtig gut im Blick. Aber wenn Sie mich sozusagen ganz direkt fragen würden: Ja, aber – wie funktioniert das, wie kann das sein, dass aus dem Feuern von Neuronen dann dieser Gedanke entsteht oder diese Gewissheit, die sich dann wiederum auf mein ganzes Leben auswirkt? Dann würde ich, was ich ja gerade tue, sagen: Also da sind wir an einer Grenze, die es vielleicht in der einen oder anderen Form schon immer gab, aber die wir vielleicht mit unserem jetzigen Weltbild auch noch nicht richtig knacken können."