Merkel habe sich bereits festgelegt, als sie dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu gegenüber erklärte, Böhmermanns Gedicht sei "bewusst verletzend". Sie hatte sich da bereits entschieden, sagte die Grünen-Politikerin Renate Künast im Deutschlandfunk. Deshalb bleibe ihr nun nichts anderes übrig, als die Ermächtigung zu erteilen und zu sagen, nun ist das Aufgabe der Justiz.
Künast bezeichnete das Gedicht als "isoliert betrachtet geschmacklos". Die Angelegenheit sei so groß geworden, weil sich die Bundesregierung erpressbar gemacht habe. Erdogan verfolge massiv Journalisten und stelle sie vor Gericht "für normale journalistische Recherchen". Und nun verlange er auch noch, dass in anderen Staaten jemand bestraft wird.
Künast sprach sich dafür aus, den Paragrafen 103 zu streichen. Es handele sich um einen Anachronismus, der den Rechtsstaat tangiere. Beleidigungen, egal ob Lieschen Müller oder einem Staatspräsident gegenüber, müssten nach dem gleichen Recht geahndet werden. Sie hatte zusammen Hans-Christian Ströbele einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht.
Ann-Kathrin Büüsker: Vor einer knappen halben Stunde, da kam die Nachricht: Es wird eine Erklärung im Fall Böhmermann geben. Um 13 Uhr tritt die Kanzlerin höchst selbst vor die Presse und wird diese abgeben.
Unterdessen hat auch eine politische Debatte über den Paragraphen begonnen, um den es in dieser Sache ja geht. Paragraph 103 Strafgesetzbuch: Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten. Darüber möchte ich nun sprechen mit Renate Künast von den Grünen. Sie ist Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz. Guten Tag, Frau Künast.
Renate Künast: Guten Tag!
Büüsker: Bevor wir uns jetzt auf den Paragraphen stürzen, lassen Sie uns kurz auf die aktuelle Entwicklung schauen. Die Kanzlerin hat jetzt angekündigt, sich persönlich erklären zu wollen. Man nimmt die Sache in der Bundesregierung offenbar durchaus ernst. Ist diese Sache tatsächlich so groß?
Künast: Die Sache ist so groß geworden, weil wir sowieso die Situation hatten, dass es über eine Erpressbarkeit Deutschlands beziehungsweise Europas durch Erdogan, durch die türkische Regierung geht, was in Rede stand. Die Sache ist so groß, weil Erdogan in der Türkei massiv Journalisten verfolgt, sie vor Gericht stellt für Dinge, die sonst international ganz normal als übliche journalistische Recherche angesehen werden. Und wenn dann ein Präsident mit großen Worten verlangt, dass in anderen Staaten jemand bestraft wird, ist natürlich ein Gespräch von Merkel mit Davutoglu, dem Premierminister, wo sie sich schon entsprechend äußert, sage ich mal, ein Schlag ins Kontor. Das sieht ja so aus, als sei Merkel auch schon in der Sache entschieden und würde am Gängelband der Türkei hängen. Deshalb ist es so groß.
"Merkel hat sich einfach falsch verhalten"
Büüsker: Das heißt, aus Ihrer Sicht hat sich die Regierung da auch erpressbar gemacht?
Künast: Merkel scheint erpressbar und Merkel hat sich schlicht und einfach falsch verhalten, eigentlich obskur von einer, der man sonst immer vorwirft, dass sie so lange schweigt, und die selber sagt, ich denke erst mal nach und rede erst, wenn ich entschieden bin. Deshalb muss man ja sagen, sie hatte sich da entschieden. Das war im ganzen Vorspiel ein Fehler. Sie hat sich damit für meine Begriffe auf kuriose Art und Weise zum Teil dieses Gesamtkunstwerks Satire von Böhmermann gemacht, und jetzt bleibt ihr sowieso nichts anderes übrig, als meines Erachtens zu sagen, sie erteile die Ermächtigung und es ist Aufgabe der Justiz. Nur die sieht jetzt noch unabhängig aus.
