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Zukunft der EU
Politikberater Cuperus enthüllt "7 Mythen über Europa"

Wie kann der weitere Weg für die EU aussehen? Um diese Frage zu beantworten, räumt der niederländische Politikberater René Cuperus zunächst mit sieben zentralen Mythen rund um die Union auf. Sein Fazit: Die europäische Zusammenarbeit muss neu gestaltet werden.

Von Winfried Dolderer | 13.12.2021
René Cuperus: "7 Mythen über Europa. Plädoyer für ein vorsichtiges Europa"
René Cuperus wirbt für die Ausgewogenheit zwischen europäischer Integration und nationalstaatlicher Souveränität. (Foto: privat, Buchcover: Dietz Verlag)
Im niederländischen Parlament kam es im Mai 2019 zu einer denkwürdigen Abstimmung. Mit fraktionsübergreifender Mehrheit verabschiedeten die Abgeordneten eine Resolution, in der sie sich dafür aussprachen, das Bekenntnis zu einer „immer engeren Union“ der EU-Mitglieder aus den Europäischen Verträgen zu streichen. Ungeteilten Zuspruch fanden sie damit nicht. Ein Kreis ehemaliger Außenminister ihres Landes warf ihnen einen „fundamentalen Bruch“ mit allen Traditionen niederländischer Europapolitik vor.
Verständnis für das Anliegen der Resolution hat hingegen der Autor René Cuperus, der die Episode erwähnt. „Plädoyer für ein vorsichtiges Europa“ nennt er sein Buch. Er wirbt darin für Ausgewogenheit zwischen europäischer Integration und nationalstaatlicher Souveränität. An einer solchen Balance lässt es die EU nach seinem Urteil derzeit fehlen.
„So wie das 'Elitenprojekt' Europa jetzt funktioniert, bringt es die Menschen gegeneinander auf und spaltet unsere Gesellschaft. […] Die Europäische Union ignoriert nationale Eigenheiten, verletzt Gefühle demokratischer Selbstbestimmung und beschädigt die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats, ohne eine glaubwürdige, effiziente und faire Administration an dessen Stelle zu setzen.“

Autor beklagt Schwarz-Weiß-Denken im Europa-Diskurs

Cuperus ist Historiker und Politologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Clingendael-Institut für internationale Beziehungen in Den Haag, Lehrbeauftragter am Deutschland-Institut der Universität Amsterdam und Politikberater. Seine politische Heimat ist die niederländische Sozialdemokratie. Und er beklagt, was er als Schwarz-Weiß-Denken im Europa-Diskurs empfindet. Er sieht hier zwei Gegenpole. Auf der einen Seite jene, die von einem in Glanz und Glorie wiederhergestellten Nationalstaat träumen, Rechtspopulisten und Nationalisten. Auf der anderen enthusiastische Integrationisten, die nicht weniger als die „Vereinigten Staaten von Europa“ vor Augen haben.
Beiden Lagern bescheinigt Cuperus mythisches Denken. Ein Mythos sei die Vorstellung, in der heutigen Welt könne ein europäischer Nationalstaat noch als souveräner Akteur auftreten. Ein Mythos sei aber auch die Idee einer „europäischen Souveränität“, weil sie eine Einheitlichkeit der Willensbildung voraussetze, die der europäische Pluralismus nicht zulasse.
„Die Schönheit Europas besteht gerade in seiner großen, historisch gewachsenen kulturellen Vielfalt und den unterschiedlichen Traditionen. Fast nirgendwo auf der Welt findet man auf kleinem Raum so viele unterschiedliche Sprachen, Religionen und kulturelle Traditionen. Europa ist ein Paradies der kleinen Nationalstaaten.“

Europa brauche externe wie interne Souveränität

Gerade die Kleinen könnten in einer weiter integrierten EU gegenüber den Schwergewichten Deutschland und Frankreich ins Hintertreffen geraten, warnt der Niederländer Cuperus. Im Übrigen kreisen seine Überlegungen um die Frage, wie weit die europäische Einigung gehen dürfe, ohne dass der Wesenskern Europas, die Vielfalt und Eigenständigkeit der Gesellschaften sowie die Funktionsfähigkeit der Mitgliedsstaaten, Schaden nehmen.
Cuperus sieht durchaus „Grenzen der Diversität“. Sie verlaufen für ihn dort, wo wie derzeit in Polen und Ungarn die Grundprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat auf dem Spiel stehen. Mehr Kooperation sei auch im Interesse der globalen Selbstbehauptung Europas geboten. Cuperus spricht hier von „externer Souveränität“, die idealerweise gemeinsam ausgeübt werden sollte. Im Gegenzug müsse die „interne Souveränität“ der Nationalstaaten in der Innen-, Rechts-, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik unangetastet bleiben. Dass stattdessen die EU unter Berufung auf Erfordernisse des Binnenmarkts und der Währungsunion in immer mehr Bereiche der nationalstaatlichen Politik hineinregiere, sei ein steter Anlass für Konflikte. 
„Der durchschnittliche, realistische Europäer hat in der Regel kein Problem damit, 'externe Souveränität' – Verteidigung, Außenpolitik […] Welthandel – abzugeben. Bedenken hingehen hat er, wenn es gilt, 'interne Souveränität' in den Bereichen zu delegieren, wo die EU tief in die nationale Wirtschaft und die wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen eingreift. […] Der durchschnittliche Europäer […] zieht eine EU, die als intergouvernementale Organisation operiert, einer neuen, über uns stehenden Staatsmacht vor.“

Eine Stimme der kleineren Gründungsstaaten

Cuperus sieht die engagierten Euroföderalisten unter Hochqualifizierten mit internationalen Karriereperspektiven. Euroskepsis finde sich dagegen eher in der unteren Mittelschicht, die seit Jahren die Kehrseiten von Globalisierung und Flexibilisierung habe erleben müssen. Hier werde der Nationalstaat geschätzt als Raum sozialer Sicherheit und demokratischer Mitsprache. Vor diesem Hintergrund sollten Europapolitiker sich den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien auch als ernste Warnung zu Herzen nehmen, mahnt Cuperus.
„Es kann nicht gutgehen, wenn der Kurs der etablierten Politik strukturell, langfristig und grundlegend von dem abweicht, was fast die Hälfte der Bevölkerung will. Doch das ist in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger geschehen.“
Allein steht Cuperus mit seinen Bedenken nicht. Die Diskussion darüber, ob das vielbeklagte Demokratiedefizit der EU struktureller Art und somit nicht zu beheben sei, wird auch hierzulande geführt. Prominent beteiligt ist das Bundesverfassungsgericht, dessen Rechtsprechung zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank der Autor zustimmend zitiert. Karlsruhe hat immer wieder die Letztverantwortung der demokratisch legitimierten nationalen Parlamente auch in Europafragen angemahnt. Cuperus liefert einen lesens- und bedenkenswerten Beitrag zu dieser Debatte. Er bringt die Sicht eines der kleineren EU-Länder ein, das zu den Gründern der Gemeinschaft zählt.
René Cuperus: „7 Mythen über Europa. Plädoyer für ein vorsichtiges Europa“, Übersetzung: Gregor Seferens, Dietz Verlag, 200 Seiten, 18,90 Euro.