Büüsker: Im Dialog mit der Türkei gab es viele Punkte, wo man hätte Kritik üben können: der Kurden-Konflikt, das Vorgehen gegen Presse- und Meinungsfreiheit. Die Regierung hat da immer vergleichsweise stillgehalten. Hat Jan Böhmermann jetzt sozusagen den Präzedenzfall geschaffen, wo die Regierung um eine Positionierung gar nicht mehr herum kommt?
Künast: Er hat einen Präzedenzfall schaffen für die Frage, was ist Satire oder nicht, was ist Meinungsfreiheit. Ich glaube, dass er da so einen ziemlichen Felsbrocken in einen See geworfen hat, und jetzt gibt es lang ziehende Ringe. Ich persönlich finde das Gedicht isoliert betrachtet irgendwie geschmacklos, auch gar nicht lustig oder putzig, aber er hat es natürlich als ein Gesamtkunstwerk aufgestellt, indem er vorher ja erklärt hat, dass er nun mal nicht seine Meinung sagen will, sondern sagen will, was Satire sein soll oder darf, kann, nicht darf. Zu dem Gesamtkunstwerk gehören jetzt Erdogan und Merkel und am Ende noch die deutsche Justiz, die, glaube und hoffe ich, da viel gelassener mit umgehen wird.
"Merkel hat sich den Anstrich gegeben, abhängig zu sein"
Büüsker: Satire sehen wir häufig in den deutschen Medien. Es gab auch dieses wunderschöne Video von "extra 3", der Song Erdowie, Erdowo, Erdogan. "extra 3" macht zum Beispiel auch regelmäßig satirische Elemente über Wladimir Putin. Da hat sich die Kanzlerin noch nie in irgendeiner Weise geäußert, wie sie es jetzt im Fall Erdogan getan hat. Das heißt, muss sie sich da den Vorwurf der Sonderbehandlung Erdogans auch wirklich gefallen lassen?
Künast: Ja, ich glaube schon. Sie hat reagiert auf eine Erdogan-Äußerung und Aufforderung und ist dann sofort über das hingehaltene Stöckchen gesprungen. Eigentlich müsste sie jetzt mal wieder die Hände zur Raute vor ihrem Körper halten und ganz gelassen sagen, dafür gibt es bei uns Regeln. Ich sage mal, gerade in dieser anstrengenden Zeit hat sie sich richtig an die Türkei rangehängt, und wir alle machen uns ja, ich denke, zurecht Sorgen, dass das, was jetzt in Sachen Flüchtlingen vereinbart wurde und durchgeführt wird, selber nicht menschlich und menschenwürdig ist, und dann noch man auf Gedeih und Verderb an der Türkei hängt, die aber gleichzeitig massive Menschenrechtsverletzungen hat, die die freie Meinungsäußerung, den Journalismus bekämpft, die gegen Kurden und vielleicht sogar gegen Flüchtlinge auf eine Art und Weise vorgeht, wie wir es uns nicht vorstellen und nicht für erlaubt halten. An so einer Stelle voreilig gerade bei einer Person, die fürs Schweigen bekannt ist, hat sie sich halt jetzt den Anstrich gegeben, abhängig zu sein. Das ist die Tragik und jetzt muss man hoffen, dass diese Geschichte auch wieder auf ein richtiges Gleis kommt.
"Der alte Paragraph tangiert den Rechtsstaat"
Büüsker: Frau Künast, lassen Sie uns mal auf den Paragraphen 103 Strafgesetzbuch gucken: Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten. Sie fordern jetzt, dass dieser Paragraph abgeschafft wird. Warum?
Künast: Na ja, der alte Paragraph 103 Strafgesetzbuch geht zurück auf die erste Fassung unseres StGB von 1871. Da stand die Majestätsbeleidigung drin. Man ist davon ausgegangen, dass die Beleidigung gegenüber Majestät was anderes ist als gegen Sie und mich. Die Idee dahinter, dass der Monarch kein normaler Bürger war. Das hatte auch was mit eingeschränkter Meinungsfreiheit, politischer Redefreiheit und Analyse oder Einschätzung zu tun an der Stelle.
1953 kam das dann zurück ins bundesdeutsche StGB, aber als Organe und Vertreter ausländischer Staaten zu schützen. Das ist damals aber schon kritisch diskutiert worden, ob dieses nicht im wahrsten Sinne des Wortes zu weit geht und nicht eigentlich es ausreicht zu sagen, wir nehmen den normalen Beleidigungsparagraphen an der Stelle. Ich finde, das ist ein Anachronismus. Es kriegt auch eine Schieflage dadurch, dass da dann wieder plötzlich eine Ermächtigung einer Bundesregierung nötig ist. Das tangiert den Rechtsstaat. Ich denke, dass man die Beleidigung von jedem Menschen nach hiesigem Recht beurteilen soll, und zwar egal ob es Fritz Müller ist oder irgendwie Mr. Nobody oder ein Präsident, eine Präsidentin.
Büüsker: Die aktuellen Verwicklungen, über die wir hier jetzt sprechen, die zeigen aber doch, wie schwierig diplomatische Beziehungen werden können, wenn ein Staatsoberhaupt eines anderen Staates beleidigt wird. Zeigt sich nicht darin auch die Rechtmäßigkeit dieses Paragraphen?
Künast: Rechtmäßig ist er ja theoretisch, rechtmäßig zustande gekommen. Vielleicht ist eher die Frage, ob es rechtspolitisch, gesellschaftspolitisch Sinn macht.
Büüsker: … oder notwendig ist.
Künast: Ja, oder notwendig ist. Ich glaube es nicht, weil es bliebe ja immer noch in solchen Fällen, dass man sich entschuldigt und sagt, Regierungschefin oder Chef, ich fand es auch unangemessen, aber so ist nun mal in meinem Land die Meinungsfreiheit, die Kunstfreiheit.
"Es riecht danach, als wollte Erdogan das, was er in der Türkei praktiziert, bei uns auch umsetzen"
Büüsker: Aber genau das hat Merkel doch jetzt getan.
Künast: Merkel hat das aber getan unter den Bedingungen des existierenden 103 und 104, wo sie die Ermächtigung erteilen muss für ein Ermittlungsverfahren. Damit riecht es immer danach, als hätte sie sich schon entschieden. Wenn sie es macht, dann erklärt sie dies bitte nicht devot und mit einem Bückling gegenüber einem ausländischen Premierminister, sie würde das tun, sondern macht es nach unseren Regeln uns gegenüber, ich werde in Deutschland für dieses Verfahren eine Ermächtigung erteilen. Wissen Sie, diplomatische Beziehungen heißen ja nicht nur, dass wir Rücksicht nehmen auf andere, sondern die anderen und jeder - das müssen wir ja auch tun. Wir müssen Rücksicht nehmen auf das Rechtssystem in anderen Ländern. Wir müssen ja zum Beispiel auch aushalten, dass in den USA, was freie Meinungsäußerung anbetrifft, noch ein ganz anderer Wind weht. Das merken Sie immer an der Hate Speech Debatte, dass die in den USA sagen, bei uns ist das alles erlaubt, bei uns trägt man Waffen und bei uns kann man den Gegner so richtig verbal in die Tonne treten. Da gibt es nicht immer eine kritische Hate Speech Debatte, aber da können wir uns doch auch nicht einmischen, wenn jetzt jemand unflätige Dinge über ein Regierungsmitglied in Deutschland sagen würde. Wir würden darüber wegsehen, es mit Missachtung strafen und zur Kenntnis nehmen, dass in den USA andere rechtliche Regeln gelten. Ich sage mal, es riecht ja ein bisschen danach, als wollte Erdogan mit seiner Kraftmeierei, wenn man alles so verbal auch von seinem Anwalt hört, das, was er in der Türkei praktiziert, irgendwie bei uns auch umsetzen, und da spätestens ist ja wohl eine rote Linie gezogen. Man kann so einen Konflikt auch hochschaukeln, ja.
Büüsker: … sagt Renate Künast, Vorsitzende im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages. Frau Künast, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.
Künast: Ich danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.